Eine Erinnerung an Gontscharow.

Ich sehe mich wieder auf den sandigen Dünen im livländischen Badeorte Dubbeln.

Träumerisch schaue ich in die Fluten, die in mir die Sehnsucht nach der Ferne, nach der endlosen Ferne wecken.


Plötzlich zucke ich auf.

Es hatte mir jemand leise, leise auf die Schulter geklopft.

Ich wandte mich. Ein alter Mann mit einem grundgütigen Gesicht lächelte mir zu — der Dichter Gontscharow. Ich glaubte, dass ich vor Ehrfurcht ins Wasser versinken musste. Betrachteten wir Kinder und auch die Großen den damals — ich glaube 1881 — in Dubbeln zu Gaste weilenden Dichter wie einen leibhaftigen Gott, und beglückt war schon der, dem er den Gruß freundlich erwiderte. Und derselbe vergötterte Mann stand nun vor mir, lächelte mich an, sprach mit mir! Aber bald wich meine scheue Ehrfurcht vor der wohlwollenden warmen Güte des Dichters, und in frischen Strömen ergoss sich die Rede des Knaben, der von weiten, weiten Welten träumte. Das schlug im Herzen Gontscharows verwandte Töne an, denn jahrelang hatte er die bekannte Welt von Ost nach West, von Nord nach Süd durchzogen, und fröhlich erzählte er nun dem gespannt horchenden Kinde von dem mächtigen Leben auf den Meeren und auf den Bergen, von der Unermesslichkeit der Wüsten und Steppen, von dem Rasseln und Toben der Städte. Und fast allabendlich, wenn die Sonne ihr glühendes Antlitz im Schoße der Mutter See barg, erneuerte sich fortab das Plauderstündchen zwischen dem großen Dichter und dem kleinen Gymnasiasten. Wie ich von Kollegen beneidet ward, ist wohl zu denken. Ich war aber auch nicht wenig stolz auf meinen „Verkehr". Ja, ich nahm sogar einzelne Gewohnheiten und Manieren des Meisters an: wie er, ging ich stets in gebückter, nachdenklicher Haltung, die Hände auf dem Bücken, auch bei schönstem Wetter mit einem Schirm bewaffnet; selbst Brillen kaufte ich mir, und es fehlte mir bloß der starke graue Backenbart des Dichters, um sein Ebenbild im äußeren zu sein. So bekam ich denn bald den Beinamen „der kleine Gontscharow". O du selige Kinderzeit! . . . Aber gar schnell waren die glücklichen Stunden vergangen, bald neigte der Sommer seinem Ende zu, auseinander stoben die Badegäste — und nie mehr habe ich Gontscharow wiedergesehen! Fast hätte ich ihn auch vergessen, würde nicht sein Tod die Erinnerung an ihn wachgerufen haben. Gontscharow gestorben! Ich glaubte ihn schon seit lange nicht mehr lebend — seit langen, langen Jahren erklang im Dichterkonzert der Russen, das jetzt so geräuschvoll ertönt, seine Stimme nicht mehr, seit langen, langen Jahren hatte er sich zurückgezogen von dem stürmischen Hasten der Zeitgenossen und von ihren marktschreierischen Idealen, und so geriet er, den man einmal in eine Reihe mit Turgenjew, Tolstoi, Dostojewski gestellt, in Vergessenheit . . .

