Der Kampf gegen die Sekten.

Noch bebt im Herzen der gebildeten Welt das Webgefühl, welches Kennans fürchterliche Schilderung des sibirischen Verbanntenelends hervorgerufen; noch sind die Jammerrufe von Millionen Katholiken, Protestanten und Juden ob des Uber sie gewälzten Elends nicht verhallt, da vernehmen wir wieder Klagen von Millionen schwergemarterter orthodoxer Sektierer.

Einst sprach Alexander der Erste der Gesegnete: „Die Vernunft und die Erfahrung haben längst bewiesen, dass die geistigen Irrtümer eines Volkes, in denen sie durch Wortstreit und angeordnete Ermahnungen nur noch tiefer hineingeraten, allein durch Außerachtlassen, gutes Beispiel und Duldsamkeit geheilt und beseitigt werden können. Geziemt es einer Regierung, diese verirrten Kinder durch Heftigkeit und Grausamkeit in den Schoß der Kirche zurückzuführen?"


Und die Ketzergemeinden wurden geduldet, und der Kaiser selbst besuchte oft ihre Niederlassungen und erlaubte sogar, dass eine Genossenschaft im Paläste Michael ihre Versammlungen abhielt, bei welchen Knjäs Galitzyn, der damalige Oberprokureur des Heiligen Synods, als ständiger Gast zu treffen war.

Doch heute ist es anders, und Iwan Aksakows bitteres Wort: „Polizei und Gendarmerie müssen die Wächter russischer Seelenrettung sein", steht in voller Geltung. Und jeder Tag bringt Nachricht von schwerem Leid, welches der heutige Oberprokureur des Heiligen Synods, Konstantin Petrowitsch Pobjedonoszew, der Neben-Zar von Russland, der Gendarm der russischen Kirche, im Interesse der russischen Seelenrettung über Andersgläubige und Andersdenkende verhängt.

Wohl ist nicht zu leugnen, dass die russischen Sekten ganz eigentümlicher Art sind und nicht immer mit milden Augen angesehen werden dürfen. Es gibt darunter viele, die selbst auf grausamste Weise zu vernichten ein wohltätiges Werk wäre. Das aber ist es ja, dass gerade die besseren und harmloseren Dissidenten, wie die Stundisten, Malakanen und Duchoborzen, wütend verfolgt werden, während die schädlichen, wie die fanatischen Selbstverbrenner- und Selbstverstümmler, ein ziemlich freies Dasein führen dürfen. Dies psychologische Rätsel zeigt sich in allen Handlungen der heutigen Regierung des Zarenreichs: das Schlechte wird gehegt und gepflegt, das Gute mit Stumpf und Stiel ausgerodet; die panslawistischen Nihilisten lässt man gedeihen, die Balten, welche durch Jahrhunderte ihre dynastische Treue bewiesen haben, unterdrückt und verbittert man . . .

