Siebenundvierzigster Brief. - Paris, Montag den 14ten Junius. – Gestern habe ich einmal Ruhetag gehalten, daß heißt, keine Handschriften gelesen. ...

Paris, Montag den 14ten Junius. – Gestern habe ich einmal Ruhetag gehalten, daß heißt, keine Handschriften gelesen. Nach Beendigung der an Dich und Frau von B. gerichteten Briefe, sah ich einige der vielen Prozessionen, welche an diesem Tage die Stadt durchzogen. Sie machten einen weit bessern Eindruck, als jene früheren in der Kirche. Denn, abgesehen von den Trommeln (die überall ein Gräul für meine Ohren sind), darf alles im Freien einen etwas veränderten Charakter annehmen, und nimmt ihn an. Dieser Charakter war diesmal wesentlich ein heiterer, wie es die Jahreszeit erlaubte. Auf dem Markte S. Honoré z. B. waren alle Buden mit weißen Tüchern behangen und auf diesen Blumensträuße oder Kränze befestigt. Jeder Theilnehmende trug Blumen in der Hand, die Soldaten hatten sie (ein schönes Sinnbild des neuen Fridens, den das Christenthum in die Welt brachte oder bringen sollte) in die Flintenläufe gesteckt, der Markt selbst war mit zerschnittenem Grase bestreut, und Frauen, die zwischen der Prozession einhergingen, fast möchte man sagen tanzten, warfen Rosenblätter mit vollen Händen hoch in die Luft. Am reichsten waren die Altäre geschmückt, welche man an verschiedenen Stellen errichtet hatte. Es fiel mir gar nicht ein puritanisch zu fragen, wo und wie etwa Aberglauben mit im Spiele sey; es kam mir alles so natürlich und menschlich vor, und von allen den Einwendungen, die sich mir schon öfter in den Kirchen unabweislich aufdrängten, wäre bei diesem Volksfeste keine einzige an der rechten Stelle gewesen. Gern hätte ich auch noch den König selbst in der einen Prozession gesehen, aber ich kam zu spät und mußte dann, einer Abrede mit L. gemäß, zu früh aufbrechen. Den Plan, nach S. Germain zu fahren, vereitelte das noch immerwährend ungünstige Wetter. Wir gingen deshalb durch die nördlichen innern Boulevards bis zum botanischen Garten, sahen Pflanzen und Thiere und fuhren dann durch die äußern Boulevards bis zum Marsfelde und vor den Invaliden vorbei nach Hause. Dieser Rand der Stadtmauer hat einen eigenthümlichen Charakter, und es ist mir lieb daß ich einen Theil desselben fast zufällig umkreiset habe. Das übertriebene System der Besteuerung zeigt sich recht deutlich, indem fast Haus bei Haus vor den Thoren eine Weinschenke ist, die mit den einladendsten Versprechungen die Vorübergehenden anlockt.

