Wozu ist die plattdeutsche Sprache alles fähig?

Man spricht immer von dem Treiben der Plattdeutschen Schriftsteller als hätten sie die Absicht das Hochdeutsche zu verdrängen, wenigstens in plattdeutschen Landen ihre Mundart zur geltenden Schriftsprache zu machen. Es hat nicht geholfen, dass schon seit der ersten Auflage des Quickborn in der Vorrede desselben zu lesen stand: „Wir wollen nicht aus Spezialinteresse, dass unsere gemeinsame Schriftsprache durch das Plattdeutsche verdrängt werde”; wenn gesagt worden, dass Religion und Wissenschaft ihre Sprache behalten müssten, dass man die Mundart von Kanzel und Schule ausgeschlossen wünsche.

Man scheint dies ehrliche Wort für eine Finte zu halten, bestimmt unter dem Deckmantel der Bescheidenheit das erste Plätzchen erobern zu helfen, das Weitere werde sich finden. — Könnte man sich denn nicht durch den Augenschein überzeugen? Sehen die Gedichte der Dethleffs, der Quickborn, die Vertelln, die Läuschen und Rimels von Fritz Reuter danach aus, dass sie eine Revolution der Sprachverhältnisse Deutschlands bewirken sollen und können? Sehen ihre Verfasser danach aus, dass sie so schlau verborgene, so weit gehende Unternehmungen im Schilde führen? Keiner wird mit ja antworten können. Und dennoch fragt man sogleich wieder: was wollen sie denn, wenn sie nicht die Absicht haben, das Plattdeutsche wieder zur Schriftsprache zu machen? Als wenn Niemand eine neue Blume pflanzen oder eine veraltete neu aufziehen könnte ohne die Absicht, Nachbars Gärten und Äcker damit zu überwuchern. Kann man sich nicht an der Blume erfreuen? und wenn sie missfällt, gleichgültig vorüberwandeln?


Die Plattdeutschen wollen keinen andern Platz einnehmen als worauf sie stehen. Ist dort nicht Raum für sie? Drängen sie sich auf mehr als andere? Sie wollen nicht plattdeutsch philosophieren, plattdeutsch dozieren, plattdeutsche Kompendien, Konversationslexika, literarisch kritische Journale schreiben. Wo haben sie dazu Miene gemacht? Fürchtet man denn von den 9 Millionen Bauern, die jeden Tag nichts anders als Plattdeutsch reden, dass sie den Hochdeutschen ins Handwerk fallen?

Aber ihren Platz wollen sie, und sie haben ein Recht dazu. Sie wollen nicht erobern, aber erhalten. Man sammelt so viel Reliquien der Vergangenheit in Museen und Bibliotheken, man sammelt alte Knochen und alte Bücher; sie wollen ein lebendes Monument der alten Zeit erhalten: Sprache und Sitte; sind sie dann zu tadeln und scheel anzusehen? Das Nivellement geht reißend schnell über den Erdboden, Wüsten und Wälder verschwinden, aber auch Charaktere: sie wollen erhalten was zu retten ist, was unwiederbringlich mit der Sprache untergeht. Ein Bauer, der seine Sprache spricht, frei und sicher, ist ein Mann, er bringt uns den Lebenshauch einer eignen Welt und Weltanschauung mit, so eng, so borniert, so hart sie sein mag, er kommt nie an uns heran ohne irgend eine Erfrischung der Seele; ein hochdeutsch stammelnder Bauer wird ein Karikatur von uns, ein schaler Abdruck unserer selbst, er wird was Kellner und Wirte schon lange geworden, seit die guten alten Gasthäuser verschwunden sind.

Wir Norddeutsche sind konservativ und liberal zugleich. Wir wollen Sprechfreiheit. Sollen wir nicht reden können wie uns der Schnabel gewachsen? wie wir uns verstehen? Aber nein! Die Hochdeutschen wollen uns uniformieren, sie wollen uns zu ihren Brüdern machen, aber nicht sich zu den unsern, wir sollen immer aufgeben, hingeben, nun gar unser Eigentümlichstes, unsere Sprache. Denn Sprache Volksgeist sind eins und dasselbe. Man kann sie nicht eng genug verbunden denken, sagt W. v. Humboldt; wenn man eins von beiden genau genug kennte, müsste man das andere daraus konstruieren können.

