Abschnitt 2

Augsburg


Der Erziehungsart hat man das meiste zuzuschreiben. Du würdest staunen, wenn du den Unterschied zwischen der Erziehung der Jugend in den protestantischen Städten Deutschlands und den katholischen oder auch zwischen diesen und den unsrigen sehen solltest. Ich brauche dir hierüber nichts zu sagen, als daß die Jesuiten, denen wir in Frankreich so viel zu danken haben und die unsre Patrioten wieder in die Schulen zurückwünschen, in Deutschland ausgemachte Idioten waren, rüstige Verfechter der Barbarei, die sich ebensosehr beeiferten, allen Schwung des Geistes zu unterdrücken, als die unsrige das Genie zu entwickeln suchten.


Ein anderes Hindernis für den Kunstfleiß in diesen Gegenden ist der dumme, lächerliche Stolz des Adels. Während daß die Kaufleute und Fabrikanten in den benachbarten Städten Helvetiens Regenten sind, blickt der Domherr in Konstanz mit Verachtung auf den Bürger herab, der sein Vermögen nicht seiner zweifelhaften Geburt, sondern seinem Verstand und Fleiß zu verdanken hat, und bläht sich mit dem Register seiner sechzehn stiftmäßigen Ahnen, welches er beim Antritt seiner Pfründe beweisen muß, ohne zu bedenken, daß er vielleicht von einem Lakaien, Jäger oder Stallknecht in die Familie unterschoben worden. Auf den Bürger macht das einen sehr schädlichen Eindruck. Anstatt sein Kapital durch seinen Fleiß zu vergrößern, kauft er sich Titel oder Güter, sucht dem Herrn Baron ähnlich zu werden und verhöhnt dann mit noch viel erbärmlicherem Stolz seine Mitbürger.

Nebst dem trägt die sparsame Lebensart des Schweizer Bürgers sehr viel zur Aufnahme seiner Manufakturen bei. Das alltägliche Essen eines etwas bemittelten Einwohners von Konstanz wäre für einen von St. Gallen ein festlicher Schmaus. Aber freilich ist das zugleich auch die Ursache, warum der Schwabe einen bessern Humor hat als der Schweizer.

Übrigens scheint Konstanz wegen seiner Entlegenheit vom Hof zu Wien vernachlässigt zu werden. Es sollen sich schon einige Schweizer anerboten haben, Fabriken daselbst anzulegen. Ich weiß nicht, ob die Intoleranz des Hofes oder des Stadtrates, welcher immer noch etwas von seinem ehemaligen reichsstädtischen Ansehen zu behaupten sucht, oder der obbemeldte Adelstolz der Stein des Anstoßes war, woran diese Projekte scheiterten.

Der Bischof residiert zu Meersburg, einem kleinen Städtchen an dem entgegengesetzten Ufer des Sees, und hat ohngefähr 70.000 Gulden Einkünfte. Er besitzt sehr ansehnliche Güter auf helvetischem Boden. Die übrigen nennenswürdigen Orte auf der deutschen Seite sind: Überlingen und Lindau, worin man die Spießbürgerei im größten Glanz sieht.

Die helvetische Küste dieses kleinen Meeres ist scheinbarer als die deutsche. Die schöne Mischung der nah gelegenen, zum Teil mit Weinstöcken bepflanzten Hügel, die zerstreute Lage der Bauernhöfe mit ihren vielen Fruchtbäumen umher und die kleinen Partien von all den vielen Arten des Feldbaues geben derselben ein um so lebhafteres Ansehen, da die schwäbischen Dörfer enge wie die Städte zusammengebaut sind und oft ein großes Getreidefeld oder weitläuftige Wiesengründe um sich her beherrschen. Im ganzen, glaube ich, sind beide Ufer nach dem Verhältnis gleich stark bewohnt. Das helvetische ist steinichter und von schwererem Boden als das deutsche, und obschon das Thurgau unter die besten Gegenden der Schweiz gehört, so muß es doch einen guten Teil seines ersten Bedürfnisses, des nötigen Getreides, aus Schwaben beziehen, wogegen es etwas Wein und Obst vertauscht.

