Wenn der Rubel rollt . . . . .

Im vornehmsten Comptoir der Residenz. Ein großes Zimmer mit Schreibtischen und niemals rastenden Sklaven. Und trotz all der rastlosen Tätigkeit ängstliche Stille.

Durch diese Stille klingt plötzlich der Ruf:
„Timofeh Jefimowitsch!"


Die eiligste Feder hält still. Ein blasses müdgeneigtes Gesicht hebt sich von einem Schreibpult empor und wendet sieh nach der Richtung, woher der Ruf gekommen.

„Timofeh Jefimowitsch!" ertönt es zum zweiten Mal.

„Sofort, Euer Hochwohlgeboren!"

Timofeh Jefimowitsch erhob sich, strich mit der Hand über die Stirn und trat zu seinem Chef Mark Pawlowitsch Warschawsky. Gebückt blieb er vor ihm stehen und fragte mit demütig leiser Stimme nach den Befehlen des Gewaltigen.
„Ich habe mit Ihnen zu sprechen, Timofeh Jefimowitsch! Folgen Sie mir!"

Der Chef ging würdevoll voraus, der Buchhalter schlich hinterdrein.

Sie begaben sich in das prachtvoll ausgestattete Privatzimmer des Herrn Warschawsky.

„Setzen Sie sich, Timofeh Jefimowitsch!" sagte der Chef und klopfte seinem Buchhalter leutselig auf die Schulter.

Timofeh machte einen Versuch, der Aufforderung Folge zu leisten und sank in einen weichen Sessel so tief ein, dass er mit dem vor Schreck vorgestreckten Fuß ein Ziertischlein umwarf. Aber der gnädige Herr Warschawsky ward gar nicht böse, lächelte bloß leicht über die Ungeschicklichkeit und sagte womöglich noch freundlicher:

„Setzen Sie sich aufs Sofa, mein Lieber, da haben Sie es vielleicht bequemer."

Timofeh zitterte und staunte. Was bedeutete das? Was wird geschehen? Mark Pawlowitsch, der Allgewaltige, der unerbittlich Strenge, der Grausame, war plötzlich so sanft, so liebenswürdig geworden . . . Und Hoffnung und Bangen wechselten in seinem Herzen und machten es arg erbeben.

Aber der gnädige Herr ließ den armen Kerl nicht lange schweben zwischen Furcht und Hoffnung. Und er begann:

„Ihr Probemonat ist um, mein lieber Timofeh Jerimowitsch. Sie sind in kurzer Zeit mein bester Arbeiter geworden. Und trotzdem kann ich Sie im Büro nicht brauchen; ich muss Sie entlassen."

Die Worte kamen langsam aus dem Munde des Sprechers, eins vom andern abgehackt. Und jedes einzelne war eine unbeschreibliche Marter für den Zuhörer. Erst trat brennende Röte auf sein Gesicht, um am Ende der kurzen Rede des Chefs einer unheimlichen Blässe zu weichen.

Es zuckte dem Armen um die Augen, es riss ihm in den Schläfen, es drückte wild auf seine Brust. Kaum hatte er die Kraft, sich aufrecht zu erhalten.

Mark Pawlowitsch ließ sich in einen Sessel nieder, streckte die Füße behaglich von sich und rieb vergnüglich die Hände.

„Timofeh Jefimowitsch“, fuhr er fort, „Sie sind wohl etwas erschrocken? Sie haben jedoch keinen Grund zur Angst. Im Büro kann ich Sie allerdings nicht brauchen. Aber wenn Sie mir einen kleinen Dienst leisten wollten, würde ich Ihnen denselben so reichlich belohnen, dass Sie Ihr Leben lang keine Sorgen mehr hätten."

Und Mark Pawlowitsch rückte näher zu Timofeh Jefimowitsch und legte seine Hand auf dessen Schulter und schaute ihm forschend in die Augen. Dann begann er eindringlich flüsternd dem Buchhalter auseinanderzusetzen, worin der kleine Dienst zu bestehen hätte.

Und Timofeh Jefimowitsch saß starr und stumm da und erhorchte, was Mark Pawlowitsch flüsterte, und kein Nerv zuckte in seinem Antlitz.