Man hat schon oft versucht, die russischen Sektierer ausführlich zu schildern; sowohl Russen als Ausländer bemächtigten sich des interessanten Gegenstandes für kürzere und längere Abhandlungen, flüchtige und ernstere Studien. Trotzdem ist die Kenntnis der zahllosen religiösen Mystiker und Fanatiker, welche im Zarenreich existieren, noch äußerst mangelhaft. Indessen kann es nicht meine Aufgabe sein, an dieser Stelle etwas Erschöpfendes zu bieten. Nur in großen Zügen möchte ich das Bild dieser einzig seltsamen Zustände zeichnen und dabei des Kampfes gedenken, welchen die Regierung, der Staat, von den frühesten Zeiten bis auf die Gegenwart, gegen die „Ketzer" geführt. Zu statten kommen mir dabei viele persönliche Beobachtungen, die ich auf einer weiten Reise quer durch das Zarenreich, entlang der Wolga, im Kaukasus und an der Küste des Pontus Euxinus gemacht, wo ja die wichtigsten der Sektierer ihre Wohnsitze haben. Doch wurde auch die ganze vorhandene Literatur zu Rate gezogen und fleißig benutzt, sodass ich glaube, selbst in diesem kurzen Abriss denjenigen, welche sich über die russischen Sekten orientieren wollen, eine genügende Kenntnis vermittelt zu haben. Für jene, die dem Gegenstand weitere Aufmerksamkeit und eingehenderes Studium widmen wollen, nenne ich als die hauptsächlichsten Schriften über die russischen Sektierer diejenigen der Russen Schtschapow, Liprandi, Libanow, Jusow-Kablitz, Golubinsky, Makary und Pawel Iwanowitsch Melnikow, welcher letztere das Leben und Treiben der Sektierer unter dem Pseudonym Andrej Petschersky auch in mehreren Novellen und Romanen vortrefflich, geschildert hat. Eine interessante Geschichte der russischen Kirche des Erzbischofs Philaret von Tschernigow, welche viel Wichtiges enthält, wurde von Blumenthal ins Deutsche übersetzt. Von Ausländern nenne ich vor allem den Engländer Mackenzie Wallace und den Franzosen Leroy Beaulieu, welche die zwei besten Werke über Russland verfasst haben. Wertvoll sind Haxthausens Studien über die inneren Zustände Russlands und Julius Eckardts Skizze in den Baltischen und Russischen Charakterbildern. Lengenfeldt hat in seinem Werke über Russland im 19. Jahrhundert wenig Besonderes mitgeteilt, mehr brachten Friedrich Meyer von Waldeck und Folticineano. Eine kurze gute zusammenfassende Darstellung lieferte Nikolaus von Gerbel-Embach 1888 im 52. Heft der Zeitfragen des christlichen Volkslebens, welcher Abhandlung eine kurze Skizze desselben Verfassers in „Unsere Zeit" voranging. Zahlreiche Artikel erschienen schließlich über einzelne Episoden oder Zweige in verschiedenen russischen und ausländischen Zeitungen und Zeitschriften; an die wichtigsten werde ich gelegentlich erinnern.

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Die russische Kirche gleicht dem russischen Nationalstrom, der Wolga. Wie diese der mächtigste Fluss des Zarenreiches, ist die russische Kirche die am meisten verbreitete Gemeinschaft in diesem Reiche. Aber wie die Wolga sich zum Schluss in zahllose Arme und Ärmchen zerteilt, die nur zum kleineren Teil befruchtend und nützlich sind, zum größeren Öde Sümpfe und trostlose Sandinseln bilden, so sind auch die Abzweigungen der russischen Kirche zumeist schädlich für das Gedeihen des Ganzen.

Den russischen Mutterglauben hat ein aufgeklärter Russe selbst einmal als ein Gemisch von Heidentum, missverstandenem Christentum und sehr viel Zweifelsucht und Aberglauben bezeichnet. Aus einer solchen Kirche entspringende Sekten sind daher leicht ein noch schlimmeres Gemengsel.

Die griechische Religion ist äußerlich, ist ein sehr verwickeltes System von Zeremonien, mit wenig innerem Gehalt. Der dogmatische Teil, der bei Katholiken und Protestanten eine hervorragende Rolle spielt, blieb bei den Russen dürftig, während der Gottesdienst immer schöner und schöner gestaltet wurde. Der heilige Geist geht vom Vater aus, nicht aber auch von dem Sohne — das ist der Hauptlehrsatz. Außer diesem Lehrsatz darf man annehmen und glauben, was man will, und ist doch, vorausgesetzt, dass man alle Verbeugungen vor den Heiligenbildern und alle Bekreuzigungen genau mitmacht, ein guter rechtgläubiger Christ. Darum kann man zu diesem Glauben beinahe ohne Gewissensbisse übertreten; seine innere Überzeugung ändert man kaum, man unterzieht sich bloß andern Zeremonien.