In Holland denkt man wohl wenig daran, was man dem Bodensee zu verdanken hat. Kaum kann man jetzt sich daselbst des Sandes erwehren, welcher durch die Aare und verschiedene andere Flüsse aus den Alpen in den Rhein geschwemmt wird, die Mündungen dieses Stroms zu verstopfen droht und durch die großen Bänke, die er schon weit über seinem Ausfluß ansetzt, in diesem tiefen Lande mit der Zeit gewaltsame Revolutionen erwarten läßt. Wenn nicht in diesem ungeheuren Behältnis die ungleich größere Menge des Sandes aufgefangen würde, welche durch den reißenden Rheinstrom aus dem hohen Bündnerlande herabgespült wird, so läge jetzt schon Holland unter neuem Sand begraben, und die gehemmten Ausflüsse des Rheines hätten dem Lande schon lange eine ganz andere Gestalt gegeben. Es ist wahr, diese Veränderung muß ohnehin mit der Zeit notwendig erfolgen. So beträchtlich auch die Tiefe dieses Sees ist, denn an einigen Orten beträgt sie dreihundert Klafter, so muß er doch endlich und um so eher ausgefüllt werden, da der Strom von seinem Ausfluß bei Konstanz an, durch die höheren Gegenden Deutschlandes, immer sein Bette tiefer gräbt und der See also ebensoviel Wasser verliert, als er Sand gewinnt. Aber wenn man bedenkt, was ein so großer Umfang, wie der des Sees, fassen kann, wenn man seinen Inhalt, wie della Torre ital. Archäologe, † 1717 jenen des Vesuvs, berechnet, so haben sich die Holländer noch freilich durch viele Generationen zu trösten; und wenn der jüngste Tag so schnell kömmt, als er von den erleuchtesten unserer Theologen angekündigt wird, so ist diese Berechnung vollends überflüssig.

Ich konnte diese Gegenden unmöglich verlassen, ohne den berühmten Rheinfall bei Laufen zu besuchen. Es war das schönste Schauspiel, das ich in meinem Leben gesehen. Da mir zuvor kein Gemälde und kein Kupfer von diesem prächtigen Auftritt der Natur zu Gesicht gekommen und ich ihn bloß aus einem dunkeln Ruf kannte, so geschah mir, was vermutlich allen geschieht, die nicht einen etwas bestimmtern Begriff davon mitbringen. Meine Einbildung hatte mich getäuscht. Ich dachte mir die wildeste Gegend, wo der Rhein vom Himmel herab in einen unermeßlichen Schlund stürzte. In dem Abstand zwischen der Wirklichkeit und meiner Idee war die Überraschung um so angenehmer, da es hier wie mit allen wirklich großen Natur- und Kunstwerken ist, deren wahre Größe und Schönheit nicht beim ersten Anblick auffällt, sondern erst durch genaue Beobachtung und Vergleichung der Teile muß gefühlt werden. Ich fand den Fall lange nicht so hoch, aber viel schöner, als ich mir ihn gedacht hatte. Das Amphitheatralische der mit Bäumen besetzten Hügel drüber her, die zwei Felsen, auf deren einem das Schloß Laufen, auf dem andern aber ein Dorf und vor demselben eine Mühle liegt und die, wie die Säulen einer Vorderbühne, dem Fall selbst zur Seite stehen, die Breite des Falles und die schöne Verteilung des mannigfaltig herabstürzenden Wassers, das herrliche Bassin unter dem Fall, die schöne und fast gekünstelte Mischung des Wilden mit dem Angebauten in der Gegend umher: kurz, alles war anders und schöner, als ich erwartete.

Der Fall beträgt jetzt höchstens fünfzig Schuhe, die kleinen Abhänge mitgerechnet, die der Strom kurz vor seinem Hauptsturz zur Vorbereitung macht und die man nur von der Höhe herab sehen kann. Ehedem war er zuverlässig höher, und noch bei Mannsgedenken ist ein Stück des Felsen weggerissen worden, welcher dem Sturz mitten im Weg steht. Ich glaube an dem Fels, worauf das Schloß Laufen steht, beobachtet zu haben, wie der Strom stufenweis in die Tiefe gegraben. Es folgt also daraus, daß, wie ich dir oben sagte, der Bodensee immer nach dem Verhältnis schwinden muß, wie der Rhein sein Bette tiefer aufwühlt. Bei Lindau sah ich auch, auf meiner Reise hieher, offenbar neues Land. Er hat das mit allen hochgelegnen Seen gemein, und am Neuchateller See soll diese Abnahme unter den helvetischen Gewässern am merklichsten sein.

Ich machte eine kleine Lustreise nach der nicht weit von Konstanz gelegenen Insel Mainau, die eine Kommenturei Komturei, Verwaltungseinheit des Deutschen Ordens 1198 in Palästina gegründeter Ritterorden, begründete im Baltikum einen Ordensstaat ist. Die Wohnung des Kommenturs Komtur - Verwalter einer Komturei ist ein neues schönes Gebäude, welches die herrlichste Aussicht über den ganzen See beherrscht. Coxe William Coxe - englischer Reiseschriftsteller und Historiker, † 1828 hat auf seiner Schweizerreise die Anlage des Gartens dieses Schlosses nicht begriffen. Er findet es abgeschmackt, daß man in demselben die freie Aussicht auf den See durch Buschalleen verdeckt hat. Allein diese führen den Spazierenden unvermerkt auf den ausgesuchten Fleck, wo er von dieser Aussicht überrascht wird und den ganzen See, samt seinem herrlichen Gelände, in voller Pracht vor sich hat. Die durchaus offne Aussicht auf das Wasser würde im Garten um so weniger interessant sein, da man sie in den Zimmern des Palastes ohnehin immerfort genießt.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Briefe eines reisenden Franzosen über Deutschland.