Aber als er sich erhob und das Zimmer seines Chefs verließ, war er fürchterlich anzuschauen: die Haare wirr, die Augen tiefliegend, erloschen, die Lippen welk und blau . . . Matt schleppte er sich an seinen Arbeitstisch, ergriff seinen Hut, und ohne seinen entsetzten Kollegen ein Wort des Abschieds zu sagen, wankte er hinaus . . .

****************

Draußen war es schwül, unsagbar schwül.

Mechanisch setzte er einen Fuß vor den anderen, ohne zu bedenken, wohin er gehen wollte.

Nur nicht nach Hause, nur jetzt nicht nach Hause — zu Weib und Kind! . . .

Erschöpft sank er auf eine am Wege stehende Bank.

Er schaute um sich. Weit und breit sah er keinen Menschen, Den Platz , wo er sich befand, kannte er gar wohl. Es war jene Bank, wo er die süßesten Stunden seines Lebens mit seiner Maruschka verlebt . . .

Und die Erinnerung an sein liebevolles, geliebtes Weib und seine herzigen Kinder tauchte in ihm auf und weckte die Erinnerung an sein ganzes Leben.

Ach, es war nicht viel Besonderes an diesem Leben. Ein Leben, wie tausend, wie hunderttausend andere . . .

Er war ein gewöhnlicher Buchhalter. Lange Zeit befand er sich in großer Not, nachdem er eine jahrelange Stellung plötzlich ohne sein Verschulden verloren. Endlich fand er durch Zufall eine neue. Der reiche Armeelieferant Mark Pawlowitsch Warschawsky brauchte einen zweiten Buchhalter und engagierte Timofeh mit einem Jahresgehalt von 1.200 Rubel. Doch stellte er die eine Bedingung, dass Timofeh einen Monat — auf Probe unentgeltlich dienen sollte. Timofeh ging darauf ein. Er dachte sich: besser unentgeltlich arbeiten als unentgeltlich müßig gehen. Und die feste Hoffnung hatte er doch, sich durch Fleiß und Pflichttreue die Neigung seines allerdings als streng bekannten Chefs erringen zu können.

Mark Pawlowitsch Warschawsky hatte seine Laufbahn als Trödler und Kleinwucherer begonnen und wollte eben eine größere Leihanstalt eröffnen, als der russisch-türkische Krieg ihm Gelegenheit bot, sich auf noch leichtere Weise noch größere Reichtümer zu gewinnen.

Durch gute Worte und viel Gold wusste er die Armeelieferungen und Konzessionen für Eisenbahnbauten in die Hand zu bekommen, und er machte brillante Geschäfte.

Senatoren und Minister wurden seine guten Freunde, und die höchsten Spitzen der Gesellschaft knickten vor ihm zusammen. Alle bewarben sich um seine Gunst, und um seine Töchter und Söhne rissen sich die ältesten und reichsten Familien. Er aber hatte kaltes Blut bewahrt, benahm sich den Hohen gegenüber als ihresgleichen, und was besonders deren Gunstbewerbung um seine Töchter oder Söhne anbelangte, so hatte er hierfür von vornherein einen fixen Tarif angesetzt: für eine Fürstenkrone gab er 200.000, für eine Grafenkrone 100.000 Rubel. Unter einem Grafen stehende Edelleute sollten nur in Ausnahmefällen Gehör finden und mit 30.000 bis höchstens 40.000 Rubel entlohnt werden.

Kurz, alles was bedeutend war in der Newa-Metropole, drängte sich heran, und Mark Pawlowitsch lebte herrlich und in Freuden, und jeglicher pries, bewunderte und beneidete ihn.

Plötzlich aber trat ein Zwischenfall ein, der all seinem Glanz ein jähes Ende zu bereiten drohte.

Nicht zufrieden mit den Millionen und Millionen, die er bereits erschwindelt, hatte der Emporkömmling sich, von seiner Habsucht verleitet, sogar zu Fälschungen von Handschriften und Dokumenten hinreißen lassen, um seine Rechnungen verdoppeln zu können.

Dies ging so lange, bis ein neuer, streng ehrlicher Minister, von Warschawskys Treiben geheim unterrichtet, auf ihn aufmerksam ward.

