Abschnitt 1

Augsburg


Zur Strafe für deine fast unverzeihliche Trägheit im Briefschreiben ließ ich dich so lange auf einen von mir warten. Da du dich aber in dem Briefchen, das ich gestern erhielt, reumütig zeigest und Nannette für dich im Postskript um Verzeihung bittet, so will ich es dir so hingehen lassen und mein Taschenbuch wieder zuhanden nehmen.


Von Stuttgart aus tat ich mit einem guten Freund, einem jungen Herrn vom Stande, einen Einfall tief in den Schwarzwald. Die Bewohner des württembergischen Anteils sind lange nicht so schön, wohlgebaut und munter als die am Neckar und den angrenzenden Tälern. Die Männer sind plump und die Weiber gelb, ungestaltet und gemeiniglich schon in den dreißig Jahren runzlicht. Sie unterscheiden sich auch von ihren übrigen Landsleuten durch einen abscheulichen Geschmack, sich zu kleiden, und einen auffallenden Mangel an Reinlichkeit. Calw ist die beste Stadt in dieser Gegend; sie hat ansehnliche Manufakturen, und ihre Bürger äußerten bei den berüchtigten Streitigkeiten der Landesumstände die Landstände besaßen das Recht der Steuerbewilligung, das ihnen die Fürsten im Zeitalter des Absolutismus streitig zu machen suchten mit dem Herzog ungemein viel Mut, Freiheitsliebe und Anhänglichkeit an ihre Verfassung.

Ich konnte die Ursache der Häßlichkeit dieser Leute nicht ausfindig machen. Härte der Arbeit und schlechte Nahrung mögen etwas dazu beitragen; aber sie sind nicht die einzige Ursache, denn im fürstenbergischen und besonders im östreichischen Anteil dieses ungeheuern Gebirges sahen wir die schönsten Leute, ob sie gleich die harte Arbeit und die Nahrungsmittel mit den Württembergern gemein haben. Vielleicht ist die Richtung und Tiefe der Täler, und also die Luft, oder vielleicht das Wasser, daran schuld.

Diese Bergreise hatte ungemein viel Vergnügen für mich. Es war mir wie in einer Feenwelt. Eine zauberische Aussicht übertraf immer die andere an Mannigfaltigkeit und Schönheit. Seltsame Gestalten und Verkettungen der Berge, Wasserfälle, Partien Waldung, kleine Seen in tiefen Schlünden, Abstürze, kurz, alles ist in so großem Stil, daß ich es nicht wage, ihn in einem Brief zu kopieren.

Ich rastete einige Tage bei meinem Freund zu Stuttgart aus und machte mich sodann auf den Weg nach dem Bodensee, wonach sich mein Auge sehnte. Ich kam über eine andre Bergkette, die Schwabenland von Ostnorden nach Westsüden in der Mitte durchschneidet und die Alb genannt wird. Sie streckt sich noch von der schwäbischen Grenze an zwischen Bayern und Franken bis an den Fichtelberg hin und hängt mit dem böhmischen Gebirge zusammen. - Das merkwürdigste auf dieser Reise war mir das Stammhaus der Könige von Preußen.

Wer sollte glauben, daß Friederich der Große Friedrich II. von Preußen, König seit 1740, welcher gegen die vereinte Macht der mächtigsten europäischen Häuser stand Der Siebenjährige Krieg 1756 bis 1763 und das Gleichgewicht in Norden hält, der Abkömmling eines jüngern Astes des hohenzollerischen Stammes ist, des kleinsten fürstlichen Hauses in Deutschland, dessen zween noch lebende Äste, Hechingen und Sigmaringen, zusammen keine 70.000 Gulden Einkünfte haben! - Der jüngere Bruder eines unserer Marquis ließ sich das von einem Preußen erklären, schlug einen Schneller mit den Fingern und erwiderte: „Voilà un cadet qui a fait fortune!“ (Der Kleine hat sein Glück gemacht!)

Wir kamen quer durch das Fürstentum Hohenzollern, und die Breite wird wenig über ein paar Stunden betragen. In die Länge soll es gegen zehn Stunden haben, in welchem Umfang aber, den abgerissenen Sigmaringen-Teil mitbegriffen, nicht über 12.000 Menschen wohnen. Das Land ist sehr bergicht und waldicht, und die Fürsten waren von jeher als große Jäger bekannt. Die jetzt regierenden Herren sind, wie man mir sagt, sehr liebenswürdige Männer und suchen beim König von Preußen das Andenken ihres gemeinschaftlichen Ursprungs zu erneuern, wie denn auch kürzlich ein Graf von Hohenzollern zum Koadjutor designierter Nachfolger eines Bischofs von Ermeland seit 1772 preußisch, wenn ich nicht irre, ist ernennt worden.

