Aus dem modernen Russland.

Autor: Stern-Szana, Bernhard (1827-1927) deutsch-baltischer Journalist und Kulturhistoriker, Erscheinungsjahr: 1893

Exemplar in der Bibliothek ansehen/leihen
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Russland, Wachstum, innere Kämpfe, Finanzen, Industrie, Adel, Bauern, Kirche und Moral, Kunst und Kultur, Landwirtschaft, Hütten, Schwarzerde, Dünger, Missernte, Branntwein, Hungersnot, Kulak (Faust), Leibeigentum, Leibeigenschaft, Knechtschaft, Bildung, Religion,
Ein Teil dieser Skizzen wurde von mir in der Kölnischen Zeitung veröffentlicht und machte von dort aus die Runde durch eine große Anzahl Zeitungen, für mich ein Beweis, dass der Inhalt Interesse gefunden. Möge das gleiche Interesse auch den übrigen Skizzen zu teil werden.

                  Die Aussätzigen von Jakutsk.

Im östlichsten Sibirien liegt das Gouvernement Jakutsk, das beinahe halb so groß wie Europa, kaum soviel Einwohner wie eine mittlere europäische Provinzstadt hat.

Es ist ein einsames, todtrauriges Land . . .

Undurchdringliche Wälder mit Riesenstämmen und Schmarotzerpflanzen. Oder grenzenlose Sümpfe, nur da und dort unterbrochen von einem moosbedeckten Erdhaufen, ähnlich einem Grabhügel. Ein anderes Mal lange Bergeszüge, schwarz und kahl, mit Klüften voll ewigen Schnees.

Winters ein Frost, der nicht selten den fünfzigsten Reaumurgrad erreicht, Sommers eine tropische Hitze. Dem heißesten Sommertag aber folgt gewöhnlich neblige feuchte kalte Nacht.

Myriaden giftiger Insekten schwirren tags umher, zahlreiche hungrige Bären gieren nachts nach Beute. Hier raschelt ein Hermelin, dort flieht ein Zobel durch die Büsche, oder ein Eichhörnchen springt behend von Ast zu Ast.

Oft unterbricht den Urwald ein stürzender Bergstrom, oder durch den Morast schleicht träg und trüb ein Sumpffluss. Hin und wieder tut sich ein See auf und plätschert mit seinen Wellen leise Melodien.

Sonst angstvolles ängstigendes Schweigen.

Kaum gibt es Wege und Stege. Von Zeit zu Zeit ein Werstpfahl, ein lahmer Wegweiser, eine halbverfallene Holzbrücke.

Nur einmal im Monat geht ein Postkurier der Regierung nach Russland. Nur zweimal im Jahre findet ein Verkehr von Passagieren, ein Transport von Frachten statt.

Dann trifft man jede 200 Werst kleinere, jede 400 Werst größere Stationen, wo man Sommers frische Pferde, Winters frische Renntiere, zuweilen auch Proviant erhält. Diese Stationen sind einfache Zelte, Jurten genannt; die größeren haben Scheune und Stall. Wenn es nicht gerade Reisezeit ist, sind die Stationen geschlossen, verödet.

Wohl dann dem Reisenden, der auf sogenannte Powamje oder Kochplätze stößt: unbewohnte Jurten, welche einen primitiven Herd und ein Loch im Dach als Schornstein besitzen.

Findet man keine Powarnje, so kann man bei 40 bis 50 Grad Kälte im Schnee übernachten. Man gräbt eine warme Grube, entzündet womöglich ein Feuer zum Schutz gegen Insekten und Bären, hüllt sich in seinen mächtigen Pelz und legt sich nieder.

Gefährlich wird solch Lager, wenn die Purga kommt, der Sturm, der den Himmel und die Erde verfinstert, der den Schnee in Wolken herbeiträgt und alles verweht, was er am Wege findet . . .

Man wandert und wandert, wohl tausend Werst weit, und kein Mensch ist rings au sehen.

