Was ist denn eigentlich wirkliches Plattdeutsch?

Diese ältere Lautordnung gibt uns zugleich ein Kennzeichen, woran wir die plattdeutschen Mundarten von den andern unterscheiden können, und eine Antwort auf die häufige Frage: was denn eigentlich wirkliches Plattdeutsch sei? Der geborene Plattdeutsche hat diese Lautstellung zum Hochdeutschen im Gefühl; wo er hochdeutsch sprechend mit seinem Wortvorrat nicht auskommt und ein plattdeutsches Wort einmischt, da wird er es dadurch verhochdeutschen, dass er die Lautstufe ändert, etwa Füttjer aus Püttjer (Töpfer), zein aus tein (zehn) macht, und Schulmeister und Pastor haben nachgerade dem Armen so viel vorgeschwätzt und die Zeitungen helfen jetzt, dass er sich einbildet dadurch seine Worte zu veredeln. Bemerken will ich indes hierbei noch, dass viele der plattdeutschen Worte, welche in die hochdeutsche Schriftsprache aufgenommen sind, ganz dieselbe Veränderung erlitten haben, wie z. B. Deich aus Dik. Es können also im hochdeutschen Gewande noch mehr ursprünglich plattdeutsche Worte stecken als es scheint, weil sie jetzt schwerer zu erkennen sind.

Aber nicht bloß ein Kriterien, ein Charakterzeichen gibt uns die Lautstufe, sondern zugleich das gemeinsame Band, das durch die plattdeutschen Mundarten hindurchgeht. Unter all dem andern Unsinn hört man auch immerfort die Behauptung, das Niederdeutsche existiere eigentlich gar nicht mehr seit das gemeinsame Band, die niederdeutsche oder niedersächsische Schriftsprache zerrissen und untergegangen sei, die plattdeutschen Mundarten seien nur membra disjecta ohne Zusammenhang. Allerdings existiert das alte Niederdeutsche oder Niedersächsische nicht mehr, ebenso wenig aber das alte Hochdeutsche oder Oberdeutsche; das alte Niederdeutsche war aber auch damals nicht das Band der plattdeutschen Mundarten, sondern man schrieb damals im Lübeck'schen, Kölnischen, Ditmarschen Dialekt, und das neue Hochdeutsch ist ebenso wenig das Band der oberdeutschen Mundarten, sondern die ausgebildete sächsische Mundart selbst; weder hält es die andern Mundarten zusammen, denn sie sind so zerstreut wie sonst, man muss jede für sich lernen, noch gibt es ihnen Leben, denn kein Tiroler Schütze oder österreichischer Donaufahrer bereichert seine Mundart aus hochdeutschen Büchern. Das Band der Mundarten ist überall kein reales, nicht eine eigene höhere Sprache die über den andern schwebt; welche Sprache z. B. hat die ionische, dorische Mundart zusammengehalten? Die griechische? Beide waren eben griechische Sprache.


Verbunden sind die Mundarten nur durch ein ideales Band: nur dadurch dass sie zu einander gehören, nur durch ihre Ähnlichkeit, durch ihre Verwandtschaft, wenn man es so nennen will.

Was dies des näheren bedeute, darüber grübeln Sie vorläufig nicht, uns soll es vorläufig nicht zu etwas weiter wichtigem dienen. Wir wollen hier nur noch das Resultat unserer Untersuchung in der Weise der Naturwissenschaft — denn eine solche ist die Philologie und Linguistik — aussprechen: Die Mundarten sind die Spezies (die Arten) der Sprache, eine zusammengehörige Gruppe von Mundarten bildet einen Sprachstamm, gleichsam das Genus (die Gattung). Der letzteren haben wir zwei. Und wenn wir von nun an von hoch- und plattdeutschen oder von ober- und niederdeutschen Mundarten, oder von einer oberdeutschen (hochdeutschen) und plattdeutschen Sprache reden, meinetwegen auch die Schriftsprache par excellence hochdeutsche Sprache nennen, so bezeichnen diese Begriffe uns nichts als die Sache womit wir es zu tun haben, wie in der Botanik die Namen der Pflanzenspezies und Genera nur das Objekt angeben, nicht aber die zufälligen Bestimmungen der vulgären Anschauung: ob eine Pflanze wild oder kultiviert, echt oder unecht, Kraut oder Unkraut sei, denn für die Wissenschaft sind alle echt und spontan, und Unkraut ist ihr die einzige noch unbekannte Pflanze.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Briefe über Hochdeutsch und Plattdeutsch