So konnte es, ich glaube vor 50 Jahren, geschehen, dass lettische Bauern, die man scharenweise zur russischen Kirche herübergelockt hatte, auch nach der „wahren rechtgläubigen" Taufe zu ihren alten evangelischen Pastoren gingen, um in gewohnter Weise das Abendmahl zu empfangen — so wenig begriffen sie den Religionswechsel. Um so besser aber können wir begreifen, dass diese Religion ein guter Boden für die sonderbarsten Sekten ist, die oft um eines einzigen Buchstaben willen entstanden.

Im Jahre 988 wurde durch Wladimir den Apostelgleichen das Christentum in Russland eingeführt. Ein Jahrhundert war noch nicht seitdem verflossen, da gab es schon Sekten.

Besonders arg wurde die Ruhe der Kirche zuerst während der auch politisch sehr bewegten Regierung des Großfürsten Andrej Jurjewitsch, mit dem Beinamen des Bogoljubowsky oder Gottesfürchtigen, erschüttert. Damals, 1170 — 1174, verbreitete der wegen seiner Habsucht und Erpressungen gehasste Bischof Leon von Rostow eine Lehre: dass es eine Sünde wäre, an Weihnachten und am Feste der heiligen drei Könige, wenn diese beiden Feste auf einen Mittwoch oder Freitag fielen, Fleischspeisen zu essen. Diese Lehre brachte die Gemüter in Brand, man stritt mit wilder Erbitterung für und wider und erklärte sich gegenseitig als Ketzer. Wie lange der Kampf dauerte, wissen wir nicht; viele Männer von Ansehen und Bedeutung, wie der Bischof Anton von Tschernigow und der Metropolit von Kijew, traten zur neuen „Lehre" über.

Einen ernsteren Grund hatte die sogenannte „jüdische Ketzerei", die Shidowskaja jeresj, welche um die Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts sich auszubreiten begann. Diese Lehre verwarf die Lehre von der heiligen Dreifaltigkeit, die Verehrung der Heiligen und der Heiligenbilder. Sie trat, nach den Berichten der russischen Geschichtsschreiber Karamsin, Ilowaysky und Ssolowjew, zuerst in Nowgorod an den Tag und soll einen, wahrscheinlich zum griechischen Glauben Übergetretenen Kijewer Juden Zachary zum Gründer gehabt haben. Aus Nowgorod drang die Lehre durch Vermittlung einiger Geistlichen, welche sich ihr anschlossen, nach Moskau, wo zu ihren geheimen Anhängern Sossim, der Archimandrit des Simon-Klosters, gehörte, welcher beim damaligen Großfürsten von Moskau Iwan III. in besonderer Gunst und Gnade stand und die Würde eines Metropoliten bekleidete. Auch Helena, die Schwiegertochter des Großfürsten, und des letzteren Liebling, der Djak oder Sekretär Fedor Kurizyjin, schwärmten für die jüdische Ketzerei. Der Erzbischof Gennadius von Nowgorod war der erste, welcher ihr entgegenwirkte, die Verfolgung ihrer Anhänger einleitete und die Verbrennung derselben verlangte; er berief sich dabei auf „Erzählungen des deutschen Gesandten", wonach „der spanische König Ferdinand der Katholische seine Länder durch Auto da fé von Ketzern reinigt." Seine Bemühungen unterstützte der energische Joseph Ssanin, der Gründer des Wolokolamachen Klosters, der aber durch mildere Mittel, durch die Macht des Wortes, die Ketzer zu bekehren suchte und eine Menge Reden verfasste, die unter dem Titel „Profswjetitel" (der Aufklärer), in der russischen Kirchenliteratur erhalten sind. Aber die Stütze, welche die jüdische Ketzerei am Hofe, besonders an der Schwiegertochter des Großfürsten fand, war so bedeutend, dass sie nicht leicht zu besiegen war. Erst 1504 entschloss sich Iwan III. zur Berufung eines Duchowny Ssobor, eines geistlichen Konziliums. Dem Ausspruche desselben zufolge wurde dann schwere Strafe befohlen, einige der Ketzerei Überführte verbrannte man in Käfigen auf öffentlichen Plätzen, anderen schnitt man die Zungen aus; solche, die bloß verdächtig waren, warf man nur in Kerker oder sperrte sie für Lebenszeit in Klöster, wo sie strengen frommen Lebenswandel führen mussten . . .