Wir besahen das Schloß Hechingen, das auf seinem hohen Berg eine unbegrenzte Aussicht in das Württembergische und andre benachbarte Länder beherrscht. Einer der ehemaligen Regenten dieses kleinen Ländchens stand mit seinem Gefolge auf der Terrasse des Schlosses und weidete seine Augen in der weiten und schönen Gegend umher. Er nickte dann mit dem Kopf und sagte: „Das Württemberger Ländchen stünde unserm Land wahrhaftig sehr wohl an.“ - Wenn auch die Anekdote nicht wahr sein sollte, so ist wenigstens der Einfall nicht übel; denn das Ländchen Württemberg ist wenigstens dreißigmal so groß als das Land Hohenzollern.

Beim Anblick des Bodensees war ich würklich entzückt. Ich will keine dichterische Beschreibung dieses herrlichen Anblicks versuchen. Das hieße, das größte mannigfaltige und lebhafteste Gemälde dir mit einem Gesudel Geschmiere, Gekrakel von Kohlen vorzeichnen wollen. Ich will dir nur meine philosophischen politischen Beobachtungen über die Gegend und die Bewohner derselben mitteilen; denn was meine Gefühle betrifft, so weißt du, daß ich in Beschreibung derselben sehr unglücklich bin.

Auffallend ist vor allen, daß an diesem großen Gewässer, welches auf eine beträchtliche Strecke die Grenzscheidung zwischen Deutschland und der Schweiz ist, keine einzige Stadt von Bedeutung liegt. Konstanz, die beträchtlichste an den Ufern desselben, zählt kaum 6.000 Einwohner. Sie hat weder eine erhebliche Handlung noch die geringste Manufaktur, da Schaffhausen, St. Gallen, Zürich und einige andere nicht weit entlegene Städte, welche die vorteilhafte Lage nicht haben, sehr blühende Handelsstädte sind. Augenscheinlich ist der Schwabe überhaupt lebhafter und reger von Natur als der Schweizer in den angrenzenden Gegenden, und was das Landvolk betrifft, so bemerkt man sowohl in Rücksicht auf Sittlichkeit als auf Fleiß einen auffallenden Unterscheid zum Vorteil des erstern, da sich hingegen die helvetischen Städte ebenso stark zu ihrem Vorteil vor den schwäbischen in ihrer Nachbarschaft auszeichnen.

In Konstanz wird man stark versucht, den Mangel an Kunstfleiß, die Vernachlässigung der Vorteile, welche die Natur darbietet, und die herrschende Liederlichkeit der Religion zur Last zu legen. Schon im Elsaß und in dem untern Schwaben fand ich unter den Protestanten mehr Gewerbgeist als unter den Katholiken. Die Feiertage, das häufige Kirchengehn, das Wallfahrten, die Möncherei und dergleichen mehr tragen viel, und noch viel mehr die übertriebenen Lehren von Verachtung zeitlicher Dinge und von Erwartung einer wundertätigen Unterhaltung von Gott, die Leichtigkeit, in Klöstern und der Kirche Versorgung zu finden, und die Eingeschränktheit der Begriffe, die man zum Behuf seines Glaubens bei einem Katholiken im Vergleich mit dem Protestanten voraussetzen muß, dazu bei. Unter dem großen Haufen der Bauern beider hier zusammengrenzender Völker gleicht sich das durch die natürliche Schwerfälligkeit und Wildheit des reformierten Schweizers, worüber ich dir mit der Zeit in meinen Briefen über die Schweiz Erläuterung geben werde, ziemlich zum Vorteil des Schwaben ab. Aber in den Städten machen die mehrern Kirchen und Klöster nebst obigen Ursachen auf Seite der Katholiken und die große Aufklärung auf Seite der reformierten Schweizer einigen Unterscheid, welcher aber noch außer der Religion durch eine Menge andre Ursachen unendlich vergrößert wird.

In Frankreich, in den östreichischen Niederlanden und verschiedenen italienischen Staaten sieht man offenbar, daß die Religion an und für sich selbst dem politischen Leben eines Volkes eben nicht sehr gefährlich ist und daß sich Industrie und Aufklärung mit einer starken Dosis Aberglauben und Möncherei so gewiß vertragen können, als der Ritter aus der Mancha außer dem Kreis seiner Donquichotterie ein kluger und brauchbarer Mann sein konnte. Die Religion ist also hier nicht so sehr die wirkende als vielmehr die gelegenheitliche Ursache, und es hängt von den Lokalumständen ab, warum der deutsche Katholik nicht so aufgelegt zur Industrie ist als z. B. der Franzose oder Genueser.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Briefe eines reisenden Franzosen über Deutschland.