Die Sprache Luthers als Kern und Grundlage der neuhochdeutschen Sprachniedersetzung.

Jacob Grimm sagt von der Schriftsprache: man könne die Sprache Luthers als Kern und Grundlage der neuhochdeutschen Sprachniedersetzung betrachten. Das ist Tatsache. — Häufiger noch hört man das Wort, Luther habe das Beste aus den deutschen Mundarten vereinigt und daraus seine Sprache neu gebildet. Das ist falsch. — Endlich aber, wenn man uns in feierlichem Tone immerfort zum Danke gegen ihn ermahnt als der durch seine Sprache die deutsche Einheit herbeigeführt habe, so wünsche ich im stillen Herzen die deutsche Einheit, mit der Sprache hätte es sich schon gefunden.

Wollen wir denn durchaus wissentlich blind sein und uns blenden lassen, sichtlichen Tatsachen gegenüber? Luther hat keine Sprache geschaffen, so hoch ist noch kein Einzelner je gehoben, dass er dies Wunderwerk bauen könne, Sprache schafft nur ein Volk. Er sagt selbst: „Ich habe keine gewisse sonderliche eigene Sprache im Deutschen, sondern gebrauche der gemeinen deutschen Sprache, dass mich beide Ober- und Niederländer verstehen mögen.” Das heißt aber nicht ein Gemisch aus Hoch- und Plattdeutsch, sondern die Sprache des mittleren Deutschlands, wie er denn hinzusetzt: „Ich rede nach der sächsischen Kanzlei, welcher nachfolgen alle Fürsten und Könige in Deutschland. Alle Reichsstädte, Fürstenhöfe schreiben nach der sächsischen und unsers Fürsten Kanzlei, darum ist's auch die gemeinste deutsche Sprache”, oder nach unserm Begriff: Mundart (Tischreden 1723 S. 699). Luther schrieb also in der sächsischen Mundart, die damals am häufigsten als Schriftsprache gebraucht wurde. Er schrieb in seiner heimischen Mundart. Seine Sprache ist so frisch, so vom Munde weg, so gesprochen, so von Mann zu Mann: sie kann nur als Mutterlaut erlernt, nur frisch vom Munde erhorcht sein. Sagt er doch auch selbst: „Man muss die Mutter im Hause, die Kinder auf den Gassen, den gemeinen Mann auf dem Markte fragen und denselben auf das Maul sehen, wie sie reden” um deutsch zu lernen. Und wirklich nahm er seinen Wortschatz zum Teil geradezu vom Schlachter, Weber, Schmiede, wie man aus seinen Studien für die Bibelübersetzung ausdrücklich weiß — beim Schlachten und Metzgen eines Lamms z. B. sah er eifrig zu, merkte sich alle Ausdrücke, ließ sich die inneren Teile zeigen und benennen, und benutzte das Erlernte beim Übertragen der mosaischen Opfergesetze —, teils natürlich empfing er seine Sprache aus den Schriften, mit denen er sich am innigsten beschäftigt hat, wie z. B. der berühmten älteren „Theologia deutsch” oder den schlagendsten Schriften seiner Freunde und Gegner aus verschiedenen Gauen Deutschlands; durch diese mag dann bewusst oder unbewusst manches aus den übrigen Mundarten Deutschlands mit eingeflossen sein. — Aber die neuhochdeutsche Sprache steht nicht da wie der Stamm, der aus sämtlichen deutschen Mundarten als den Wurzeln das edelste Mark in sich vereint hat. Kern und Grundlage derselben ist auch eine Mundart, die sächsische in dem Sinn, in welchem später noch unser großer Schulmeister Adelung die meißnerische für die einzig maßgebende der gebildeten Rede erklärt. Sinnliche Frische und Leben hatte sie in Luther, wie immer, durch das Heimatsgefühl, ihre hinreißende Gewalt freilich in seinem gewaltigen Herzen.

Nicht einmal die oberdeutschen Mundarten sind von der Schriftsprache aufgesogen, man werfe nur einen Blick in Schmellers altbayrisches Wörterbuch oder in Jeremias Gotthelfs schweizerische Schriften, um zu sehen welche Wortschätze, welche Satzwendungen dort noch unbenutzt liegen. Goethe, der gewaltigste Mehrer des Reichs hochdeutscher Zunge hat hauptsächlich auch nur aus Mitteldeutschland geschöpft. Vom Plattdeutschen ist seit Luther so gut wie nichts in die Schriftsprache übergegangen was nicht schon allen Stämmen gemeinsam war, höchstens einige einsame Wörter.