Die Lust zur Sonderbündelei in religiösen Dingen konnte trotzdem nicht mehr erstickt werden. So fanden im sechzehnten Jahrhundert die Irrlehren des Matwej Baschkin und des Feodosius Kossoy viele Anhänger; beide verwarfen die Kirchendogmen von Jesus Christus.

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Und es ward immer ärger.

Die geringste Meinungsverschiedenheit, die kleinste abweichende Wendung in den Gebeten führten eine Kirchenspaltung herbei. Es fanden sich nämlich schon in den ältesten Zeiten kleine abweichende Lesarten in den Ritualbüchern, und jeder Russe hielt die Lesart seines Ritualbuches für die allein richtige. Das Ritualbuch enthielt für den gemeinen Russen die ganze Religion; es musste aber, um Gültigkeit zu haben, glatt, sauber und ohne Korrekturen sein. Wehe dem Schreiberlein, das Fehler machte; nicht nur dass ihm die glänzende Bezahlung entging, wurde ihm wegen der Verunstaltung des heiligen Textes noch schwere Strafe auferlegt, und keine Arbeit ward ihm mehr anvertraut. Zum Glück konnten die Auftraggeber nur selten lesen; machte also ein Schreiber einen Fehler, so ließ er ihn lieber stehen, als dass er ihn berichtigte.

So entstanden die zahlreichen verschiedenen Lesarten in den Ritualbüchern und dadurch die zahllosen Streitigkeiten.

Es geschah nach den Berichten des Chronisten von Nowgorod aus dem Jahre 1476 etwas Entsetzliches: In diesem Winter, klagt nämlich der Chronist, haben einige Philosophen angefangen zu singen: „O Herr, erbarme dich unser!" während es sonst bloß: „Herr, erbarme dich unser!" heißt.

Diesem Gräuel konnte nicht gesteuert werden, und es entstanden die heftigsten Kämpfe über die Berechtigung des O, bis die, so zu dem O standen, sich von der Mutterkirche trennten und eine Sekte bildeten.

Zar Wassily Iwanowitsch, ein energischer und kluger Fürst, wollte das Übel durch Vergleichung der verschiedenen Handschriften und Feststellung des authentischen Textes aus der Welt schaffen.

Er berief einen gelehrten Mönch vom Berge Athos, Maxim den Griechen, dessen Leben am besten von Kostomarow in seinen russischen „Biographieen" geschildert worden ist. Dieser Mönch war 19 Jahre lang als Verbesserer der Ritualbücher tätig. Seine Arbeit aber reizte bloß die unwissende Geistlichkeit; man begann gegen ihn zu wühlen und Ränke zu schmieden, und so wie auch heutzutage jeglicher, der im heiligen Russland gegen den Schlendrian ankämpfte, rettungslos von den Stützen desselben erdrückt würde, so musste endlich der tapfere Athosmönch den Feinden das Feld räumen. Er wurde als „Ketzer und Verderber der Kirchentexte" angeklagt und eingekerkert und dreißig Jahre lang in Haft gehalten; und auch dann noch hätten seine Gegner ihm die Freiheit nicht wiedergegeben, wenn ihn der Tod nicht erlöst hätte.

Dies grausame Exempel wirkte einige Zeit. Das Konzil, welches Iwan der Schreckliche 1551 berief, ging unverrichteter Sache auseinander. Nicht viel mehr Erfolg hatte der Versuch des Zaren, durch Drucklegung der Kirchenbücher weiteren Irrtümern vorzubeugen. Abgesehen davon, dass die fehlerhaften Texte nicht nur nicht verbessert, sondern noch mit neuen Fehlern vermehrt wurden, wagte kein Rechtgläubiger, die durch die teuflische Kunst erzeugten Bücher in die Hand zu nehmen.

