Neuwied

Neuwied, 26. Sept.

Ich Weltkind habe nun einen ganzen Tag den frommen Brüdern und Schwestern der Herrnhuter Gemeine zugebracht und denke auch die Nacht in ihrem Schutz recht sanft zu ruhen, denn ich habe mich in dem zur Gemeine gehörenden Gasthofe einquartiert. Neuwied ist übrigens der toleranteste Ort in der Welt; Juden, Mennoniten, Katholiken, Protestanten, alle dienen hier Gott in ihrem eignen Tempel auf die Weise, die sie für die beste halten. Ich glaube sogar, daß man den Türken nicht verwehren würde, sich hier eine Moschee zu erbauen. Doch um alle diese Bewohner Neuwieds habe ich mich weiter nicht bekümmert, denn nur die schöne Lage des sehr hübschen freundlichen Orts und der Wunsch, eine Herrnhuter Gemeine recht in der Nähe zu sehen, zogen mich her.


Die etwas über zwei Stunden lange Fahrt auf Rhein, von Koblenz bis Neuwied, gewährte uns eine nähere Ansicht der Gegend, die uns schon oft von Koblenz aus entzückte. Hier ist alles lachend und freundlich, keine Spur der wilden romantischen Pracht zwischen Bingen und Koblenz; die hohen Felsen bei Andernach und weiterhin stehen wie wachehaltende Riesen in der Ferne, in der Nähe kränzen Rebenhügel und Gerten die Ufer. Der Rhein umflutet eine freundlich angebaute Insel, auf welcher ein Nonnenkloster im Schatten schöner Bäume steht. Mehrere andere Klöster, Dörfer und Flecken schimmern überall am Ufer aus dem Grün der Bäume und Reben. Wendet man den Blick rückwärts, so sieht man Koblenz vom Rhein und der Mosel umarmt, und den stolzen Ehrenbreitstein hoch und kühn sich erheben.

Neuwied selbst macht gleich beim Landen einen sehr freundlichen Eindruck mit seinen breiten reinlichen Straßen und den netten zierlichen Häusern. Auch im Gasthofe der Brüdergemeine gefiel uns höflich treuherzige Empfang unsrer Wirthin und die große Sauberkeit des anständig, wenn gleich ländlich eingerichteten Hauses. Die nächste Umgegend des Ortes ist ziemlich flach, aber dennoch sehr angenehm durch die Nähe des Stroms und die Ansicht der Felsenparthien rings umher.

Da Sie mehrere Herrnhuter Kolonien kennen, so wissen Sie, daß in allen die unverheiratheten Männer, die Mädchen, dieWittwen, einzig mit ihres Gleichen in großen, besonders dazu eingerichteten Gebäuden leben; daß alle, die zu einer dieser Klassen gehören, gemeinschaftlich essen, beten, arbeiten, in großen Sälen schlafen, und so, von der ganzen Welt getrennt, ihr stilles einförmiges Daseyn von einem Tage zum andern hinbringen, ohne selbst mit ihren übrigen Glaubensgenossen in nähere Verhältnisse zu kommen. Ein glücklicher Zufall hatte uns in Koblenz die Bekanntschaft eines der angesehensten Mitglieder der Neuwieder Gemeine verschafft, daher mangelte es uns auch hier nicht an einem geistreichen fachkundigen Führer. Von ihm begleitet, eilten wir nur flüchtig durch das Brüderhaus, um im Schwesternhause etwas länger zu verweilen. Doch zogen uns auch im erstern der Fleiß und die Geschicklichkeit an, mit denen dort unendlich viel nothwendige und bequeme Erfordernisse des Lebens verfertigt werden; vor allen die Arbeiten der Schreiner und Ebenisten wegen ihrer großen Vollendung bis in die kleinsten Theile derselben, und wegen der geschmackvollen Form. In beider Hinsicht werden sie kaum von den Engländern übertroffen.

Im Schwesternhause bewunderten wir die schönen Stickereien und andere feine weibliche Arbeiten, mit denen sowohl die Schwestern, als ihre jungen Zöglinge sich emsig beschäftigen, um uns Weltkinder damit zu schmücken, denn sie selbst tragen dergleichen nie.

Die Gemeine verbindet mit ihrer innern Einrichtuug auch zwei große Erziehungsanstalten für Söhne und Töchter, selbst anderer Religionen.

