Abschnitt 7

Salzburg


Die Bewohner dieser Berge sind mit ihrem Zustand so vergnügt, daß sie ihr Land für eine Art von Paradies halten. Die Einwohner des sogenannten Dintnertales, einer scheußlichen Kluft zwischen nackten Felsen, die vom Dintenbach durchströmt wird, haben das Sprüchwort: Wenn einer aus dem Himmel fiele, so müsse er ins Dintnertal fallen, welches soviel sagt als, dieses Tal sei der zweite Himmel. Ich konnte lange nicht ausfindig machen, warum die guten Leute einen so hohen Begriff von einem Schlund haben, der oft viele Wochen lang so verschneiet ist, daß kein Mensch weder heraus- noch hineinkommen kann, und der mit einigen benachbarten, viel reizendern Gegenden so stark absticht. Ich nahm es anfangs für Ironie; aber ich erfuhr endlich, daß es voller Ernst sei und daß die uneingeschränkte Freiheit, welche die Bewohner dieses seltsamen Paradieses zu genießen haben, ihnen die große Hochachtung für dasselbe eingeflößt hat. Sie bestehen bloß aus einigen Hirten, Bergwerkleuten und Eisenschmelzern, die fast ganz von Abgaben frei sind und auf welche die Obrigkeit in Betracht des geringen Ertrags und der Entlegenheit dieser Gegend wenig acht hat. - Die Abgaben der hiesigen Landleute sind überhaupt sehr mäßig, und die Befreiung von den Erpressungen, worunter die übrigen Völkerschaften Deutschlands seufzen, mag das meiste zu dem guten Humor beitragen, welcher in diesem ganzen Gebirge herrscht. Die Fürsten ließen es bisher bei dem Anschlag der Güter bewenden, der seine Jahrhunderte alt ist und also mit dem jetzigen Wert der Dinge in einem geringen Verhältnis steht. Der jetzige Fürst hat durch seinen Entwurf, neue Urbarien machen zu lassen und die Schatzungen zu erhöhen, ein kleines Murren im Lande erregt. Wirklich ist er nach dem Verhältnis der Größe und des Reichtums seines Landes im Punkt der Einkünfte weit hinter den übrigen Fürsten Deutschlands zurück, und in Betracht dessen wäre ihm dieser Entwurf wohl zu verzeihen. Aber die schlimmen Folgen seiner großen Liebe zur Jagd, wovon er vermutlich nichts weiß und die ohne Zweifel bloß das Werk seiner Bedienten sind, haben einen stärkern Zug von Despoterei als die Erhöhung der Schatzungen, die dann doch unter der Garantie der Landstände auf eine lange Zeit festgesetzt bleiben und nicht, wie jene Wirkungen einer persönlichen Leidenschaft, willkürlichen, augenblicklichen und gewalttätigen Erweiterungen ausgesetzt sind. In verschiedenen Gegenden ist den Bauern verboten worden, ihre Schafe auf gewisse Weiden zu treiben, die an große Holzungen anstoßen, damit dem gehegten Wild das Futter nicht entzogen werde. Ich habe dir gesagt, daß sich der hiesige Bauer meistens von seiner eignen Schur sein Tuch und Wollenzeug selbst macht. Verbote von dieser Art müssen also auf viele Wirtschaften einen sehr schädlichen Einfluß haben. Der hiesige Bauer ist gegen alle Neuerungen sehr empfindlich. Es gab schon Auftritte, wo diese Bergbewohner laut sagten, sie wollten sich auf den Fuß der Schweizer setzen. Läßt es aber ein Fürst beim alten bewenden, so sind sie ihm unbeschreiblich zugetan. - Oh! wüßten doch die Fürsten die Liebe ihrer Untertanen, ihrer Nebenmenschen, zu schätzen.


Viele der hiesigen Bauern tragen noch lange Bärte und den Hals und die Brust zu jeder Jahreszeit offen. Diese ist dann von der Sonne und der Luft gebräunt und meistens stark behaart. In einiger Entfernung sehn sie schrecklich aus, aber in der Nähe macht sie ihr freundlicher Blick und das unverhehlbare Gepräge der Redlichkeit willkommen. Sie sind mutig und stark und würden bei einem Angriff in Verteidigung ihres Landes förchterlich sein; aber außer ihrem Lande sind sie, nach dem Geständnis der erfahrensten hiesigen Offiziers, keine guten Soldaten. Sie bekommen, wie alle Bergbewohner, gerne das Heimweh, und das Eigentümliche ihrer von Jugend auf gewohnten Lebensart, welches sie in der Fremde entbehren müssen, macht sie oft in einem Feldzug unbrauchbar. Zum Glück hat ihr Landesherr mit der Erhaltung des Gleichgewichts unter den europäischen Mächten wenig zu schaffen. - Übrigens sind sie viel gefälliger und nicht so gewinnsüchtig wie die Landleute in den meisten Gegenden der Schweiz, die, so sehr sie allen Abgaben feind sind, die Fremden bei jeder Gelegenheit gerne in schwere Kontribution setzen. Ich habe häufige Proben, daß hiesige Bauern auf große Strecken mit mir gegangen sind, um mir den Weg zu zeigen, und mir noch mehrere kleine Dienste getan haben, ohne eine Belohnung annehmen zu wollen. Leb wohl.

