Berlin, den 9. Mai 1855.

Lieber Hettner!

Der Umstand, daß Sie Ihren Wohnort geändert und nach Dresden übergesiedelt sind, ohne mir etwas darüber zu schreiben, läßt mich fast befürchten, daß Ihnen entweder etwas zugestoßen sei oder daß Sie etwas gegen mich haben... Wenn Sie jedoch wohl sind, so bitte ich Sie, mich etwas hören zu lassen und vorzüglich, wenn Sie sich über mich zu beschweren haben, mir es deutlich zu sagen; denn zu allen Erfahrungen wäre mir dies die bitterste, alte Freunde zu verlieren nur aus dem Grunde, weil ich mich nicht rühren kann und weil mich die niederträchtige Gemeinheit der Leute solang als möglich in einem unseligen Bann eingeschnürt hält. Ich habe erst vor sechs Wochen das letzte Kapitel meines Romanes, und zwar am Palmsonntag, buchstäblich unter Tränen geschmiert und werde diesen Tag nie vergessen. Nachdem mich nun Vieweg vorher fast gefressen um das Manuskript, läßt er den vierten Band ruhig liegen und vorenthält mir jede Antwort und billige Abrechnung wahrscheinlich aus erbärmlicher Rachsucht, weil ich gezwungen war, mit Scheube einen Kontrakt einzugehen. Ich hatte mich so darauf gefreut, nun jeden Monat dieses Frühlings und Sommers einen alten Entwurf abzutun und mich bis zum Herbst in jeder Beziehung herauszumachen, und nun ruiniert mir dieser brutale Hund alle die schönen Tage und alle Hoffnungen. Denn abgesehen von der pekuniären Ausgleichung entzieht er mir durch die perfide Verschleppung oder gar Unterschlagung des vierten Bandes die notwendige Aufeinanderfolge meiner Produkte und den kleinen äußerlichen Erfolg, den ich gegenwärtig so wohl brauchen könnte.


Dazu kommt, daß ich gegenwärtig etwas erlebe, was einem heitern und schönen Sterne zu gleichen scheint und mir vielleicht nur durch diese Misere und Verbitterung verloren geht. [Fußnote]Gemeint ist die Liebe zu Betty Tendering. Sie werden also wohl fühlen, daß ich meinerseits nicht zum Briefschreiben eingerichtet bin, da ich manchmal nicht weiß, wo mir der Kopf steht; und ich tue es jetzt nur, weil mich eine Unruhe plagt und eine schlimme Ahnung, als ob überall etwas gegen mich vorgehe.

Scheube wird einen Band Erzählungen von mir drucken unter dem Titel ›Die Leute von Seldwyla‹. Er ist auch selbst daran schuld, daß er ihn nicht schon hat; doch bin ich jetzt daran und werde ihn wohl diesen Monat fertig bringen.

Es nimmt mich wunder, wie Sie in Dresden leben, und was Ihre verehrte Frau und Ihre Kinder machen. Wenn Sie also immer können oder aufgelegt sind, so seien Sie so gut, mir ein paar Zeilen zukommen zu lassen! Ich wohne noch Bauhof Nr. 2.

Mit besten Grüßen an Sie und die Ihrigen

Gottfried Keller.
Berlin, den 9. Mai 1855.

Wird denn Ihre Literaturgeschichte nun herauskommen?

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Briefe