Abschnitt 3

Salzburg


Das Fürstenkollegium zählt in allem hundert Stimmen, worunter dreiunddreißig geistliche, einundsechzig weltliche und sechs Kollektivstimmen sind. Diese bestehn aus den zwei Bänken der Reichsprälaten und Äbtissinnen, nämlich der schwäbischen und rheinischen, und aus den vier Kollegien der Reichsgrafen, nämlich dem wetterauischen, schwäbischen, westfälischen und fränkischen. Jedes Grafenkollegium und jede Prälatenbank gilt für eine Fürstenstimme. An der schwäbischen Prälatenstimme haben zwanzig und an der rheinischen neunzehn Glieder Anteil. Das wetterauische Grafenkollegium zählt wirklich zehn, das schwäbische zwanzig, das fränkische sechzehn und das westfälische vierunddreißig Glieder. Es haben sich viele Grafen und Herren, die in dieser Zahl nicht mitbegriffen sind, von ihren Kollegien abgesondert, weil sie in den Fürstenstand erhoben worden, aber noch keinen Sitz auf dem Reichstag erhalten haben. Andre sind ausgeschlossen worden, und noch andre Grafenstimmen ruhen, weil die Herrschaften, denen sie ankleben, an größere Häuser gefallen sind, die es nicht des Werts achten, eine Grafenstimme zu führen, welche im Grunde auch äußerst unerheblich ist. - Das Fürstenkollegium hat das Eigne, daß ein Haus mehrere Stimmen haben kann; so hat der jetzige Kurfürst von Pfalzbayern sieben, und sein Nachfolger, der Herzog von Zweibrücken, wird acht Stimmen haben; der König von Preußen hat fünf und nach Absterben des regierenden Fürsten von Ansbach und Bayreuth sieben, und der Kurfürst von Braunschweig hat auch fünf Stimmen, weil der Reichsfürstenstand nicht auf der Person, sondern auf dem Lande beruht und eine Person mehrere Länder besitzen kann, deren jedem der Fürstenstand besonders anklebt. Im Vorsitz des Fürstenkollegiums wechseln Österreich und Salzburg täglich miteinander ab. Der Erzbischof von Besancon und der König von Sardinien als Herzog von Savoyen beschicken den Reichstag schon seit langer Zeit nicht mehr, und das Fürstenkollegium besteht also wirklich nur aus achtundneunzig Stimmen; das Kollegium der Reichsstädte besteht aus einundfünfzig Stimmen und ist in zwei Bänke, nämlich die rheinische und schwäbische, geteilt; jene hat vierzehn und diese siebenunddreißig Sitze. Die Stadt, worin der Reichstag gehalten wird, führt das Direktorium.


Der kaiserliche Hof hat auf alle drei Kollegien einen sehr großen Einfluß. In der Kammer der Kurfürsten hat er die drei Geistlichen fast immer auf seiner Seite, weil sie in neuern Zeiten gemeiniglich seine Kreaturen sind. Er spart weder Geld noch Drohungen, noch Versprechungen, um die Domherren zu Mainz, Trier und Köln bei der Wahl eines neuen Erzbischofs anstatt des Heiligen Geistes, den sie feierlich anrufen, zu inspirieren. Ehedem wußte sich unser Hof durch die nämlichen Mittel einen großen Einfluß auf das deutsche Reich zu verschaffen, aber nun sind ihm durch die Wachsamkeit und Tätigkeit des Wiener Hofes diese Kanäle auf immer verstopft. Im Fürstenkollegium hat er den nämlichen Vorteil. Fast alle geistliche Fürsten sind seine wahren Söhne. Das Domkapitel zu Lüttich ist das einzige, das sich in neuern Zeiten bei einer Fürstenwahl gegen den kaiserlichen Einfluß wirksam gesträubt hat. Nebst dem hat dieser Hof seit langer Zeit die Maxime, seine Vasallen in seinen Erblanden, wenn sie irgend nur ein kleines unmittelbares Reichsgut besitzen, zu Fürsten zu machen und ihnen Sitz und Stimme auf dem Reichstag zu verschaffen. So kamen die von Lobkowitz, Dietrichstein, Schwarzenberg, Liechtenstein, Auersperg und die von Thurn und Taxis, aller Protestationen der alten Fürsten ungeachtet, in den Reichsfürstenrat, bloß um den Einfluß des Hauses Österreich zu verstärken. Die Herzoge von Aremberg werden zwar unter die alten Fürsten gezählt, aber der größte Teil ihrer Güter liegt auch in den österreichischen Erblanden, und sie hängen fast gänzlich vom Hof zu Wien ab. Mehrere andre der alten Häuser müssen sich wegen der Lage ihrer Länder immer zu Österreich halten, und so kann man in jedem Fall beinahe die Hälfte aller Fürsten voraus zählen, die immer bereit sind, dem kaiserlichen Vortrag ihr Ja zuzuwerfen. - Im Kollegium der Städte herrscht der Kaiser fast uneingeschränkt. Sie sind fast alle im Gedränge ihrer benachbarten mächtigern Mitstände, wo sie des besondern Schutzes des Wiener Hofes bedörfen, um nicht gänzlich unterdrückt zu werden.

