Fünfundvierzigster Brief. - An Frau von B. Paris, den 11ten Junius 1830. - Gespräche über Politik konnten ... in dieser Gesellschaft bei herannahenden Wahlen nicht fehlen, und um so weniger, ...

An Frau von B. Paris, den 11ten Junius 1830. - Gespräche über Politik konnten (obgleich in jeder Partei fast alles als abgemacht und fertig dasteht und betrachtet wird) in dieser Gesellschaft bei herannahenden Wahlen nicht fehlen, und um so weniger, da Hr. G. in diesen Tagen selbst nach L. abreiset, hoffend, noch leichter als das vorige Mal obzusiegen. Man rechnete, die liberale Partei werde etwa an 40 Stimmen gewinnen, war aber getheilter Meinung, ob das Ministerium fallen und der König nachgeben werde oder nicht. Die Heftigern sagten nein; andere behaupteten das Gegentheil, mit Rücksicht auf die Macht der Verhältnisse, und auch wohl durch den Wunsch bestimmt, daß es nicht zum Äußersten komme. Die Mittel, welche das Ministerium anwendet um sich zu stärken, wirken nicht selten im entgegengesetzten Sinne, so z. B. die Kreisschreiben an die Beamten, welche alle Freiheit des eigenen Entschlusses, im Widerspruch mit dem Grundgedanken einer repräsentativen Verfassung, aufheben und durch Hülfe der tyranmsirten Verwaltung alle Controlle derselben vereiteln wollen. Allerdings kommt es hiebei hin und wieder zu einer Collision der Pflichten des Beamten und des Wählers; aber jenes Verfahren löset den Knoten nicht, sondern zerschneidet ihn, und veranlaßt die Beamten zu der Berechnung: ob nicht bloß die Ehre, sondern auch der Eigennutz fordere, wider ein Ministerium zu stimmen, dem der Tod bevorsteht, um sich bei dem künftigen beliebt zu machen. Eben so verkehrt sind die Maaßregeln gegen die 221 Deputieren, welche für die Adresse stimmten. Pariser Befehle an die Präfekten trieben z. B. in Angers die Sachen auf eine solche Höhe, daß sich der Maire selbst vor die Bürger hinstellte, um den Präfekten vom Schießen auf jene abzuschrecken. Alle diese unnützen Verbote und Polizeimaaßregeln treiben erst die Neigung hervor, sich nicht beschränken zu lassen, sondern entgegen zu gehen, zu rufen, zu singen u. s. w. — Ich überzeuge mich täglich mehr, daß Frankreich nie zu einer geordneten, wahren Freiheit kommen kann, so lange man 1) den Begriff der Verfassung ganz in dem der Reichsverfassung für erschöpft hält, und Einrichtungen in Landschaften, Städten und Dörfern, angemessene politische Erziehung, Thätigkeit und Mitwirkung in kleinern und niedern Kreisen überflüssig oder gar thöricht nennt; 2) so lange die Verwaltung tyrannisirt und tyrannisirt wird. Jene erste Wahrheit haben die jetzigen Liberalen (den frühern widersprechend) eingesehen; die letzte ist ihnen noch verborgen, aus Gründen, die ich schon oft berührt habe. Allein mit jedem Tage müssen auch hier die rechten Standpunkte in helleres Licht treten, und wie eine freie Verfassung mit einer willkürlichen Verwaltung eben ein Unding ist und nicht zum Ziele- führt. Den verkehrten Einwand: eine Verwaltung mit unabsetzbaren Beamten sey eine ungehorsame, anarchische, brauche ich nicht zu widerlegen, wenn ich nach Potsdam schreibe. Ich behauptete in frühern Briefen: ganz Frankreich wolle die Charte; dies scheint mit dem im Widerspruch zu stehen, was ich in meiner Schrift über die Städteordnung drucken ließ, und ich erkläre mich deshalb deutlicher. Mit Ausnahme weniger Leidenschaftlichen, halten es alle Franzosen für unerlaubt und unheilbringend, daß Hr. Polignac und Hr. Peyronnet unter königlicher Firma, oder königlichem Eigensinn nachgebend, die Charte vernichten und ihre Willkür an die Stelle setzen. Bei einer ruhigen Anerkenntniß der Charte würden sich dagegen die verschiedenen Ansichten über dieselbe und der Wunsch nach Abänderungen bald kund thun. So z. B. sind die Adeligen, welche nicht in die Pairie rückten, über völlige Vernichtung ihrer ehemaligen Vorzüge unzufrieden, und die Geldaristokratie der 80—100,000 Wähler ist vielen Ausgeschlossenen ein Anstoß, worüber sie aber schweigen, weil, für sie keine Hoffnung des Einrückens, wohl aber die Furcht vorhanden ist: alles Wählen und Gewahltwerden möchte ein Ende nehmen. Ein aristokratisches Ministerium dürfte leicht die Adeligen gewinnen, aber schwerlich je etwas Allgemeines für sie durchsetzen; ein mehr demokratisches vielleicht obsiegen, aber schwerlich viel Nutzbares erreichen, wenn anders die oben getadelte Rücksicht auf die Reichsverfassung ausschließlich festgehalten würde.