Ist es Ihnen nun nicht sonderbar, dass diese Wörter dann meistens als der edlere, poetische Ausdruck gebraucht werden, gegenüber dem gewöhnlichen hochdeutschen Ausdrucke des gemeinen täglichen Lebens? Z. B. das plattdeutsche Born (der Born des Lebens, der Born des Heils) hochdeutsch Brunnen, das halbplattdeutsche Odem (der Odem Gottes, nicht der Atem) hochdeutsch Atem. Den Grund davon mögen Sie sich vorläufig suchen, ich werde ihn Ihnen später angeben. Einige wenige Wortformen und Wendungen sind durch Joh. Heinrich Voß, besonders seine vielgelesene Übersetzung des Homer hochdeutscher Sprachbesitz geworden. Der „Wandsbeker Bote” hat schon weniger gewirkt, noch weniger E. M. Arndt trotz seines absichtlichen Strebens in seinen prosaischen Schriften.

Vom Plattdeutschen scheint die Schriftsprache also nur wenig Nahrung empfangen zu haben, und doch, wenn es nicht zu leugnen ist dass die Elemente mit an der Sprache bauen, dass Heimat und Umgebung die Sprache modeln, wenn also die oberdeutschen Mundarten durch Himmel und Erde mitgeboren sind, so hat noch ein drittes Element die plattdeutsche Sprache mitgezeugt, und zwar das vornehmste, das Meer. Was das für den Reichtum und den Charakter einer Sprache sagen will, brauche ich Ihnen nicht näher zu entwickeln.

Warum aber so wenig Plattdeutsch in die Schriftsprache übergegangen ist, das hat denselben Grund mit dem Gebrauch plattdeutscher Wörter wie Born Odem als poetische Ausdrücke den gemeinen hochdeutschen gegenüber: die plattdeutsche Sprache ist die ältere edlere der beiden Schwestern. Erschrecken Sie nicht, ich will keinen Rangstreit wieder anfachen, ich will Ihnen einfach eine Tatsache darlegen und gebrauche dafür einen geläufigen Ausdruck. Es ist nämlich das natürliche Sprachgefühl, das in allen Sprachen die älteren Wortformen wie edlere, vornehme im poetischen oder sonst eminenten Sinne gebraucht. Das taten schon Römer und Griechen, das tut das Altdeutsche, wenn es wieder noch ältere Formen anwendet z. B. im Nibelungenlied, wo es vom Helden Siegfried heißt er sei ermorderot statt ermordet. Im Neuhochdeutschen ist es nicht anders. Wenn wir plattdeutsche Wörter im poetischen Sinne gebraucht finden, so hat das natürliche Sprachgefühl herausempfunden, dass das Plattdeutsche in seinen Formen älter ist als das Hochdeutsche, älter das heißt nicht: früher entstanden, sondern weniger verändert, dem Urdeutsch näher. Dieses Urdeutsch kennen wir nicht, aber seitdem wir die deutsche Sprache aus Schriften kennen, ist sie, wie Jacob Grimm sagt, zweimal aus ihren Fugen gewichen und hat sich aus den Trümmern wieder neugestaltet. Ich kann Ihnen dies nicht im Einzelnen beschreiben, es wird Ihnen indes deutlich welche Revolution es jedes mal muss gewesen sein, wenn Sie nur dies eine vernehmen, dass eben die Konsonanten, die Grimm die Knochen der Sprache nennt, förmlich verschoben worden sind. Glücklicherweise geschah es mit einer durchstehenden Gleichförmigkeit wie nach einer Regel, sonst wäre es dem Deutschen gegangen wie dem Latein, dass der Faden ganz zerrissen und aus der untergegangenen Sprache sich ganz neue entwickelt hätten, wie dort die rumänische, italienische, spanische, französische. Für uns blieb das Deutsche wenigstens deutsch. Jene Regel hat Jacob Grimm aufgefunden. Sie können sie jetzt in jeder guten Grammatik als das Gesetz der Lautverschiebung finden. Danach geht z. B. d in t, t in z über.
Nun aber zeigt das Plattdeutsche eben in seinen starren Konsonanten, dass es eine der beiden Revolutionen nicht mit durchgemacht hat, also auf einer älteren Stufe des Lautwandels stehen geblieben ist. Z. B. Daer dot Tid sind ältere Formen als die hochdeutschen Tür tot Zeit. Und diese durchstehend ältere Lautstufe des Plattdeutschen hat verhindert, dass bei der neuen Konsolidierung der Schriftsprache seit Luther seine Sprachschätze nicht unmittelbar ins Neuhochdeutsche eintreten konnten.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Briefe über Hochdeutsch und Plattdeutsch