Uns geneigt zu machen, wird uns unsere Eigentümlichkeit als Rohheit, unser Reichtum als Armut vorgehalten. Es wird uns vordemonstriert, was wir alles nicht sagen können, unsere Sprache sei nicht im Stande die höheren Lebensverhältnisse, wissenschaftliche Begriffe, verwickelte Denkverhältnisse auszudrücken. Und gerade dasselbe behauptete Leibnitz vor 100 Jahren, 50 Jahre vor Goethe und Kant vom Hochdeutschen, „der Haupt- und Heldensprache”, wie er sie trotzdem nennt. Der Unsinn ist groß. Eine Sprache kann gerade das nicht ausdrücken, was sie noch nicht ausgedrückt hat. Mehr kann man nicht behaupten. Wer kann bestimmen, was sich plattdeutsch nicht sagen ließe? Es komme der Mann, der irgend etwas zu sagen hat — er wird es eben sagen, plattdeutsch wenn er ein Plattdeutscher ist. Was behauptete man von dem Plattdeutschen kurz vor dem Quickborn? Die Sprache sei nur zum niedrig Komischen brauchbar. Wenn jetzt jemand behauptet, sie könne keine klassische Metra ausprägen, so bin ich überzeugt wird er erst im Quickborn zusehen, ob dort nicht doch klassische Metra sich finden, und findet er dann den Hexameter, so sagt er: freilich Hexameter, das geht noch, allein Sapphische Strophen etc. das geht nicht, und mit dem Hexameter haperts. Und das wird man ihm glauben weil man es wünscht.

Fähig ist die plattdeutsche Sprache zu allem — wie sollte sie nicht, die die tiefsten Töne der Menschenbrust in Liebe, Leid und Tod — nicht etwa im Quickborn, sondern alle Tage ausspricht. Oder begrüßt der Vater seinen Erstgebornen hochdeutsch? Und flüstert der Bräutigam seine Liebe erst, wenn er sie übersetzen kann? Oder ist diesen Leuten anders zu Mute wenn Vater und Mutter stirbt, als etwa einem Geheimerat? O welche Sünde begeht man mit unsinnigem Gewäsch! Man raubt denen das Vertrauen an sich selber, am eignen Wort, am eigenen Gefühl, die da gläubig genug sind zu den Schwätzern hinaufzublicken als zu den Höheren.

Fähig ist das Plattdeutsche zu allem, man kann sich über Wissenschaft und Religion darin unterhalten. Wenn andere behaupten nein, was kann ich dafür, dass sie nicht plattdeutsch können? Wer hat sich denn je um seine plattdeutsche Sprache bemüht wie er es um seine hochdeutsche getan? Wenn der Pastor nicht plattdeutsch mit seiner Gemeine über Glauben und Pflichten sprechen kann, so liegt's nicht an der Sprache, es liegt an ihm, der die Sprache nicht beherrscht. Ein positives Beispiel hebt alle jene Einwendungen auf: Verfasser dieses kann es und könnte einen tüchtigen Rechtsgelehrten nennen, der ihm sagte: er spräche häufig über Recht und Religion mit seinen Landleuten, und zwar nur plattdeutsch, und wäre nie dabei in Verlegenheit um Ausdrücke und Wendungen.

Also fähig ist unsere Muttersprache, und wäre sie es nicht, so könnte sie in 50 Jahren so gut wie ihre Schwester befähigt werden. Was die Zeit ihr geben kann, ist nicht Inhalt, sondern Form. Eine noble Frisur ist bald hergestellt, wenn nur ein kräftiger Haarwuchs vorhanden ist. Allgemeine Begriffe entstehen aus besonderen, abstrakte aus konkreten ganz von selbst, sobald das Bedürfnis der Abstraktion da ist. Gerade an konkreten Ausdrücken, am Holz hat das Plattdeutsche Überfluss. Fähig ist es zu allem wozu man eine Sprache braucht, nur gottlob noch nicht zu den Sprüngen und Hoppsen wozu man eine Sprache nicht missbrauchen sollte, wozu man die Hochdeutsche gezwungen, wodurch man ihre Glieder verrenkt und verbogen hat. Oder sollten die Millionen leerer Formeln, die man in der gebildeten hochdeutschen Gesellschaft allabendlich auswechselt: — „Ich bin entzückt, Ihre werte Familie in so ausnehmendem Wohlsein zu finden” — und worin gerade die heranwachsende Jugend sich einübt; die Millionen unsinniger Konstruktionen, welche in Kaufmannsbriefen umlaufen: - „Anbei übermache Faktura mit 100 Mark, wofür mich zu erkennen bitte” — der Wortschwall von Nichtssagen, den tausend deutsche Zeitungen täglich verbreiten: — „KK. MM. geruhten Ihr Absteigequartier bei etc. Der Hamburger Börse schien es in letzter Zeit an Kraft zu fehlen einen neuen Aufschwung zu nehmen” — das Wortgeklingel unserer Predigten von der Kanzel, die gewöhnlich treu Dezennien lang die Farbe irgend einer Autorität tragen, die hier zu Lande z. B. Claus Harms' versetzte Wortfolge karikieren: ich sage sollten diese Verzerrungen ohne Spuren für die Sprache bleiben? Dazu freilich ist das Plattdeutsche unfähig, aber nicht seine Schwäche macht es unfähig, sondern seine Gesundheit und Stärke.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Briefe über Hochdeutsch und Plattdeutsch