Doch plötzlich klingt durch lautlose Lüfte Geläut einer Schlittenschelle. In leicht hinfliegender Troika macht ein Kaufmann eine kleine Geschäftsreise von 500 Werst. Oder ein Freund besucht einen Freund auf einen Sprung, liegt ja doch das Dorf des einen von dem des andern bloß so weit wie Wien von Berlin.

Man wandert weiter durch die Unermesslichkeit, wohl tausend Werst weit.

Und horch, abermals Geläut einer Schlittenschelle. Ein Beamter reist 2.000 Werst weit, um einen Auftrag der Regierung zu vollführen, Pferde einzukaufen, einen Streit zu schlichten, Steuern zu erheben. Oder ein Missionar zieht, 3.000, 4.000, 5.000 Werst, bis an den Band des Eismeers, um den halbwilden Tschuktschen das Christentum zu predigen.

Auch das sind Helden, gleich jenen Männern, welche Afrika durchziehen , welche australischen Menschenfressern das Evangelium bringen , welche im Auftrage ihrer Regierungen wilde Völkerstämme besiegen.

Von ihnen aber singt kein Lied, sie preist kein Buch, sie belohnt kein Orden, ihr Bild bringt kein Blatt. Fremd ist ihnen jeglicher Ehrgeiz, das Pflichtgefühl ist ihre Triebfeder, ihr Beruf ist ihr Ruhm, und die Regierung hält ihre tapfersten Taten, ihre größten Strapazen für selbstverständlich und schreibt in ihre Dienstliste einfach und schmucklos: „Wurde zu allerlei Dienstaufträgen verwendet" . . .

***

Es ist ein einsames todtrauriges Land. Und ein unglückliches halbwildes Volk vegetiert in ihm.

Die Jakuten waren noch bis vor kurzem Heiden, und ihr Christentum ist sehr zweifelhaft, von heidnischen Traditionen und Gebräuchen fast erdrückt. Sie wohnen in nicht gar großen Dörfern, die in weiten Entfernungen voneinander liegen. Ihre Wohnstätten sind Jurten primitivster Konstruktion, nur Wohlhabende vermögen es zu einem Haus in der Art der russischen Isba oder Bauernstube zu bringen, welche neben anderen Bequemlichkeiten, wie Tisch, Bank und Bett, einen veritablen Ofen hat.

Nur die Wohlhabenden vermögen sich auch wirkliches Essen zu kaufen: Fleisch von Kühen und Pferden, Milch und Kumys, gute Fische, sogar gebackenes Brot als Dessert; die Lieblingsspeise aber ist Fett, das selbst in ungereinigtem ungekochten Zustand massenhaft vertilgt wird.

Arme Leute indes können weder Fleisch noch Milch, weder Brot noch Fett erwerben; sie nähren sich fast ausschließlich von kleinen halbverfaulten Fischen; dabei fehlt es ihnen auch sonst am Notwendigsten: wohl nie hat ein armer Jakute ein Stück Wäsche oder ein Kleidungsstück gekannt, ein Fetzen ersetzt ihm beide.

Solche schlechte Lebensbedingungen, im Zusammenhang mit dem traurigen Klima des Landes, mussten schwere Krankheiten erzeugen. Und wirklich wird dies Land, besonders der Kreis Wiljuj, von Zeit zu Zeit von fürchterlichen Epidemien heimgesucht. Blattern und Pest haben gar oft die Dörfer und Städte von Jakutsk zerstört. Namentlich der Aussatz hat hier seit Urzeiten Opfer gesucht und gefunden. Wer je einen Aussätzigen gesehen, wird den schrecklichen Anblick nicht vergessen: Antlitz und Körper des Kranken sind bedeckt mit Wunden, Beulen und Löchern, der ganze menschliche Organismus ist zerstört, die Finger fallen von den Händen und die Zehen von den Füßen, Nase und Ohren und Kinn krümmen sich, sinken zusammen, verfaulen . . .