Wie ich höhre, empfangen hier die Knaben recht gründlichen Unterricht in alten Sprachen und allen vorbereitenden Schulwissenschaften. Die Mädchen erhalten eine zu stiller Thätigkeit und Häuslichkeit stimmende Erziehung. Alle werden mit Liebe und zweckmäßigem Ernste behandelt, müssen sich aber in die Einrichtung der Kolonie streng fügen, so lange sie in ihr leben. Daher erlaubt man ihnen auch während ihres Aufenthalts in Neuwied nie einen Besuch bei ihren Aeltern oder Verwandten, obgleich diesen recht gern gestattet wird, zu den Kindern zu kommen.

Die vielen am Stickrahmen beschäftigten, größtentheils sehr jungen Mädchen sehen allerliebst aus. Zum Unterschied von den Schwestern tragen die Zöglinge zierlich gestickte Häubchen von etwas weltlicher Form mit einer blaßrothen Schleife unter dem Kinn zugebunden, denn hier verstattet die strenge Sitte keinem Lockenköpfchen, sich unverhüllt zu zeigen. Manches blitzende Auge schien mir zwar etwas sehnsüchtig über die Stickerei hinweg in die ferne bunte Welt zu blicken; doch waren alle ganz heiter bei ihrer emsigen Arbeit.

Die kleinen leinwandnen Hauben der Schwestern gefallen mir nicht, alle sind von einer Form, verbergen fast gänzlich das Haar und entstellen wirklich manches hübsche Gesicht. Die Wittwen binden sie mit einem weißen Bande zu, die Frauen mit einem blauen und die Mädchen mit einen rothen. Die ältern unter diesen tragen hochrothes Band, und nur der blühenden Jugend wird die schöne Rosenfarbe verhattet. Ich denke es mir doch als einen traurigen Moment, in welchem das letzte Rosa-Band abgetrennt wird und das inkarnate an dessen Stelle tritt. Wir in der Welt thun diesen Schritt auch, und bei Zeiten, wenn wir vernünftig sind, aber doch nicht so plötzlich, sondern nach und nach, so daß wir ihn selbst kaum bemerken.

Noch weit weniger als die Hauben gefallen mir die Schlafsäle der Herrnhuterinnen, obgleich die Luft darin so rein als möglich ist. Achtzig schneeweiße Betten, in langen Reihen neben und hinter einander dicht zusammen gestellt, gewähren darin einen sonderbaren, aber durchaus nicht behaglichen Anblick. In der Mitte des hohen, weiß getünchten Saals hängt eine große Glocke von der Decke herab, auf deren ersten Ton alles zu Bette gehen und wieder aufstehen muß, um einem neuen Tage entgegen zu gehen der nichts anderes bringt, als was der gestrige brachte.

So geht hier alles nach bestimmten Regeln und Gesetzen, in die jeder ohne Ausnahme sich fügen muß, und die denn doch wohl am Ende den Untergang aller Selbstständigkeit herbeiführen, wenigstens bei schwachen Gemüthern.

Dennoch fühlte ich mich auf eigne rührende Weise von der stillen Ruhe dieser Menschen ergriffen, von ihrer Freundlichkeit, ihrer gemessenen Thätigkeit und besonders von dem familienartigen Verhältniß, in welchem alle gegenseitig zu einander zu stehen scheinen. Auch freute mich ihre hohe Reinlichkeit und Ordnungsliebe im Aeußern.

Ich betrachtete aufmerksam alle die vielen Gesichter der Brüder und Schwestern, in deren Nähe ich heut kam. Auf vielen hatte die Zeit tiefe Furchen gezogen, viele schienen früh gealtert; nirgend sah ich Spuren eines fröhlich genossenen Lebens oder muntere Lust an Scherz und Lachen; aber auch auf keinem Gesicht Spuren herznagenden Grams, wilder ausgetobter Leidenschaft, oder gar jene versteinerte Verzweiflung, die ich früher oft in Klöstern bemerkte. Zwar sehen die Menschen hier eben nicht fröhlich aus, aber doch ruhig zufrieden, und selbst die vielen verblühten Mädchen, die unter ihren jüngern Schwestern herum wandeln, haben bei weitem nicht das abschreckende Ansehen alter Nonnen. Auch bemerkte ich zu meiner großen Freude kein einziges jener süßlich-frommen, scheinheiligen Gesichter, die mir im Grund der Seele zuwider sind.



Die immer rege Thätigkeit der Herrnhuter ist es wohl hauptsächlich, welche sie beim gänzlichen Mangel aller Vergnügungen aufrecht erhält. Arbeit und Gebet ist die ganze Geschichte ihres Lebens, und das Bewußtseyn, daß keine von ihnen in Mangel und Elend versinken kann, verscheucht jede beängstende Sorge daraus.