In der Mitte der vierziger Jahre erstand unter den russischen Literaten eine Gruppe, die das Feld der Belletristik kultivierte und ihre besondere Aufmerksamkeit den Freuden und Leiden der Armen, den Mühseligen und Beladenen zuwandte. Diese Dichter nannten sich die „Natürlichen", und der große Gogolj galt als ihr Haupt. Die Zeitschrift „Der Zeitgenosse", 1847 von J. Panajew und N. Nekrassow neu begründet, war ihr Rendezvousplatz, wo sie die Erzeugnisse ihres Geistes, die Früchte ihres Denkens, ihre Pläne und Träume einander und der Öffentlichkeit mitteilten. Unter ihnen waren Namen wie Herzen, Dostojewski, Grigorowitsch, Turgenjew, Graf Solohub, ferner der Rechtshistoriker Kawelin, der Historiker Ssolowjew, der Mythenforscher Afanasjew und der Kritiker Belinski, der ihnen allen Anregung zum Schaffen gab, jedem die rechte Richtung wies. Diesem erlauchten Kreis trat auch der junge Gontscharow bei, der 1847 mit seiner „Gewöhnlichen Geschichte" sich schnell bekannt gemacht hatte. Es war eine alltägliche Geschichte mit alltäglicher Tendenz: der romantische Schwärmer Alexander Adujew ist da seinem praktischen Onkel Peter Iwanowitsch gegenübergestellt, und die Tendenz liegt darin, dass bei der Berührung mit dem rauen Leben alle Idyllik und Romantik zum Teufel gebt und den Menschen bloß in Ungelegenheiten stürzt. Zu dieser Überzeugung gelangt Adujew nach vielen heißen Debatten mit seinem Onkel, der ihn in die Schule nimmt. Zuletzt wird er mürber, entsagt der törichten Schwärmerei, wird unverfroren egoistisch und entschließt sich, ein großes Kapital mit einem jungen Mädchen zu heiraten . . . Feine Genremalerei und guter Realismus bei poetisch angehauchter Zeichnung sind die Vorzüge dieses Werkes, dem bald Gontscharows Meisterroman „Oblomow" folgte. Unvergleichlich großartig ist hier die Plastik in der Gestalt des Haupthelden, nach dem in Russland das gedankenlose Vorsichhinträumen Oblomowerei genannt wird. Denn Oblomow ist ein taten- und gedankenloser Mensch, der sich zu gar nichts aufzuraffen vermag, und sein Bild zeigt uns, wohin ein ohnehin zur schläfrigen Faulheit und Apathie geneigter Charakter kommen kann, wenn er noch dazu von einer ebenfalls Geist, Herz und Sinn einschläfernden Atmosphäre umgeben ist. Oblomow lebt ein Traumleben, ohne Gedanken, ohne Wünsche, ohne Bestrebungen, er hat wohl Pläne, aber nie führt er einen aus. Sein halbes Leben verbringt er im Bette, oder auf dem Divan. Soll er sich erheben, so macht er ein verdrießliches Gesicht, schrecklich erscheint ihm das Aufstehen, langweilig das ganze Leben. Er weiß nichts mit dem Tage anzufangen, er weiß nicht, wie ihn zu beenden. Einen Moment lang bewegt ihn heiße Leidenschaft zur klugen, energischen Olga, er scheint zur Wirklichkeit erwachen zu wollen, er reißt sich sogar von seinem Lager, an dem er fast angewachsen scheint, los und geht unter Menschen. Aber er hat nicht mehr die Seelenkraft, sich aufrecht zu erhalten, er kann sich nicht entschließen, um die Hand der Geliebten förmlich anzuhalten — diese Förmlichkeiten sind so langweilig — und plötzlich fällt ihm ein, dass er an der Seite dieser Frau stets würde leben müssen — stets an der Seite eines einzigen Wesens — das ist zu langweilig — und er sinkt wieder auf seinen Divan zurück , . . Schließlich heiratet er doch, aber eine Witwe, die statt seiner das Haus erhält, bei der er warmes Quartier und gute Kost bekommt, und da lebt er ohne Freude, ohne Wunsch, bis ihn eines Tages der Tod von aller Langeweile des Lebens erlöst. . . .

Gontscharows letzter großer Roman, der „Absturz", 1869 erschienen, ist partienweise glänzend geschrieben, steht aber hinter „Oblomow" zurück. Er behandelt das in der Zeit liegende nihilistische Thema, aber mit wenig Geschick. Andere Arbeiten Gontscharows sind noch die Jugenderzählung „Iwan Sawitsch-Podsabrin", der „Kurator", die Beschreibung seiner Weltreise 1852 — 54 auf der Fregatte „Pallas", die scherzhafte Skizze, „Ein literarischer Abend" und „Vier Essays", 1881 erschienen. Seit 1881 hat Gontscharow nichts mehr veröffentlicht.

Gontscharow erreichte ein Alter von fast achtzig Jahren. Er wurde am 6./18. Juni 1818 in Ssimbirsk als Sohn eines schlichten Kaufmanns geboren, erhielt aber eine gute Erziehung und besuchte bis zu seinem zwölften Jahre die von einem Geistlichen auf einem Gute der Fürstin Cholmski eingerichtete Schule. Darauf brachte man ihn nach Moskau, wo er 1831 — 35 die Universität, und zwar die historisch-philologische Fakultät besuchte. Bald erhielt er in St. Petersburg eine Anstellung als Translator im Finanzministerium, 1852—54 machte er als Sekretär des Grafen Putjatin eine Weltreise mit demselben; das Ziel dieser Reise war Eröffnung von Handelsbeziehungen mit Japan. Nach seiner Rückkehr trat Gontscharow aus seiner Stellung im Finanzministerium aus und ging in die Oberpostverwaltung über, wo er bis 1872 als Zensor fungierte. Seitdem lebte er zurückgezogen und vereinsamt in Petersburg. Am 15./27. September 1891 starb er daselbst.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Aus dem modernen Russland.