Berlin, den 12. Juni 1852.

Liebe Mutter!

Mein Freund Baumgartner, welcher mir kürzlich geschrieben, bemerkte mir in seinem Briefe, daß Du mich nun täglich zu Hause erwartest und deshalb nicht auf das Land gehest. So sehr ich mich wieder einmal nach unserer alten Stube zurücksehne, so muß ich doch leider noch einmal absagen und melden, daß Du immerhin nach Glattfelden oder Eglisau oder wohin Du eingeladen bist, gehen sollst, denn meine Heimkehr ist noch nicht möglich, indem meine Affären noch nicht so stehen, daß ich zu Hause meine Schulden bezahlen und etwas in die Haushaltung liefern könnte. Ohne dieses könnte ich freilich jeden Augenblick nach Hause kommen; aber das will ich einmal nicht. Damit es aber leichter kleckt, habe ich bei der Regierung noch ein letztes Viatikum nachgesucht. Die Herren haben zwar saure Gesichter gemacht, sind aber doch noch mit sechshundert Franken neues Geld ausgerückt und haben mir dabei verdeutet, daß bis jetzt noch keine Person so viel vom Staate bezogen habe. Ich bin daher nun auch von dieser Seite gedrängt, bald etwas von mir hören zu lassen und mich hervorzutun, denn für die dreitausend Franken, die ich im ganzen bezogen habe, will man endlich etwas geleistet sehen. Übrigens werde ich dies auch nach meinen Kräften tun, wenn ich einmal erst anhaltende Ruhe habe und nicht immer zu gleicher Zeit an das Essen denken, spekulieren, lernen und arbeiten muß, und die Leute, welche etwa glauben (wie mir zu Ohren gekommen), ich sei eingeschlafen oder versimpelt, werden sich sehr getäuscht finden. Ich beneide diejenigen nicht, welche auf der Schnellbleiche ihr bißchen Weisheit und Erfahrung oder vielmehr ohne Erfahrung zusammenstoppeln, gleich etwas Geld verdienen, heiraten und sogenannte wohlgeratene Herren sind, um nach einigen Jahren erst unzufrieden und unruhig zu werden und erst im vierzigsten Jahre noch aus Unzufriedenheit und erfahrungsloser Dummheit plötzlich sich als verspätete liederliche Käuze darzustellen oder sonst verrückt zu werden, wie dies schon öfter vorgekommen ist, wo dann kein Mensch das Wunder begreifen kann. Ich hoffe noch ein' und andern, der jetzt ein wichtiges Gesicht macht und mich für einen Schlufi hält, der zu nichts kommt, zu überdauern. Freilich fällt es mir schwer aufs Herz, wenn ich denke, daß Du und Regula zugleich darunter leiden, und daß Euch beiden darüber die Jahre vergehen. Allein ich kann meine Natur nicht ändern, und wenn ich einst mir einige Ehre erwerbe, so habt Ihr den größten Anteil daran durch Euere stille Geduld. Ich will Euch übrigens nicht weiter mit schönen Worten abspeisen und nur bitten, noch ein klein wenig auszuharren und inzwischen bald zu schreiben, wie es jetzt geht, obgleich ich es mir ungefähr denken kann... Ich grüße Euch tausendmal, sowie jeden, der nach mir fragt, ohne die Nase zu rümpfen.


Euer Sohn und Bruder
Gottfried Keller.
Mohrenstraße 6.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Briefe