Zwanzigster Brief. - Paris, Freitag, den 24. Dezember 1830. - Das war wieder eine merkwürdige Pariser Woche! Aber Sie in Frankfurt, wenn Sie nur die Zeitungen gelesen, wissen nicht weniger davon als ich hier; ...

Zwanzigster Brief. - Paris, Freitag, den 24. Dezember 1830

Das war wieder eine merkwürdige Pariser Woche! Aber Sie in Frankfurt, wenn Sie nur die Zeitungen gelesen, wissen nicht weniger davon als ich hier; denn ich habe gar nichts selbst gesehen. Seit dem vorigen Samstag habe ich wegen meines dicken Gesichts das Zimmer nicht verlassen, und erst gestern abend war ich zum erstenmal wieder aus. Ist das nicht ein einziger Ort, in dem man mitten in einem Volksaufruhr, umringt von einem Lager von mehr als vierzigtausend Soldaten, so still und so einsam leben kann wie auf dem Lande? Jetzt ist alles vorüber. Wollen Sie genau wissen, was eigentlich der Kampf dieser Tage für eine Bedeutung gehabt, und genauer als es irgendein europäisches Kabinett von seinem Gesandten erfahren wird? Es war ein Kampf zwischen der alten klassischen und der neuen romantischen Partei in der Politik, und letztere, die schwächste, weil sie die jüngste und unerfahrenste ist, unterlag. Die romantische Partei will individuelle Freiheit, die klassische nur nationelle haben. Wenn sie von Karlisten lesen, glauben Sie kein Wort davon. Natürlich haben diese den Zwiespalt benutzt, aber angestiftet haben sie ihn sicher nicht. Aber wie schade, daß ich diese schöne Oper nicht mit angesehen. Vierzigtausend Mann Nationalgarden, wie Riesenbesen die Straßen säubernd, und so unverletzend wie diese; denn es ist kein Tropfen Blut vergossen worden. Dann nachts bei Wachtfeuer auf der Straße biwakierend; die tobende Menge, der König selbst patrouillierend, die vereinigten Studenten, über fünftausend, umherziehend und Ruhe und Ordnung schreiend – welche Szenen! Das einzige an der Sache ist romantisch schön, daß die Minister nicht am Leben bestraft worden. Das wird freilich die Despoten in Lissabon, Mailand und Petersburg nicht abhalten, ihre wehrlosen Gefangenen zu morden; aber das wird doch der Welt zeigen, daß Völker edler sind als Fürsten. Gestern Abend dachte ich noch nicht daran, auszugehen, ich wollte es erst heute; da sah ich zufällig durch die Spalte des Fensterladens und bemerkte etwas ungewöhnlich Helles. Ich öffnete den Laden und sah zu meiner Überraschung, daß das gegenüberstehende Haus illuminiert war. Da zog ich mich schnell an, ließ einen Wagen kommen und fuhr eine Stunde lang in der Stadt herum. Viele Häuser waren illuminiert, teils aus Freude, daß die Ruhe wiederhergestellt, teil zur Ehre des Königs, der, noch spät von einer Revue der Nationalgarde zurückkehrend, zu Pferde die Straßen durchzog. Er hatte von gestern mittag bis gestern abend neun Uhr alle Quartiere der Stadt besucht und in jedem Quartier die Nationalgarden gemustert. Über den König ist nur eine Stimme. Alle Parteien (natürlich nur die Karlisten nicht) lieben ihn. Auch ist er ganz, wie die Franzosen einen König lieben und brauchen. Er ist ein Bürgerkönig. Zwar ist er das aufrichtig, und so viel aus Temperament und Gesinnung als aus Politik; aber dabei ist er es auch zugleich theatralisch. Er spricht gut, leicht, von Herzen, aber doch mit Pathos und Gebärden, wie man es hier gern hat. Es ist so leicht, ein guter König sein, und es kostet die Fürsten viel größere Anstrengung, sich verhaßt zu machen bei ihren Untertanen, als es sie kosten würde, ihre Liebe zu erwerben! ... Der einzige schöne Charakter der neuesten Zeit ist und bleibt doch Lafayette. Er ist die altgewordene Schwärmerei, wie sie nie, nicht einmal gemalt worden ist. Er ist bald 80 Jahre alt, hat alle Täuschungen, alle Verrätereien, Heuchelei, Gewalttätigkeit jeder Art erfahren – und noch glaubt er an Tugend, Wahrheit, Freiheit und Recht! Solche Menschen beweisen besser, daß es einen Gott gibt als das Alte und Neue Testament und der Koran zusammen. Noch heute, zwar von vielen geliebt, von allen geachtet, aber auch von allen verkannt, wird er nur von seinen Feinden nicht betrogen, die ihren Haß offen aussprechen; aber von seinen Freunden gebraucht, mißbraucht, getäuscht und oft verspottet. Er ist wie ein Gottesbild im Tempel, in dessen Namen heuchlerische Priester fordern, wonach ihnen selbst gelüstet, und die heimlich das gläubige Volk und seinen Gott auslachen. Er aber geht seinen Weg unveränderlich wie die Sonne und unbekümmert, ob die Guten sein Licht zu guten Handlungen oder die Bösen zu schlechten gebrauchen. Wie lange wird es noch dauern, bis Frankreich Lafayettes würdig ist! Aber es wird einmal kommen. Er erscheint mir wie die Mauer einer neu zu gründenden Stadt, die man rundumher gezogen, und inwendig ist noch alles öde, und kein Haus ist gebaut.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Briefe aus Paris.