Nach beendeter Fahrt aß ich bei L. Wir streiten oft miteinander, wo er gewöhnlich das Französische vertheidigt und ich das Deutsche vertrete. So z. B lobte er mit Recht die Sicherheit und Ordnung, welche durch die bürgerlichen Gesetze bei Abschließung der Ehen eingeführt ist, meinte aber, daß die Einwirkung der Juristen und der Begriff des Vertrages hier, wie bei andern Dingen, ausreiche. Ich bestritt dies und behauptete: zu dem physischen und rechtlichen Elemente müsse das dritte, religiöse, hinzutreten, denn es könne jemand thun was die Gesetze billigen, und doch höhere Vorschriften übertreten und gegen Frau und Kinder sehr lieblos verfahren. Das Landrecht und der Code bedürften einer evangelisch-christlichen Verklärung. — Die Sitten haben sich in Frankreich wesentlich in der Hinsicht gebessert, daß die Jugend im Ganzen und Großen Verführung der Weiber und Mädchen, nicht mehr als Gegenstand der vorzüglichsten Thätigkeit betrachtet und das Strafwürdige nicht mehr zur Ehre gerechnet wird; doch fehlt es nicht an einzelnen Beispielen des verbrecherischen Leichtsinns. Ein Baron kehrte z. B. vor einigen Wochen schneller von einer Reise zurück, als man erwartete, findet Kammerjungfer und Frau in großer Bestürzung, schöpft Verdacht und entdeckt den unterm Sopha versteckten Liebhaber. Ohne sich um diesen zu kümmern, nimmt er seine Reitpeitsche und straft damit die schuldige Frau aufs nachdrücklichste, ohne daß jener Versteckte eine weitere Rolle übernimmt. Dann geht er fort, damit dieser sich entferne, und wirft die Frau nächstdem zum Hause hinaus, welche, von ihren Ältern ebenfalls verstoßen, in ein Kloster gegangen ist. Der Bankier — heirathete eine Frau, welche ihm außer der Treue noch besondere Dankbarkeit schuldig war, weil sie aus unangenehmen und beschränkten Verhältnissen in sehr günstige trat. Er entdeckt dennoch daß sie von jemand Liebesbriefe empfängt, verzeiht indeß den Leichtsinn unter dem Versprechen der Besserung. Bald darauf erhält er Grund zu neuem Verdacht, ohne der Beweise mächtig zu werden. Unwillig aber die sündhafte Frau behalten zu müssen, läßt er sie geuauer beobachten, und es wird ihm berichtet: sie sey in einem Fiaker weggefahren und habe einen jungen Mann zu sich in den Wagen genommen. Er folgt, mit dem Bruder der Frau, gewissen Zeichen und beide finden den Wagen in einer abgelegenen Allee der Champs élisées ohne Kutscher und zugleich mehr als zureichende Beweise der neuen Schuld. Der Liebhaber wird aus dem Wagen geworfen und die Frau zu ihren Ältern geführt, welche aber (strengen Sinnes) diese Schwester nicht zu den jüngern führen wollen, sondern ihre Thür verschließen, so daß auch sie in einem Kloster Zuflucht sucht. Zwischen ... und dem Verführer ist es zu einem Duell gekommen, und jener hat diesen vor wenig Tagen erschossen. Beide Geschichten machen natürlich großes Aufsehen, und werden manche Leichtsinnige von der verwerflichen Bahn zurückschrecken.


Ein anderer Streitpunkt zwischen mir und L. war die Jury, oder vielmehr nicht dieselbe ihrem Wesen nach, sondern nur gewisse Mängel und Auswüchse derselben. Das Gesetz sagt z. B.: wer wegen eines Gegenstandes von den Geschwornen losgesprochen worden ist, kann darüber nicht wieder in Anspruch genommen werden, denn die Jury ist omnipotent und infaillible. Ganz richtig, wenn dies heißt: diese Form des peinlichen Verfahrens erlaubt nicht, mehrere Instanzen über einander zu bauen. Ob dies ein Vortheil oder Nachtheil sey, wollen wir jetzt nicht untersuchen. Jene Allmacht und Unfehlbarkeit aber festhalten zu wollen, wenn ganz neue Thatsachen und Beweise entdeckt werden, ist nicht Folge und Ausfluß des wahren Wesens der Jury, sondern ein Mangel in den gesetzlichen Bestimmungen, der gehoben werden kann und soll. Der Hauptmörder Couriers z. B. ist früher aus Mangel an Beweisen frei gesprochen worden; jetzt finden sich diese Beweise, aber der Buchstabe (welcher den Geist tödtet) sagt: er kann nicht wieder in Anspruch genommen werden, er ist und bleibt straflos. Wenn also umgekehrt jemand verurtheilt wäre, und nachher fanden sich Beweise seiner völligen Unschuld, müßte ihm auch zum Beweise der Allmacht und Unfehlbarkeit der Jury das Haupt abgeschlagen werden! Ist das nicht klarer Unsinn? Wo eine Form die Ausübung und Handhabung der wahren Gerechtigkeit unmöglich macht, kann und soll sie geändert und gebessert werden. So bleibt es Regel, daß das Geschwornengericht keine Mehrung der Instanzen zuläßt; wenn aber eine scheinbar abgethane Sache auf irgend eine Weise sich wesentlich in eine neue verwandelt, ist sie eben nicht abgethan, sondern eigentlich erst zum ersten Male zu prüfen und abzuurtheilen. Die Jury, sagen Einige, ist eine so herrliche Einrichtung, daß nichts darauf ankömmt, ob einmal ein Mörder unter ehrlichen Leuten ungestraft einhergeht. Ich sage: die Jury ist eine so herrliche Einrichtung, daß dies unmöglich erscheint, sobald man ihr Wesen nicht in gewisse Zufälligkeiten setzt und diese für unabänderlich erklärt.