********

Zu allen Zeiten und selbst in zivilisierten Ländern fürchtete man den Aussätzigen und vermied ängstlich seine Berührung. Um wie viel mehr muss dies der Fall sein in jenen kulturfernen Gegenden, die niemals einen Arzt gesehen haben.

Wehe dem Unglücklichen, der hier der Krankheit anheimfällt. Alle Gemeinschaft mit ihm wird abgebrochen, man verbannt ihn in eine der Jurten, die fern vom Dorfe, im einsamen Walde, für die Aussätzigen erbaut sind.

Es sind gar elende Wohnstätten.

Zwischen den dünnen Balken gehen Wind und Regen, Frost und Glut. Winters beziehen sich die Wände mit Eis, Sommers mit feuchtem Schimmel.

Das Bisschen Einrichtung drin ist stets halb oder ganz zerfallen, von der Außenwelt wagt sich niemand herein, um die Schäden auszubessern, die Kranken sind hierzu nicht imstande.

Die Jurten gleichen, falls sie bloß einen Kranken beherbergen, mehr einem Hundestall als einer menschlichen Wohnstätte. In den größeren Jurten — von 15 Ellen Länge und 6 Ellen Breite — wohnen 10, 12, auch 15 Kranke, zuweilen sogar in Gesellschaft einer Kuh; die Männer sind von den Frauen nicht getrennt. Längs den Wänden laufen harte Bänke; auf ihnen liegen einer hinter dem andern die Kranken, so eng, dass der Fuß des einen den Kopf des folgenden berührt. Reichen die Bänke nicht für alle Inwohner aus, so müssen die später Eingetroffenen am Boden Platz nehmen, bis der Tod die Reihe der früheren gelockert hat.

Die Kleidung der Aussätzigen besteht aus schmutzigen Lumpen, die kaum die Blößen verhüllen; manche, die aus wohlhabenderen Familien stammen, besitzen zwar einen Pelz aus Kuh- oder Kalbsfell, derselbe wird aber bald zerfetzt und zerlöchert und vermag kaum Schutz gegen die Witterung zu bieten.

Ein fürchterlicher Geruch erfüllt die enge Stube; die Ausdünstungen und Auswürfe der Kranken und der vom Herd aufsteigende Rauch und Dunst bilden diese pesthaltige Atmosphäre.

Ein- oder zweimal wöchentlich wird den Aussätzigen von ihren Familienmitgliedern Nahrung zugestellt

Der Dorfbewohner, welcher das Essen bringt, geht natürlich nicht in die Jurte; in einer gewissen Entfernung von derselben stößt er einen Schrei aus, stellt das Essen fort und rennt davon.

Darauf begibt sich der Gesündeste unter den Aussätzigen — derjenige, dessen Hände und Füße noch nicht ganz abgezehrt sind — kriechend und keuchend zu dem Proviantplatz, zieht mühsam eine Schnur um das Päckchen und kriecht wieder zurück, wobei er das Essen durch Schnee und Kot hinter sich herschleppt.

Es ist ein jammervolles Bild . . .

Jeden Augenblick muss der Ärmste innehalten, um Atem zu schöpfen, um seinen wunden formlosen Leib zu erholen.

Endlich, endlich ist er wieder zurück und lädt die Last ab.

Nun muss er wieder in den Wald, um Brennmaterial zu schaffen.

Endlich, endlich ist ihm auch dies gelungen.

Während er schwerfällig den Herd zu feuern beginnt, reißen die anderen mit ihren stumpfen Händen oder mit den Zähnen die Hülle von dem Nahrungspäckchen und heben das Essen heraus: dasselbe besteht nur aus kleinen Fischen. Ein Teil derselben, Munda genannt, wird ungereinigt, bloß an der Sonne getrocknet, in schmutziges Wasser gelegt und alsdann zu einer Fischsuppe, der Chochtu, verwendet; den anderen Teil legt man in eine Grube von etwa einer halben Elle Tiefe und lässt ihn dort so lange, bis er
völlig zerfallen ist; dann bereitet man daraus eine Speise Ssyma, welche ohne Salz oder Brot verzehrt wird. Das ist alles . . .