Viele treiben ein der Kunst sich näherndes Handwerk. So sah ich bei einem Uhrmacher Flötenuhren in einer alles übertreffenden Vollkommenheit, von den ganz großen zum Schmuck für Zimmer und Säle an bis zu den kleinsten in Dosen und Ringen. Ein anderes Mitglied der Gemeine zeigte mir große Mappen voll geistreich und leicht hingezeichneter Abbildungen der schönsten Gegenden und Ruinen am Rhein, die von ihm einzig zu seyner eignen Freude treu nach der Natur kopirt waren, und deren Zahl sich noch täglich mehrt.

So mag denn das Leben hier wohl ganz ruhig und leise weggehen, wenn man sich einmal daran gewöhnt hat, obgleich ich in meinem weltlichen Sinn nicht begreife, wie man dies anfängt.

Shakespears Worte: „Life is as tedious as are twice told tale, vexing the dull ear of a drowsy man“, scheinen mir vor allen auf das Leben eines Herrnhuters passend, daher glaube ich, daß es diesen auch leichter wird, es zu verlassen, als uns Weltkindern, denn alles, was sie von der Zukunft erwarten können, gleicht zu sehr der Vergangenheit, in der viele einander vollkommen ähnliche Tage sich zu Jahren reihten. Warum sollten sie sich also sonderlich sträuben, wenn der letzte erscheint? ich glaube im Gegentheil, sie sterben gern, um doch endlich einmal etwas neues zu erleben.

Von dem Gottesdiensteder Gemeine würde ich gar nichts gesehen haben, wenn es nicht zum Glück einem alten ehrlichen Herrnhuter eingefallen wäre, sich gerade heute begraben zu lassen. Die Taten des guten Mannen beschränkten sich während seines ganzen sechs und siebenzigjährigen Lebens auf nichts, als auf die Verfertigung von Siegellack und englischem Pflaster, deshalb sahen wir aber doch die ganze Gemeine ihm zur letzten Ehre zwischen den weißen kahlen vier Wänden des hohen Betsaales versammelt. Der eisgraue Pfarrer setzte sich ganz bequemlich in einen mächtigen Großvaterstuhl; sein ziemlich unverständlicher, aber gewiß gut gemeinter Vortrag der Lebensgeschichte des Verstorbenen machte indeß auf mich keinen sonderlichen Eindruck, einen desto tiefern der leise harmonische Gesang der Gemeine. Dieser ist das Rührendste, Herzergreifendste, was ich jemals gehört habe, jeder Ton spricht mächtig das Gefühl der reinsten Andacht, der bemüthigsten Ergebung und Gottesverehrung aus. So hat noch keine Kirchenmusik mein heiligstes Gefühl erregt, wie dieser einfache Gesang, und wenn sie noch so herrlich vom hohen Dome wiederhallte.

Nach der Begräbnißfeierlichkeit besuchten wir die höchst angenehmen Umgebungen des freundlichen Ortes. In dem großen schönen Schloßgarten erfreute uns besonders die Ansicht der prächtigen Felsen, an deren Fuß gegenüber am Rhein Andernach liegt, auch das sehr hübsche Lustschloß Mon-repos erblickten wir, mäßig entfernt, in einer sehr reizenden Lage.

Den Abend brachten wir im Hause unsers Herrnhuter Gastfreundes am Theetisch zu, wo sich ein kleiner Kreis seyner Freunde gesammelt hatte.

Ich kann Ihnen nicht sagen, wie wunderbar mir diese Gesellschaft geistreicher Menschen an diesem Orte erschien, wo ich in der Tat nichts Aehnliches vermutet hätte. Wenn ich vor mich hinsah und dem lebhaften Gespräch über Kunst und Literatur teilnehmend folgte, so glaubte ich mich mitten in Weimar und in einem unsrer angenehmsten Zirkel zu seyn; blickte ich auf und sah neben mir die herrnhutischen Gestalten, so meinte ich zu träumen. Besonders schwer ward es mir, die feine Bildung, die Sitte und den geselligen Ton der Frauen mit ihrer altmodischen einfachen Kleidung und dem häßlichen leinenen Häubchen zu vereinen.