Warschawsky wurde von guten Freunden gewarnt. Anfangs ließ ihn das kalt und gleichgültig. Ein Vermögen, das jährlich eine Million Rente abwirft, ist in Russland ein ziemlich festes Bollwerk gegen jede Anklage, geschweige denn Bestrafung. Geld und immer wieder Geld löscht dort alles aus, verhüllt den abscheulichsten Fleck, bedeckt das ärgste Loch im Ehrenkleide, glättet alle Ecken und Kanten . . .

Mark Pawlowitsch kannte die Macht des Geldes und vertraute ihr vollständig.

Erst als er merkte, dass es diesmal ernst werden könnte, und als er von sicherer Seite unterrichtet ward, dass eine wirkliche Untersuchung gegen ihn im Gang wäre, sann er darüber nach, wie er der unangenehmen Geschichte in einer seinem Reichtum, Ruf und Herzen gleich angemessenen Weise aus dem Wege gehen sollte.

Und siehe da, ihm kam ein vortrefflicher Gedanke!

Seit einem Monat gerade hatte er Timofeh in seinem Büro. Der Fleiß und die strenge Pflichttreue des Mannes hatten seine Aufmerksamkeit erregt. Aber Timofeh war trotz seines angestrengten Fleißes arm geblieben, sterbensarm.

Er würde vielleicht alles tun, um besser gestellt, um sorgenlos, um reich zu werden.

Alles, auch Unehrliches?

Hm, vielleicht, — ja, gewiss.

Mark Pawlowitsch will ihn dazu bringen, zwingen. Timofeh muss helfen, muss und muss, es koste, was es wolle . . .

„Timofeh Jefimowitsch!"

Der Chef rief den Buchhalter und setzte ihm seine Wünsche auseinander. Klar und ruhig sagte er ihm:

„Dies und dies ist geschehen; dies und dies droht. Sie müssen helfen! Wollen Sie? Wenn ja, so will ich Sie reich machen. Wenn nicht, verderbe ich Sie, entlasse ich Sie und sage, Sie hätten mich betrogen und wären deshalb aus meinem Büro ausgestoßen worden. Wer wagt es, das Gegenteil zu behaupten? Und danken können Sie dann noch meiner Güte, dass ich Sie nicht dem Gesetz ausliefere . . . Wenn Sie aber meinen Wunsch erfüllen, werden Sie es nicht zu bereuen haben. Alsdann übertrage ich Ihnen, da ich Ihre glänzenden Fähigkeiten erkannt, sofort die Leitung des Komptoirs und die Hauptkasse. In acht Tagen übernehmen Sie die Prokura, und ich verreise. Sie fälschen nun die Bücher und Papiere, genau wie ich selbst es bisher getan. Kommt die Untersuchung, was ich mindestens zwei bis drei Monate noch hinhalten kann, dann nehmen Sie alles auf sich und gestehen ein, was ich von Ihnen behaupten werde. Eingehenderes wird nicht vorgenommen, darauf gebe ich Ihnen mein Ehrenwort. Ihre Tat soll angemessen belohnt werden, versteht sich, ich bin ein nobler Charakter. So, wir sind fertig. Morgen früh erbitte ich mir Ihre Antwort . . ."

Die kurze Szene stand klar vor Timofehs Augen. Er erhob sich von der Bank und wankte heim . . .

Es war spät, sehr spät, als Timofeh seine dürftige Wohnung betrat.

Die Kinder lagen eng aneinandergedrängt im Bett und schliefen selig.

Die Frau hatte ihn offenbar lange erwartet und war dann erschöpft am Tische eingeschlafen, auf welchem Gogoljs „Tote Seelen" aufgeschlagen lagen.

Beim Eintritt ihres Gatten fuhr sie erschrocken auf und stürzte ihm besorgt entgegen. Er beruhigte sie und gab auf ihre Fragen über sein langes Ausbleiben lügnerische Antwort.

Sie legten sich zu Bett.

Die verschlafene Frau sank bald wieder in festen Schlummer. Er blieb wach.

Eine qualvolle, qualvolle Nacht

Als Timofeh am Morgen ins Büro ging, war sein Entschluss gefasst. Er wird es tun.