Unter solchen Verhältnissen verleben die Aussätzigen den Rest ihres Lebens, oft viele Jahre . . .

Stirbt einer, so lässt das die anderen gleichgültig; dumpf, mitleidslos schauen sie auf ihn, kaum zu einem Gefühle des Neids vermögen sie sich aufzuraffen. Der Tote bleibt oft eine Woche lang unter den überlebenden Genossen. Die vermögen nichts mit ihm anzufangen. Erst wenn sie wieder den Schrei des Boten hören, der ihr Essen bringt, können sie durch anhaltendes Lärmen kundtun, dass einer aus ihrer Mitte erlöst worden.

An einem der nächsten Tage wird ein Holzkasten Tor die Tür der Jurte gestellt. Die Aussätzigen selbst erweisen dem Verstorbenen, so gut sie können, den letzten Dienst: Alle, die sich zu rühren vermögen, erheben sich Ton ihren Plätzen und wälzen und stoßen die Leiche in den Holzkasten, schleppen diesen einige Schritte weit zu einem der vielen offenstehenden Gräber und lassen ihn hinabfallen . . . In der Folge wird wohl das Grab auch zugedeckt und mit einem rohgezimmerten Kreuz geschmückt . . .

(Fortsetzung)

Graf Tolstoi

Graf Tolstoi

Russische Bäuerin

Russische Bäuerin

Russischer Muschik

Russischer Muschik

Russischer Adel

Russischer Adel

Russischer Gutsherr und Bauern

Russischer Gutsherr und Bauern

Kosakenregiment beim Angriff

Kosakenregiment beim Angriff

Russland 001. Der Metropolit von Petersburg eröffnet eine Prozession

Russland 001. Der Metropolit von Petersburg eröffnet eine Prozession

Russland 002. Petersburg, Winterpalast, Architekt Rastrelli

Russland 002. Petersburg, Winterpalast, Architekt Rastrelli

Russland 003. Petersburg, Altes Michael-Palais (Ingeneurschloss)

Russland 003. Petersburg, Altes Michael-Palais (Ingeneurschloss)

Russland 011. Schlitten

Russland 011. Schlitten

Russland 011. Der Iswostschik (Lohnkutscher)

Russland 011. Der Iswostschik (Lohnkutscher)

Russland 018. Nordrussisches Mädchen aus Archangelsk

Russland 018. Nordrussisches Mädchen aus Archangelsk

Russland 018. Kleinrussisches Mädchen aus Tschemigow

Russland 018. Kleinrussisches Mädchen aus Tschemigow

Russland 022. Ein Narr in Christo

Russland 022. Ein Narr in Christo

Russland 029. Großrussisches Mädchen a. d. Gouvernement Twer

Russland 029. Großrussisches Mädchen a. d. Gouvernement Twer

Russland 029. Junge aus dem Gouvernement Twer

Russland 029. Junge aus dem Gouvernement Twer

Russland 046. Kleinrussin

Russland 046. Kleinrussin

Russland 047. Großrusse

Russland 047. Großrusse

Russland 054. Bauernkinder aus dem Gouvernement Orel

Russland 054. Bauernkinder aus dem Gouvernement Orel

Russland 076. Jüdische Hühnerverkäuferin in Odessa

Russland 076. Jüdische Hühnerverkäuferin in Odessa

Russland 079. Junge wolhynische Jüdinnen

Russland 079. Junge wolhynische Jüdinnen

Russland 096. Ein Sibirjak

Russland 096. Ein Sibirjak

Russland 093. Ein Gardekosak in Paradeuniform

Russland 093. Ein Gardekosak in Paradeuniform

Russland, Dieser alte Pope freut sich über den Eifer seiner Gläubigen, die zur Kirche drängen 1942

Russland, Dieser alte Pope freut sich über den Eifer seiner Gläubigen, die zur Kirche drängen 1942