Paris, Freitags den 4ten Junius 1830. - In der Politik haben sich die Leute so ausgesprochen, daß erst nach den neuen Wahlen ein frischer Ansatz erfolgen wird. ...

In der Politik haben sich die Leute so ausgesprochen, daß erst nach den neuen Wahlen ein frischer Ansatz erfolgen wird. Jetzt möchte jeder die Zukunft vorherwissen, was aber seine unübersteiglichen Schwierigkeiten behält, weil die Vordersätze, aus denen man folgern soll, nie vollständig sind und die zur Gegenwart werdende Zukunft eben Neues und Unbekanntes bringt und in die Rechnung, sie verändernd, hineinwirft. Wenn die Gegenwart also gewissermaaßen politische Ferien hat, so habe ich sie desto weniger hinsichtlich der Vergangenheit. Ich arbeite mit Lust und sehr großem Fleiße, so lange es Geist und Leib, insbesondere die Augen, ohne Schaden ertragen wollen. Wohlgedruckte Bücher lesen, ist hundertmal bequemer, als den ganzen Tag Handschriften entziffern. Und so muthig ich in der Regel auch minder Anziehendes und schlecht Geschriebenes zur Seite werfe, geht es doch nicht immer an, und das Gewissen bezwingt die leichtsinnige Ungeduld. So quäle ich mich jetzt z. B. mit Gesandtschaftsberichten aus England und Schottland aus den Zeiten der Elisabeth und Maria, die äußerst unleserlich und leider auch unvollständig sind, aber für mich doch großes Interesse haben. Wem kleine Züge und Nebenumstände, Lichter und Schatten gleichgültig sind, wer in der Weltgeschichte nur eine unsinnig weitläufige Anstalt sieht, um ein Paar angeblich philosophische Sätze zu Tage zu fördern, die man auf einen Dreier schreiben kann, der muß meine Anstrengung für thöricht und das Ergebnis für schlechthin nichtig halten. Es ist auch nur gering; ich habe aber nun einmal meine Freude daran, und giebt doch der Philosophus modernus dazu weder Augen noch andere Glieder her. Indeß wird man mit den Philosophen noch eher einig, sie sind immer noch frischer, eigenthümlicher und lebendiger, als manche Historiker, mikrologische Pedanten, welche die ewige Wahrheit zu beherrschen glauben, wenn sie allerhand Flöhe in ihren Hellersack eingefangen haben.

Nach gethaner Arbeit muß der Mensch spazieren, hier recht eigentlich Gassaten gehn. Denn selbst auf den Boulevards sind nicht die Bäume, sondern die Läden Hauptsache, und nur die schönen Tuilerien versetzen in eine Region anderer Gefühle und Genüsse. Das Betrachten der unendlich mannigfaltigen, ausgestellten Waaren macht mir noch immer Vergnügen; auch giebt es für diejenigen Zweige, wo die Mode herrscht, täglich etwas Neues, welches mitunter reizend und schön, mitunter geschmacklos erscheint. Nur soll man den Wechsel an sich nicht anklagen; er ist ja oft nothwendig, er braucht ja nicht zum Schlechten hinzuführen, er kann innerhalb der Kreise des Reizenden und Schönen stattfinden. So wie die geringe Zahl der Buchstaben, der Noten, eine unermeßliche Mannigfaltigkeit von Worten und musikalischen Perioden erzeugt; so ist die Zahl der Formen und Muster für Bänder, Kattune u. s. w. unerschöpflich, und es verdrießt mich daß diese erfreuliche Beweglichkeit, dies Kaleidoskop fast gar nicht bei den Mustern der Shawls angelegt wird, wo form- und bedeutungsloser Krimskrams ein ewiges Reich gegründet zu haben scheint. — Der Unkundige wird hier oft übertheuert; bei einiger Aufmerksamkeit, Nachfragen und Vergleichen, ergiebt sich aber für viele Dinge eine Wohlfeilheit, worüber man in Berlin erstaunen würde.


Gestern wanderte ich nach Tische zu den Boulevards und beschloß, das theatre des variétés zu besuchen. In der Überzeugung, nur das Theatre français sey bisweilen leer, jedes kleinere aber immer überfüllt, fand ich mich um die Zeit ein, wo die Kasse geöffnet ward, und fürchtete das letzte Glied eines langen Schlangenschweifes zu werden. Aber siehe es war kein Mensch da, und zum ersten Male in meinem Leben kaufte ich das erste Parterrbillet, und war der erste im Parterr. Statt wieder hinauszugehen, erkor ich den sichern Eck- und Anlehneplatz auf der ersten Bank, hielt daselbst die Mittagsruhe deren meine Augen bedurften, erblickte aber als ich sie, vom Orchester geweckt, öffnete, eine so wenig zahlreiche Versammlung, daß ich nicht für nöthig hielt meine Stellung zu verändern und sie aus dem römischen ins deutsche oder französische zu übersetzen, d. h. die Beine von der Bank hinwegzuziehen und unter die Bank zu stecken. Man gab zuerst Les habitans des Landes, vaudeville, de M. Sevrin, welches mit so vielem schlechten Singsang begann, daß ich fast davongelaufen wäre, darauf folgten indeß ein Paar sehr ergötzliche Scenen, wo Brunei einen furchtsamen Bedienten spielt, der da glaubt in Afrika zu seyn und sich vor Bauern, die auf Stelzen gehn, und einer jungen Mohrinn so ängstet, daß es ihm am gerathensten scheint, sich tod zu stellen. Diesen roide mort, steif Todten, wusste er auch so trefflich durchzuführen, er ließ sich kollern, aufrichten, Arm und Bein heben und fallen, daß man lachen konnte und nichts Widerwärtiges dazwischen trat. Auf diese Scene war das ganze Stück berechnet, und sonst ein bloßes Nichts. Hierauf folgte Le garde de nuit von Mellesville und Massen, wo ein Prinz Kleidung und Rolle eines Nachtwächters, und dieser die des Prinzen übernimmt, woraus allerhand Missverständnisse und Verwicklungen entstehen. Vernet, der Nachtwächter, spielt den falschen Prinzen recht brav und Lefevre sprach als sächsischer Soldat so gewichtiges Französich, daß ihm die Worte wie pirnaer Sandsteine aus dem Munde fielen, und ich unwillkürlich an das ähnliche Französisch zweier berühmten Männer erinnert wurde, nämlich Wolf’s und Manso’s. Die Weiberrollen sind in allen Stücken dieser Art fast immer unbedeutend, doch schien Md. Herfort nicht ohne Anlagen zu seyn. – Jetzt sollen noch zwei andere Stücke folgen, aber ich hatte um 9 Uhr der Kunstanschauungen genug, verkaufte mein Bittet so daß mir der ganze Spaß nur einen Franken kostete, und ging noch zu Miß CL, wo ich die gewöhnliche Gesellschaft fand. - - -