Mit einer mir ganz unerwarteten Liberalitat erlaubte man mir, meine Meinung über alles, was ich in Neuwied gesehen hatte, zu äußern, und suchte sie hin und wieder zu berichtigen, so daß ich zuletzt einsah, es sei hier, wie überall, viel Gutes neben manchem Mißbrauch zu finden, der wohl hauptsächlich aus der Individualität Einzelner entsteht. Nur über zwei Punkte konnten wir durchaus nicht einig werden, über den unbedingten Gehorsam, mit welchem jeder Herrnhuter seyn Haus, seyn Vaterland verlassen muß, um als Missionar in die Wüsten Afrikas zu ziehen, wenn ihn die Obern dazu vor allen für tüchtig erklären, und über das Loos, welches hier bei den Heiraten eine so entscheidende Stimme hat. Mit letzterm ist es zwar nicht ganz so arg, wie ich es mir gedacht hatte, aber doch noch immer fürchterlich genug. Denn wenn gleich niemand dadurch zu einer Heirath gezwungen werden kann, so vermag es doch, zwei Menschen, die sich lieben, zu trennen, ohne daß andere Hindernisse ihrer Verbindung entgegenstehen. Vergebens wandte man mir ein, das eine ungleiche Ehe in der Gemeine zu den höchst seltenen, fast beispiellosen Fällen gehört. Das ächte, wahre Unglück zeigt sich nicht an den Straßen, und wer vermag es, in das innere der Gemüther zu dringen, wo es oft verzehrend wohnt, wenn auch keine Klage es verrät! Auch glaube ich nicht, was behauptet ward, daß die höchst eingezogene Lebensweise der jungen Männer und Mädchen, die fast ganzliche Unmöglichkeit irgend einer Annäherung von beiden Teilen, jeder leidenschaftlichen Liebe vorbeuge. So wie ich die Menschen kenne, muß ich glauben, daß gerade diese unübersteiglichen Hindernisse ein Fünkchen Liebe zur höchsten Glut entflammen; kurz, nichts vermag, mich mit dem Gange einer Herrnhuter Liebesgeschichte zu versöhnen.

Denken Sie sich, lieber Freund, Sie wären ein Herrnhuter und liebten ein Mädchen, das Sie freilich nur im Bethause gesehen haben. Einen Versuch, Ihre Auserkohrne zu sprechen, oder vielleicht gar sie mit Ihren Wünschen bekannt zu machen, dürfen Sie je nicht wagen; bewahre Gott, das wäre ein unverzeihliches Vergehen; nein, Sie wandeln dafür hübsch bedächtig zu den Vorstehern, und erklären diesen auf die gelassenste Weise von der Welt, wie sie gesonnen wären zu heirathen, und daß eine christliche Verbindung mit der bewußten jungen Person Ihnen als die angemessenste erscheine. Die Vorsteher forschen nach dieser Erklärung, wie es mit Ihrem Vermögen und sonstigen Zuständen sich verhalte, und schicken Sie darauf einstweilen wieder nach Hause, mit dem Versprechen, Ihr Anbringen reiflich zu überlegen. Während Sie nun zwischen Furcht und Hoffnung bei dem entscheidendsten Schritt Ihres Lebens ganz passiv dasitzen müssen, suchen die Vorsteher die Persönlichkeit Ihrer Geliebten und deren übrige Verhältnisse zu erkunden; überlegen bedächtig, ob eine Verbindung zwischen Ihnen und ihr zu beider Heil wünschenswerth wäre, und wenn sie darüber einig sind, tragen sie zuletzt dem Heiland diese Angelegenheit im Gebet zur endlichen Entscheidung vor. Nach diesem wird das Loos geworfen, ein wahres Gottesurtheil, fällt es verneinend, so wird Ihnen ihr unabwendbares Schicksal verkündet, Sie müssen sich darein fügen, oder werden als ein Widerspenstiger aus der Gemeine verstoßen. Im Fall aber, daß das Loos mit Ihrem Wunsch übereinstimmt, erfahren zuerst die Aeltern des Mädchens Ihren Antrag, und wenn diese nichts dagegen haben, wird dem Mädchen erst der Wille des Herrn verkündet, darauf mit Erlaubniß der Aeltern eine Zusammenkunft zwischen ihnen beiden veranstaltet, und das übrige finden sich her nach, wie in der übrigen Welt. Ein Glück ist es nur noch, daß den Mädchen erlaubt ist, dem Willen des Heilandes in diesem Fall nicht immer Folge zu leisten. Sie dürfen Nein sagen, und immer wieder Nein bei allen solgenden Anwerbungen, ohne deshalb zum inkarnaten Bande auf Lebenszeit verurteilt zu werden, und es abwarten, ob nicht endlich einer kommt, den sie lieben zu können glauben.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Ausflucht an den Rhein von Johanna Schopenhauer