Mittwoch, den 23sten Junius. – Gestern war ich im Theater Madame ... Das jammervolle Singen abgerechnet ... verdiente die Darstellung Lob, und manches war geradezu vortrefflich; ...

Mittwoch, den 23sten Junius. – Gestern war ich im Theater Madame (welches heut auf längere Zeit geschlossen wird) und sah le vieux mari, Philippe, la deuxième année, drei Vaudevilles von Scribe und Melleville. Das jammervolle Singen abgerechnet (womit selbst der vieux mari nicht verschont ward), verdiente die Darstellung Lob, und manches war geradezu vortrefflich; so z. B. Gontier in den letzten beiden Stücken. Auch Allan, Leontine Fay, Grevedon, Paul u. a. müsste ich nennen, hätte ich überhaupt Zeit, in eine nähere theatralische Kritik einzugehen. Bezöge sich diese hingegen auf die Stücke selbst, so wäre Erheblicheres einzuwenden, ob ich gleich die große Gewandheit der Verfasser für diese Tageskocherei einräume und die ganze Form des Vaudevilles heut nicht in Anspruch nehmen will. Le vieux mari beruht darauf, daß ein junger Mann die Rolle seines Onkels übernimmt, mit ihm verwechselt wird und für ihn heirathet. In Wahrheit unmöglich, aber man läßt sich diese Fiktion gefallen, der Scherz bleibt in den Gränzen des Erlaubten und endet zu allgemeiner Zufriedenheit. — Philippe, von dem ich wohl schon schrieb, hat herbere Bestandtheile, tiefere Mißverständnisse, doch solcher Art, daß sie für die Tragödie wohl nicht poetisch genug und für das Lustspiel zu ernst sind. Am schärfsten muß ich mich gegen das dritte Stück erklären, wo zwei Neuvermählte sich in Sünden mancherlei Art umtreiben und die, auch auf dem Titel stehende Frage: qui a la faute? als Ausgleichung und wechselseitige Genugthuung dienen und hinreichen soll. Ich weiß, daß dergleichen nur zu häufig vorkommt, will auch nicht den Sittenrichter spielen; aber ich kann es nicht für eine Aufgabe des Dramas halten, dergleichen Dinge vorzuführen. Daß sich Mann und Frau belügen und betrügen und der Hausfreund den dritten dazu abgiebt, sind Erscheinungen, die außerhalb der Poesie liegen; sie können in diese Region nur einrücken, wenn sie durch die Kraft großer Leidenschaften zur Tragödie erhoben, die letzten aber dann auch gereinigt werden. Oder umgekehrt: der Scherz muß so heiter, die Verwickelung so lustig, die Verirrung so gutmüthig seyn, daß eben alles in diesem klaren Elemente sich wechselseitig ebenfalls reinigt, aufklärt und ausgleicht. Eine bloß prosaische Gegenrechnung über die Verschuldungen und ein Ausschließen der sittlichen Grundlage ist verwerflich, und Kotzebue's süße Brühe, über das Unrecht gegossen, macht dasselbe so wenig zu wahrhaft nährender Speise, als die Art wie Seribe es mit Gewürznelken spickt und vorsetzt. Warum sollen denn alle diese Geschichten (ohne poetische Erfindung und Kraft) dramatisirt werden? Aber die in Rede stehende beruht auf einem pariser Skandale, man nennt Mann und Frau und Hausfreund, welche auf die Bretter gebracht sind, und so ward die Sache doppelt pikant. Vielleicht wäre ich indeß gar nicht in diese Reihe von Betrachtungen gerathen, hätte sich mir gestern nicht die Verschiedenheit des deutschen und französischen Charakters so unabweislich aufgedrängt. In Philippe würde den Deutschen das Verhältniß von Vater, Mutter und Sohn vorzugsweise angeregt, Rührung und Mitleid würden ihn ergriffen haben und mannichmal die Theilnahme bis zu Thränen gesteigert seyn; in der deuxième année dagegen wären ihm die Forderungen der Sittlichkeit, der Werth der Wahrheit, das Widerwärtige des oberflächlichen, ganz leidenschaftslosen Leichtsinns entgegen getreten. — Hier nichts von dem Allem: überall war es nur das Sonderbare, Pikante, Lächerliche, Schiefe, was anregte und bemerkt ward. So wie nun der esprit diese Dinge erzeugt und seine Pointen (schlecht genug) sogar absingen läßt, so urtheilt auch das Publikum nur mit, durch und für den esprit; von dem, was wir Gemüth und gemüthlich nennen, bemerkte ich nichts in dem theilnehmenden Parterre. Nun, suum cuique! Ich fühlte, ich sey ein Deutscher ohne esprit, daher meine Nergelei mit den Stücken und Zuhörern.

Eine Geschichte, besser als die der deuxiéme année, und in mancher Beziehung gewiß brauchbarer für Erzählung oder Darstellung, hörte ich von L. in diesen Tagen.


In der argen Zeit der Revolution entflieht ein reicher vornehmer Mann mit seiner schwangeren Frau. Sie kommt in der Gegend von Hannover mit einer Tochter nieder und stirbt. Der Vater muß weiter eilen, übergiebt das Kind einem Prediger und verspricht es abzuholen so bald, oder doch Geld zu schicken so viel er kann. Beides wird ihm durch die Verhältnisse unmöglich, und er erhält nach einigen Jahren vom Prediger die Nachricht, das Kind sey gestorben. Seitdem vergehen mehr als zwanzig Jahre, der Vater kehrt mit dem Könige nach Frankreich zurück und erhält als Emigrirter eine bedeutende Entschädigung. Etwa ein halb Jahr darauf wird er vom hannöverschen Gesandten eingeladen, der nach langen Fragen über seine frühere Lage, Aufenthalt, Verwandten u. s. w. ihm sagt: seine Tochter lebe noch in Deutschland, sey verheirathet und nehme seine väterliche Hülfe in Anspruch. Der Prediger nämlich habe sich so an das Kind gewöhnt, daß er den Gebanken einer Trennung nicht mehr habe ertragen können. Das Schweigen, die Entfernung, die Hülflosigkeit des wahren Vaters habe ihn glauben lassen, er dürfe mit den Vaterpflichten auch wohl Vaterrechte übernehmen, den Tod vorgeben, das Mädchen aber sorgfältig erziehen und verheirathen. Auf dem Sterbebette erst habe er dies einem Freunde entdeckt, welcher jetzt (ohne Mitwissen der Tochter) nach dem Vater forsche. Diesem erscheint die Erzählung aus mehrern Gründen fabelhaft, und er betrachtet sie nur als eine ungeschickte Spekulation auf sein neugewonnenes Vermögen. Doch läßt er sich zu einer Reise nach Deutschland bewegen, um den Betrug zu widerlegen. Er versteht kein Wort deutsch, Freund und Tochter kein Wort französisch. Kaum aber ist er in das Zimmer getreten, so erinnert ihn Gestalt, Gesicht und Haltung so lebhaft an seine verstorbene Frau, ja der Ton der Stimme ist, selbst in der fremden, ihm unverständlichen Sprache, so ganz der ihre daß er, keines Zweifels oder Beweises mehr gedenkend, der Frau um den Hals fällt und kaum Worte und Zeichen finden kann, sich als Vater kund zu geben. Binnen wenig Tagen hatten Vater und Tochter sich eine Sprache gebildet, die kein Dritter, worin sie sich aber selbst verstanden. — Ich finde diese Geschichte überaus schön und rührend, möchte sie euch auch so erscheinen.