Abschnitt 6

Salzburg


Der Mensch ist wie sein Erdreich, wenn die Erziehung und die gesellschaftlichen Verbindungen keine Veränderung mit ihm vornehmen. Der Bauer im Innern dieses Landes trägt ganz das Gepräge der Natur um ihn her. Sein Gang ist schnell wie der seines Waldstroms; er ist in seinen Leidenschaften stürmisch wie die Luft, die er atmet, stark wie die Eiche, die ihn beschattet, und bieder, treu und fest wie der Fels, der seine Hütte trägt. Die Lebhaftigkeit und Mannigfaltigkeit der Auftritte, welche ihm die Natur darstellt, machen seinen Kopf reicher an Begriffen und sein Herz wärmer, als es sein würde, wenn er auf einer einförmigen Ebene wohnte und, wie hier, bloß der Natur überlassen wäre. Die Entfernung von großen Orten und die zerstreute Lage der Hütten, wodurch ihm viele Gelegenheit zu schädlichen Ausschweifungen genommen wird, erhalten seine Sitten reiner und machen ihn zum Nachdenken aufgelegter und auf seine Wirtschaft aufmerksamer. In seinem Bau, seiner Gesichtsbildung, seinen Gebärden und seinem Gespräche zeichnet er sich vor dem bayrischen Bauer sehr zu seinem Vorteil aus. Ich bedaure unendlich, daß ich wegen Mangel an Kenntnis der hiesigen Provinzialsprache die Bergleute nicht so genießen kann, wie ich es wünsche. Die unbeschreibliche Offenherzigkeit, welche sie äußern, und die Züge des Wohlwollens, des guten Humors und des launichten Witzes, die man auf ihrem Gesichte liest, machen sie beim ersten Anblick dem Menschenfreund vorzüglich lieb. Viele von ihnen tragen noch lange Bärte, und die in den abgelegenen Gegenden duzen jedermann, auch ihren Fürsten. Die Kröpfe sind zwar nicht selten unter ihnen, aber doch lange nicht so häufig, als einige Reisebeschreiber zu melden belieben. Überhaupt genommen, sind sie ein sehr schöner Schlag Leute.


Als ich sah, daß sie mich nicht überzeugen konnten und ihnen an meiner innern Überzeugung auch nichts gelegen war, sagte ich ihnen, sie sollten mich nur in Ruhe lassen; ich stünde ihnen mit Ehre und Leben dafür, daß ich meine Gedanken über die Religion für mich geheimhalten und niemand zu meinem Glauben bekehren würde. Umsonst; täglich brachen sie ungestüm in mein Haus ein und drangen auf das Bekenntnis eines Glaubens, dem mein Gewissen widersprach. Lieber Herr, ich tat alles, was möglich war, um Ruhe zu haben, aber es war unmöglich. Eines Tages kam ich müde vom Feld nach Haus, und als ich mich bei meinem Brot erquicken wollte, stürmeten wieder die Kapuziner herein. Ich hatte mir seit einiger Zeit vorgenommen, ihnen kein Wort mehr als guten Tag oder guten Abend zu sagen. Als sie ihr altes Geschrei wieder begannen, hörte ich lange ruhig und stille zu und ließ mir mein Brot desto besser schmecken, je mehr sie mich verfluchten. Wie es aber kein Ende nehmen wollte, kroch ich in den Winkel hinter den Ofen und dachte: Schreit, so lange ihr wollt. Aber auch da war ich nicht sicher. Ich warf mich endlich ungeduldig aufs Bette, und wie der eine auch hier zu mir schritt und mir in die Ohren schrie, kehrte ich ihm den Hintern zu; aber flugs war der andere wieder auf der andern Seite und schrie noch ärger als sein Geselle. Endlich ward ich toll, sagte ihnen, ich wäre Herr in meinem Haus; und wie sie es immer gröber machten, sprang ich auf, nahm das erste beste, was mir in die Hände kam (ich glaube, es war ein Besen), und jagte sie zur Türe hinaus. Nun ward ich nicht nur als ein verstockter Ketzer, sondern auch als ein Verfluchter behandelt, der an die geheiligten Priester des Herrn gewalttätige Hände gelegt. Man nahm mich gefangen und brachte mich in Ketten hieher. Anfangs litt ich entsetzlich. Hundertmal sagte ich, man sollte mich nur überzeugen, und ich wollte es dann mit Mund und Blut bekennen; aber alles war vergeblich. Man wollte mich zwingen, in die Kirche zu gehen, zu beichten, meine Gedanken über die Religion zu eröffnen usw. Ich sagte, ich könnte von meiner Religion weiter nichts offenbaren, als daß ich nicht glaubte, was sie glauben. Überzeugen wollte oder könnte man mich nicht, und also würde ich geduldig zur Kirche gehen, wenn man mich's hieße, aber ohne deswegen meinen Glauben zu ändern, und zu beichten hätte ich nichts. Das unausstehlichste war mir das unablässige Dringen der Kapuziner auf ein Glaubensbekenntnis. Alles Bitten, mich zu verschonen, und alle Vorstellung, daß das Bekenntnis des Mundes ohne Bekenntnis des Herzens nach ihrer eignen Lehre nichts hälfe, war umsonst. Endlich nahm ich mir vor, mich als einen Stummen zu gebärden und kein Wort mehr zu reden, welches ich auch achtzehn ganze Jahre hindurch dem Buchstaben nach hielt. Vor einigen Jahren fing man an, mich gelinder zu behandeln, und seit dieser Zeit habe ich meine Sprache wieder.“