In Pilatis „Reisen durch verschiedene Länder von Europa“ erinnere ich mich eine Anekdote gelesen zu haben, welche die Intoleranz der Salzburger schildern soll. Es ist wahr, man schreit allen Leuten ohne Unterschied auf der Straße zu, sich vor dem heil[igen] Sakrament, wenn es in der Prozession oder zu einem Kranken getragen wird, niederzuknien, und die persönliche Grobheit des jetzigen Küsters macht es etwas zu auffallend. Auch hörte ich einige gutherzige Mädchen von einigen Protestanten, die sich auf eine kurze Zeit hier aufhalten und meine Freunde sind, mit dem Ton des innigsten Mitleids sagen: „Schade, daß sie Lutheraner sind!“ Allein, das Niederknien vor dem Sakrament ausgenommen, welches jeder leicht vermeiden kann, weil man den Küster schon in großer Ferne schellen hört, wüßte ich nicht, was hier ein Protestant zu beförchten hätte. Unter dem Adel, der Geistlichkeit und der Kaufmannschaft gibt es vortreffliche Gesellschaften, worin man ohne Unterschied der Religion sehr wohl aufgenommen wird. In mehrern Gasthäusern kann man um Geld und gute Worte auf die Fasttäge Fleisch haben, und der Pöbel, der besonders in kleinen Residenzen sehr leicht den Ton des Hofes annimmt, hat unter der jetzigen Regierung viel von der heiligen Grobheit verloren, woran ihn die Bigotterie des vorigen Fürsten gewöhnt hatte.

Unter dem Adel, besonders den Domherren, gibt es nicht nur sehr gute Gesellschaften, sondern auch Leute, die sich durch ihre ausgebreiteten Kenntnisse sehr ausnehmen. Der jetzige Dompropst, ein Bruder des berühmten Grafen von Firmian, Vizegouverneurs von Mailand, ist mit den besten italienischen, französischen, deutschen und englischen Schriftstellern sehr genau bekannt. Die Sammlung der letztern ist in seiner ausgesuchten Bibliothek fast ganz vollständig. Er ist ein sehr liebenswürdiger Herr, der von den 20.000 Gulden, die ihm seine Pfründe einträgt, den besten Gebrauch zu machen weiß. Der Obersthofmeister des Fürsten, ein andrer Bruder des berühmten Vizegouverneurs, ist ein großer Liebhaber und Kenner von Gemälden. Seine reiche Sammlung von Porträten von Künstlern, meistens von ihnen selbst gemalt, ist, nach jener zu Florenz, einzig und gibt derselben wenig nach. Der Gram über einen der schrecklichsten Unglücksfälle, die einen Vater treffen können, hat seine Seelenkräfte sehr geschwächt und die unbeschreibliche und fast kindische Güte, die aus seinen Gesichtszügen leuchtet, mit einem kleinen Gewölke überzogen. Sein erster Sohn, der hoffnungsvollste Herr, war Domherr zu Passau, und die Familie konnte erwarten, in ihm mit der Zeit einen Bischof oder gar einen Erzbischof von Salzburg zu sehn. Der zärtliche Vater besuchte ihn und machte mit ihm eine Jagdpartie. Als sie auf einem Schlitten nach dem Gehölze fuhren, ging dem Vater die Flinte los, und die unglückliche Kugel fuhr seinem Sohn durch die Brust. Wie ein Rasender sprang er ins nahe Gebüsche, raufte sich die Haare und wälzte sich im Schnee. Mit Gewalt mußten ihn die Jäger von der Stätte bringen. - Ein Graf Wolfegg, Domherr, hat eine Reise durch Frankreich gemacht, um unsre Manufakturen und Handwerker zu studieren. Er ist mit allen unsern berühmten Künstlern, bekannt, und sein Lieblingsfach ist die Baukunst, worin er wirklich vortrefflich ist. Der Oberstallmeister, Graf von Küenburg, ist ein weitumfassender Kopf, äußerst gefällig, witzig und einnehmend im Umgang. Seine niedliche Bibliothek enthält alle unsere guten Schriftsteller, und bei ihrer Anlage ist kein „Index librorum prohibitorum“ Verzeichnis der für Katholiken verbotenen Bücher, bestand bis 1965 zu Rate gezogen worden. Der Bischof von Chiemsee, Graf von Zeil, und noch viele andre vom hohen Adel sind wegen ihrer Kenntnisse und ihrer guten Lebensart verehrungswürdige Leute.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Briefe eines reisenden Franzosen über Deutschland.