Dreißig Jahre früher, an jenem denkwürdigen 18. Oktober des Jahres 1817

Dreißig Jahre früher, an jenem denkwürdigen 18. Oktober des Jahres 1817, waren die Jenenser und andere Burschenschafter aus den verschiedensten Gauen Deutschlands mit schwarz-rot-goldener Fahne hinaufgezogen zur Wartburg, nicht bloß um vor aller Welt den Zusammenschluß der Deutschen Burschenschaft kundzutun, sondern um Protest einzulegen gegen die deutsche Entwicklung seit der Gründung des Deutschen Bundes auf dem Wiener Kongreß. Sie hatten für deutsche Einheit, für ein großes deutsches Vaterland gekämpft und fanden bei ihrer Rückkehr aus den Befreiungskriegen das alte Elend politischer Zerrissenheit. Sie hatten den Kreuzzug für höheres Recht gegen politische Knechtschaft mitgekämpft und fanden den nichtigen Kleinkram des rohen Pennalismus wieder. Aus diesem Geiste heraus ist die Gründung der Deutschen Burschenschaft wie das Wartburgfest entstanden.

Als dann in der Epoche der Karlsbader und der Wiener Ministerkonferenzen die Fortbildung des Deutschen Bundes unter die Führung Metternichs kam, wandte sich allerdings, was Herz und Sinn für politische Freiheit hatte, vom Bund und dem Bundestage hinweg der Verfassung des heimischen Staates, dem Bollwerke der Volksrechte, zu. So oft der Deutsche das Vertrauen in die Reichs- und Bundesgewalt einbüßte, zog er sich in das engere Haus seines Stammes oder seines Territorialfürstentums zurück. In Bayern wurden eine Weile nicht bloß die Altbayern, sondern selbst die Neubayern partikularistisch. „Wehe uns, wenn unseren deutschen Staatenbund der Geist eines Völkerstaates beschliche, gelüstend nach einer wirklichen Staatsgewalt,“ schrieb der Würzburger liberale Staatsrechtslehrer Joseph Behr.


Aber die Trägerin der deutschen Einheitsbewegung, die allgemeine Deutsche Burschenschaft, lebte trotz aller Verfolgungen fort. Mit ihr der deutsche Staatsgedanke. Seit den dreißiger Jahren, seit der Erneuerung und Verschärfung der Karlsbader Beschlüsse unter Zustimmung desselben Königs Ludwig I., der im Jahre 1819 durch seine Vorstellungen bewirkt hatte, daß die Karlsbader Beschlüsse für Bayern nicht oder nur mit einem Vorbehalte publiziert wurden, drängte sich allen freiheitlich Gesinnten die Überzeugung auf, kein deutscher Bürger und kein deutscher Staat sei gegen Vergewaltigung gesichert, falls die Bundesverfassung nicht von Grund aus verändert werde. Fortan ging durch die gemäßigtliberalen oder konstitutionellen wie durch die radikalen oder demokratischen Kreise aller deutschen Staaten die Losung, auch für dieses Ziel, die Umgestaltung der deutschen Bundesverfassung, sich einzusetzen, von Bundes- oder von Reichswegen dem einzelnen wie dem Einzelstaate verfassungsmäßige Bürgschaften ihrer Freiheit zu schaffen. Einheit und Freiheit kamen wieder gleichmäßig zu ihrem Rechte.

Besondere Pflege fand die deutsche Einheits- und Freiheitsbewegung, der deutsche Staatsgedanke in Südwestdeutschland, zunächst in dem Kreise der Herausgeber und Mitarbeiter des ersten deutschen Staatslexikons, des politischen Breviers des vormärzlichen Liberalismus, des späteren Evangeliums der konstituierenden Nationalversammlung. Die Sehnsucht des Vormärz’ nach Einheit und Freiheit, nach Kaiser und Reich, wie sie in den vierziger Jahren die deutsche Volksseele erfüllte, hat aber vielleicht nirgends einen so gefühlsmäßigen, so warmen und zugleich so schmerzlichen Ausdruck gefunden wie in dem altbayerischen Roman „Deutsche Träume“ von Ludwig Steub, in der Geschichte von einem „hoffnungsvollen Jüngling, der einst an seinen Träumen von einem großen Vaterland erlag“, wenn sie auch erst später im Druck erschien.