So übermächtig nun auch in diesen Umständen der Einfluß des kaiserlichen Hofes sein sollte, so wußten die Reichsstände doch noch einen Damm anzubringen, der den Strom desselben sehr oft bricht. Mably hat in seinen „Bemerkungen über die Geschichte Frankreichs“ richtig bemerkt, daß, wenn man die Stände des deutschen Reichs als unabhängige Mächte betrachtet, die sich zu ihrer Verteidigung miteinander verbunden haben, man keine weisern Maßregeln erdenken könne, als die sie immer ergriffen haben, um ihre Freiheit gegen die innere Vorgewaltigungen sicherzustellen. Die Definition der Verfassung des Reiches: „Est confusio divinitus conservata.“ (Sie ist eine durch Gottes Allmacht erhaltene Verwirrung) gilt insoweit, als man, irrigerweise, das Reich als einen einzigen selbständigen Staat ansieht; aber betrachtet man es in dem rechten Gesichtspunkt als eine Sammlung vieler freier Staaten, die sich in ein gewisses System zusammengetan haben, so erblickt man anstatt der Verwirrung sehr viel Ordnung und anstatt dem blinden Verhängnis viel Klugheit und Vorsicht. - Der Damm, wovon ich dir sagte und den die Reichsstände gegen die große Partei des kaiserlichen Hofes angelegt haben, ist das Gesetz, „daß die Mehrheit der Stimmen in den Reichskollegien nicht entscheiden solle, wenn es die Religion oder solche Sachen betrifft, worin die Stände nicht als ein Körper betrachtet werden können oder wo die Katholiken einer und die Protestanten einer andern Meinung sind“... In diesen Fällen gehn die Kollegien in Teile, und wenn auch ein Teil noch so gering an Zahl ist, so wird sein Schluß doch jenem des zahlreichern Teils gleich gehalten. Bloß die Religion hat zwar diesem Gesetz den Ursprung gegeben, aber in neuern Zeiten wußte auch die Politik guten Gebrauch davon zu machen, und auch den Katholiken, die dem kaiserlichen Hof anhängen mußten, kam es zugut, daß sich die geringere Zahl der Protestanten dem Kaiser nachdrücklich widersetzen konnte. Seitdem die Macht des Königs von Preußen so erstaunlich gestiegen ist, steht er an der Spitze der protestantischen Partei, obschon Sachsen eigentlich das Direktorium derselben führt, und er protestiert oft sehr nachdrücklich gegen Dinge, die mit der Religion eben nicht in der engsten Verbindung stehen.

Von München wanderte ich auch nach Innsbruck und noch etwas weiter ins Tirol, ich will dir aber meine Nachrichten davon bis dahin aufsparen, wo ich sie im Zusammenhang mit den österreichischen Landen besser werde anbringen können, und dieser Brief hat ohnehin schon, wie ich sehe, die gehörige Länge. Also leb wohl.

Mit Entzücken durchwandre ich nun dieses herrliche Land, das mit dem gebirgichten Teil der Schweiz sehr viel Ähnlichkeit hat. Bald bin ich auf unermeßlichen Gipfeln, wo ich, wie der Herr der Welt, um mich her die Wolkenheere, unabsehbare Ebenen, unzählige Seen, Flüsse und Bäche, schauerlich tiefe Täler und die kahlen Häupter von ungeheuern Granitfelsen mit dem Gefühl, das den himmlischen Regionen eigen ist, zu meinen Füßen betrachte. Bald lagere ich mich auf dem hohen Abhang eines Berges in die Hütte einer Sendtin (Hirtin), die mit ihrer Herde den ganzen Sommer durch in dieser überirdischen Gegend wohnt, von niemand als bisweilen von ihrem Liebhaber, der oft vier bis sechs Stunden zu klettern hat, einem Gemsjäger oder allenfalls von einem irrenden Ritter meiner Art besucht wird, und da lebe ich einen Tag wie ein Patriarch der Vorwelt bei Milch und Käs, zähle die Herde, die sich abends auf einen Pfiff des Mädchens um die Hütte her versammelt und die in diesem Augenblick so gut als mein ist, schlafe auf einem Büschel Heu sanfter als du auf deinen hypochondrischen Federn und genieße dann des Schauspiels der aufgehenden Sonne mit einer Wollust, die du in der Oper, Komödie, auf dem Ball und auf allen den Gemeinplätzen des Vergnügens vergeblich suchst. Bald besuch ich einen See im Busen hoher Berge, und doppelt lieb ist mir's, wenn ich ihn bei Anbruch des Tages mit einem Nebel bedeckt finde. Mit wahrem Entzücken seh ich dann zu, wie ihn die aufgehende Sonne in dem Tal einpreßt und niederdrückt, daß die glänzenden Häupter der Berge weit drüber hinausragen, wie der Wind nach und nach den Spiegel aufdeckt und der Nebel sich wie ein Nachtgespenst durch die Einschnitte der Berge in die angrenzenden Klüfte verkriecht. Dann mache ich eine Spazierfahrt in einem ausgehöhlten Baum, der hierzulande meistens die Dienste eines Schiffes tun muß, und frühstücke dabei mit köstlicher Butter und Honig aus einer benachbarten Bauernhütte und lache dich laut aus, wenn es mir einfällt, daß du soeben in deinem gelehrten Schlafrock und mit deiner kritischen Schlafmütze am Teetische sitzest, mir dem Tee eine ebenso wässerichte und fade Brochure du jour frz: Journal vom Tage hinabschluckst und von all dem Geschlampe Blähungen bekömmst, die du dann mit Rhabarber und all dem medizinischen Vorrat in deinem Glaskästchen umsonst wieder abzutreiben suchst.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Briefe eines reisenden Franzosen über Deutschland.