Wohl weiß er, dass seiner Sibirien harrt — aber Frau und Kinder werden glücklich, sorgenlos leben . . .

Und vielleicht gelingt ihm über kurz oder lang die Befreiung — —

Das war freilich nur so ein Trugbild, aber er spiegelte es sich auf dem ganzen Weg zum Büro gern und eifrig vor, zum Trost . . .

Mark Pawlowitseh erwartete ihn schon,

Timofehs Blick sagte alles. Mit ausnehmender Freundlichkeit ward also der Untergebene von seinem strengen Chef empfangen. Ein prächtiges Frühstück wurde aufgetragen, und Mark Pawlowitsch befand sich bald in heiterster Stimmung. Diese wurde indessen jählings gestört, als Timofeh sich demütig gestattete, seine Bedingungen zu stellen:

„Ich will Ihren Wunsch erfüllen, Mark Pawlowitsch", sagte er, „obgleich ich weiß, dass ich dadurch ein Kolonist Sibiriens werde."

„Die Strafe lässt sich mildern", entgegnete Warschawsky, „Vielleicht dass Sie schon nach kurzer Zeit die Freiheit erlangen. Und wenn dies geschehen ist, dann treten Sie in die Kreise der Gesellschaft zurück und beginnen ein neues Leben. Sie gehen in eine andere Stadt und führen ein glückliches und zufriedenes Dasein, welches meine Achtung und Erkenntlichkeit umgeben und beschützen werden."

„Nur die Erkenntlichkeit nehme ich in Anspruch", unterbrach Timofeh gelassen den pathetischen Erguss seines Herrn, „auf Ihre Achtung, Mark Pawlowitsch, verzichte ich. Und nun zur Sache. Sie wissen, ich habe eine Familie: Gattin und zahlreiche Kinder, die ich unversorgt zurücklasse. Ich verlange für meine Frau 200.000 Rubel, für jedes meiner Kinder 50.000 . . .

„Aber, Timofeh Jefimowitsch — "

„Bitte, Euer Hochwohlgeboren, dies ist der allergeringste Preis. Die Summen müssen noch heute bar erlegt und sichergestellt werden. Sodann zahlen Sie mir geheim 10.000 Rubel zu meinem bequemeren Unterhalt während meiner Verbannung oder um meine Flucht nach Amerika zu bewerkstelligen, wo ich mein Weib und meine Kinder zu finden hoffe."

Mark Pawlowitsch war entsetzt

Er bettelte um billigere Bedingungen, er sank vor Timofeh demütig in die Knie, jetzt war er der Verzweifelte.

Umsonst.

Der Mann war hart wie Eisen, und es blieb dem Bedrängten nichts Übrig, als die Bedingungen anzunehmen . . .

Mehrere Monate darauf trat die Untersuchung wirklich ein.

Timofeh wurde als der Schuldige hingestellt, und obgleich hie und da ein sonderbarer Anachronismus sich zeigte und es unglaublich schien, dass er alles auf eigene Faust unternommen, wurde er infolge seines grenzenlosen Geständnisses schnell verurteilt. Seine Bekannten, denen mit Recht aufgefallen war, dass er in jüngster Zeit auf so großem Fuße gelebt, wandten sich jäh von ihm und verdammten den Heuchler, den Betrüger, den Schmarotzer.

Und alle streuten Weihrauch dem edlen Herrn, der nach so kurzer Probezeit einem so Unwürdigen sein ganzes Vertrauen geschenkt hatte.

Und der edle Herr empfing mit Anstand und Würde die neuerlichen Beweise der höchsten Achtung und gewann zu seinen früheren Freunden auch den streng ehrlichen Minister, der sich schämte, eine so edle Persönlichkeit verdächtigt zu haben. Und endlich setzte Mark Pawlowitsch Warschawsky in einer seinem Reichtum, seinem Ruf und Herzen gleich angemessenen Weise die Krone auf, indem er dem Verurteilten die 10.000 Rubel zu seinem Unterhalt während der Verbannung, die er geheim zu geben versprochen halte, öffentlich überreichen ließ . . .
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Aus dem modernen Russland.