Die gemäßigten Elemente hofften auf den neuen Preußenkönig Friedrich Wilhelm IV. Preußen sollte der „Zwingherr zur Deutschheit werden“. Schon 1823 hatte der Burschenschafter Friedrich von Gagern, der geistig bedeutendste von den drei Söhnen des Reichsritters Hans von Gagern, in einer Denkschrift „von der Notwendigkeit und den Mitteln, die politische Einheit Deutschlands herzustellen“ mit dem hellsehenden Blicke des Propheten verkündet, daß Preußen berufen sei, Deutschland zu einigen und in dem ersehnten und von ihm umschriebenen deutschen Bundesstaate die Führung zu übernehmen. Der gleiche Gedanke wurde im Jahre 1831 in dem berühmten „Briefwechsel zweier Deutscher“ von Paul Pfizer ausgesprochen: alle Versuche das Heilige Römische Reich zu erneuern seien vergeblich; zwischen Deutschland und Österreichhabe sich eine Kluft geöffnet; dieselben Ereignisse, die diese Kluft geschaffen, hätten Preußen um so enger mit Deutschland verbunden. Der gleiche Gedanke liegt auch der Schrift eines Unbekannten, wahrscheinlich eines Pfälzers, aus dem nämlichen Jahre zugrunde: der Schrift „Deutschland, was es ist und was es werden muß, mit besonderer Rücksicht auf Preußen und Bayern“1), wenngleich sich der Verfasser in Rücksicht auf die Zensur Zurückhaltung auferlegte: Deutschland könne so wie bisher nicht weiter bestehen, ihm könne nur geholfen werden durch Abtrennung von Österreich und Übertragung seiner Leitung an eine andere deutsche Macht — an Preußen. In dieser Epoche der Gründung des Deutschen Zollvereins zeigten sich den Zeitgenossen bereits die Umrisse des preußischdeutschen Nationalstaates, der mit seiner machtvollen Geschlossenheit das größere römisch-deutsche Reich an Lebensbetätigung überbieten sollte. Um freilich seine Mission zu erfüllen, müsse der Staat der Hohenzollern das Gespenst des gefürchteten Preußentums aus Deutschland verscheuchen, das absolutistische Regierungssystem durch ein liberales ersetzen, müsse er nicht bloß in seiner äußeren Macht, sondern auch in seiner inneren Politik, in der Entwicklung seiner Institutionen, dem übrigen Deutschland voranschreiten. Das forderte Paul Pfizer und nicht minder der pfälzische Ano-. nymus 2).

König Friedrich Wilhelm IV., aufgewachsen im Geiste der Romantik, deren Ideal der Staat der Ottonen, Salier und Staufer war, sah in dem österreichischen Kaisertum die Fortsetzung jenes idealisierten römisch-deutschen Kaisertums und vergaß darüber nach dem Urteile der liberalen Kreise die preußischen Traditionen. Ebensowenig war er geneigt und befähigt, die andere Forderung der Vertreter der preußischdeutschen Staatsidee zu erfüllen: die Durchführung eines freiheitlichen Regierungssystems. Er war nicht der Mann, die Zeit „wieder einzurenken“. Das Unmögliche wurde von ihm gefordert, nicht das Unmögliche an sich, wohl aber das, was ihm unmöglich war.

Nunmehr erlebte man, daß ihn dieselben Männer, die ihn beim Regierungsantritte wie einen Messias begrüßt hatten, mit Hohn und Spott begossen. Nun war der Boden für das Jahr 1848 vorbereitet und der Entschluß gereift, von Volkeswegen die deutsche Bewegung in die Hand zu nehmen. Schon forderten zwei Parteiversammlungen im Südwesten des Bundes, eine radikale zu Offenburg, eine gemäßigtliberale zu Heppenheim, die Berufung eines deutschen Parlaments.

Immerhin konnte die Regierung, die wenigstens jetzt der nationalen Bewegung entschlossen und einsichtig entgegen kam, sich noch immer Dank und Popularität, vielleicht auch die führende Rolle sichern. In der Tat schien in letzter Stunde die preußische Regierung einzulenken, schien im Herbste 1847 das Projekt einer Bundesreform von Regierungswegen Wirklichkeit zu werden. General Joseph Maria von Radowitz, damals preußischer Gesandter am badischen Hofe und Militärbevollmächtigter am Bunde, wurde zur Ausarbeitung des Programms einer Bundesreform nach Berlin berufen3). In der großen „Denkschrift über die vom Deutschen Bunde zu ergreifenden Maßregeln“, die er am 20. November 1847 seinem Könige vorlegte, schrieb er die denkwürdigen Worte: „Der König bedarf auf seinen Wegen mehr als je ein anderer Regent des Vertrauens, der Sympathie, ja der Begeisterung seines Volkes. Gegenwärtig, nachdem die politischen und kirchlichen Parteikämpfe das Feld seiner besten und wohlmeinendsten Absichten verwüstet haben, gibt es hiezu nur noch ein Mittel: daß der König sich mit dem besseren Geiste der Nation verbindet, indem er als Vorkämpfer für ihre teuersten Güter und Wünsche herantritt. Der König muß Preußen in und durch Deutschland gewinnen.“

Wiederum ging die kostbarste Zeit verloren. Eine große Tat war auf eine Seele gelegt, die der Tat nicht gewachsen war. Allerdings wurde Radowitz noch im November 1847 nach Wien geschickt, aber nicht mit dem Bundesreformprojekte, sondern mit dem Antrag auf eine internationale Vermittlung in dem Schweizer Bürgerkriege und in der Neuenburger Frage.

So ließ die Bundesreformpolitik des Preußenkönigs der populären Propaganda für den deutschen Staat immer weiteren Vorsprung, bis am 5. Februar 1848 der Abgeordnete Friedrich Daniel Bassermann in der badischen zweiten Kammer seinen Antrag auf Berufung eines Deutschen Parlaments stellte und acht Tage später in einer denkwürdigen Rede begründete, die in allen deutschen Landen Widerhall fand. Und dann kam die von Frankreich her längst erwartete Revolution.




1) Zweibröcken 1831. Druck und Verlag von G. Ritter.
2) Über die Geschichte der preußisch-deutschen Nationalstaatsidee vgl. ganz bes. Meinecke, Weltbürgertum und Nationalstaat (1919)
3) Meinecke, Radowitz und die deutsche Revolution (1913)


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Bayern und Deutschland