Der Herr Pfleger bestätigte es, daß dieser sonderbare Mann achtzehn ganze Jahre hindurch keine Silbe gesprochen. Und doch sah man während dieser langen Zeit kein Wölkchen des Unmuts oder der bösen Laune auf seinem Gesicht. Sich immer gleich, tat er gelassen und munter alles, was man ihm, außer der Sphäre der Religion, gebot. Nur einen leichten Zug von Verachtung der Menschen um ihn her will man an ihm bemerkt haben. Wenn man bedenkt, daß sein ziemlich heller Kopf, sein offenes Wesen und sein guter Humor ihm ein natürlicher und sehr starker Trieb zur Geselligkeit und zur Mitteilung seiner selbst sein müssen, so muß man über seine freiwillige Stummheit staunen. Durch sein Wohlverhalten in seiner Gefangenschaft brachte er es dahin, daß ihm der jetzige Fürst, ein sehr toleranter Herr, die Ketten abnehmen ließ und auf Ansuchen des Herrn Pflegers eine ansehnliche Zulage zu seinem täglichen Unterhalt bewilligte. Er hat sich so viel Zutrauen erworben, daß man ihn zu einer Art von Aufseher über seine Mitgefangenen gemacht hat. Ungeschlossen und ganz frei ward er mit denselben schon mehrmalen zur Arbeit an Orte hingeschickt, wo es ihm sehr leicht war zu entwischen; aber sein Charakter ist mehr Bürge für seine Person als die stärkste Kette. Er hat sich - ohne es selbst zu wissen - bei seinen Mitgefangenen so viel Ansehen verschafft, daß er sie mit einem Wort besser in der Zucht halten kann als der Kerkermeister mit dem Stocke. Die Natur hat ihm eine Überlegenheit über den großen Haufen der Menschen zugesichert, ob sie ihn schon in einer Bauernhütte gebar. Jetzt beschäftigt er sich in seinen Nebenstunden freiwillig damit, daß er einen jungen Mordbrenner von ungefähr sechzehn Jahren, der einigemal aus Mutwillen seines Vaters Haus angezündet und seit einigen Jahren an Ketten liegt, lesen und schreiben lehrt, ohne ihm etwas von seinen Religionsbegriffen mitzuteilen. Diese hält er jetzt so geheim, daß ich mit aller vertraulichen Zudringlichkeit, mit allem Bitten und Versprechen nichts aus ihm herausbringen konnte. Er antwortete mir nichts als „Ich glaube nicht, was die Kapuziner glauben, und wünsche mir zu einem vergnügten Leben nichts mehr als eine Bibel.“ Vor einigen Jahren ließ man einigemal seine Frau zu ihm, die er aber, ohne die geringste Äußerung einer Neigung, ihrer genießen zu wollen, mit einigen guten und warmen Ermahnungen zu ihrem Besten wieder entließ. Eine Bibel, wornach seine Seele so heftig dürstet, wird man ihm schwerlich gestatten, weil man seiner Schwärmerei nicht noch mehr Nahrung geben will. Alle Salzburger Herren und Damen, in deren Gesellschaft ich diesen Mann zu sehen die Ehre hatte, äußerten eine gewisse Hochachtung gegen ihn, aber sie waren auch alle einig, daß es eben nicht sehr politisch taktisch klug, diplomatisch gehandelt sei, wegen so einer Kleinigkeit, als man von dem Mann gefordert, ein Märtyrer zu werden.

Das hiesige Landvolk ist außerordentlich lebhaft und fröhlich. Die Mädchen in diesen verborgenen Winkeln unsers festen Landes, alle frisch wie die Rosen und munter wie die Rehe, verstehn sich auf die Künste der Koketterie so gut als unsere Pariserinnen, nur sind die Reize, womit sie auf Eroberungen ausgehen, natürlicher als bei diesen. Ihr gewölbter Busen, dessen Umrisse sie sehr sorgfältig oben und auf den Seiten des Brustlatzes zu entfalten suchen, ist kein Betrug eines lügnerischen Halstuches oder einer hohlen Schnürbrust. Sie wissen das Schöne ihrer Kleidung ganz zu ihrem Vorteil zu benutzen. Wenn sie einen Liebhaber glücklich machen wollen, so macht ihnen weder die Schande einer unehlichen Geburt noch die Besorgnis, ein Kind ernähren zu müssen, einige Bedenklichkeit. Die Sitten setzen sie über das erste und die Leichtigkeit des Unterhaltes eines Kindes über das andere hinaus. Die Strafe, die sie für einen Fehltritt von der Art erlegen müssen, ist kaum nennenswert. Die Kindermorde sind daher hierzulande äußerst selten. Ohne allen Zwang, ohne alle Zurückhaltung überläßt man sich hier dem Triebe der Natur. Die Mädchen nehmen sonntags in der offenen Kirche den lauten Gruß und Handschlag von ihrem Geliebten an. Beim nächtlichen Besuch hat aber der Liebhaber einen harten Stand. Die Witterung mag noch so unfreundlich sein, so wird ihm die Türe oder das Fenster doch nicht eher geöffnet, bis eine gewisse Losung gegeben ist, die gemeiniglich in langen Reimen besteht, worin er sein Leiden und Sehnen in einer mysteriösen Sprache zu erkennen geben muß und die das Mädchen reim- oder strophenweis beantwortet. Diese Sitte ist uralt und in den entlegnern Teilen dieses Gebirges unverbrüchlich. Die Bekanntschaft und der Genuß beider Liebenden mag noch so lange gewährt haben, so dürfen sie sich doch nicht darüber hinaussetzen. Sehr selten läßt ein Bauernjunge sein Mädchen sitzen, wenn er es auch erst nach zwei bis drei Kindbetten heiraten kann.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Briefe eines reisenden Franzosen über Deutschland.