Der erste Romanow ließ daher 1617 durch den Archimandriten Dionissy die Texte aufs neue prüfen. Da erhob sich aber ein solcher Sturm, dass Dionissy bald auf offener Straße gesteinigt worden wäre. Selbst der Zar vermochte nicht, seinen Archimandriten zu schützen. Dionissy wurde eingekerkert und wäre gewiss einem grausamen Tode verfallen, wenn nicht der Patriarch von Jerusalem sich seiner angenommen hätte.

Hierauf beschloss der Patriarch Nikon, den Kampf gegen die Dummheit aufzunehmen. Nikon war der gewaltigste aller russischen Kirchenfürsten, über dessen Leben eine ganze oft märchenhafte Literatur existiert, aus welcher die ernsthaften Arbeiten des Metropoliten Makarius von Moskau, Alexis Ssuworins Skizze in dem Buche Uber hervorragende russische Männer, Schuscherins ältere Schrift, welche auch 1788 in deutscher Sprache in Riga erschien, sowie die kulturhistorisch interessanten Novellen und ein Roman von D. L. Mordowzew hervorzuheben sind.

Nikon war unstreitig ein wahrhaft genialer Kopf, wie die Kirchengeschichte Russlands nur wenige kennt. Er beschloss, die lange vergebens versuchte Verbesserung der Kirchenbücher um jeden Preis durchzusetzen. Und es gelang ihm, allen Anfeindungen, allen Wühlereien zum Trotz. 1654 wurde ein Konzil nach Moskau berufen — damals herrschte Alexej Michailowitach — , die ältesten Handschriften wurden aus Byzanz und vom Berge Athos dorthin gebracht und mit den russischen verglichen. Aber die Feinde wühlten gegen Nikon, und endlich gelang es ihnen, auch ihn, den größten Geistlichen, den Russland je besessen, beim Zaren zu stürzen. Nikon ward 1666 zum einfachen Mönch degradiert und zu ewiger Gefangenschaft verurteilt und als — Antichrist ausgeschrien. In der Bibel steht, sagten des Patriarchen Feinde, dass 666 die Zahl des Antichrist sei. 1666 wurde Nikon gestürzt, mithin ist er ein Antichrist . . . Aber Nikons Gegner triumphierten zu früh. Schon ein Jahr nach des Patriarchen Fall, am 13. Mai 1667, wurden in einem neuen Konzil Nikons Verbesserungen von der Staatskirche angenommen, alle Andersdenkenden aber verflucht und Raskolniki, Kirchenspalter, benannt. So hatte Nikon gesiegt, allerdings um schweren Preis; er hatte seinem Werk sein Leben geopfert, denn ob auch seine Meinungen angenommen, seine Verbesserungen durchgeführt wurden, ließ man ihn doch zur Beschwichtigung des Volkes im Kerker . . . Die Pforten desselben sprangen erst auf, als ein neuer Zar den Thron von Moskau bestieg; aber man fand den großen Mann als Sterbenden . . .

Seit damals gewannen die Sektierer in Russland die ungeheure Bedeutung, welche ihnen dort eigentümlich ist. Zwar versuchte man sie auf alle mögliche Weise zu vernichten, die Hauptdissidenten, wie Nikons Gegner Awakum und Nikita Pustoswjät („Nikita der Lügenheilige"), der in Verbindung mit dem Fürsten Chowansky wenige Jahre später die Strjelitzön gegen den jungen Zaren Peter aufwiegelte, wurden schwer verfolgt und mit dem Tode bedroht. Aber die alte Erfahrung bestätigte sich: das winkende Martyrium befeuerte jung und alt, Männer und Weiber, in die Reihen der Dissidenten zu treten.

Die Regierung sandte Truppen und Schergen in die Ortschaften, wo sich die Sektierer zu ganzen Gemeinden organisiert hatten. Vernahm man im Dorfe von dem Nahen einer solchen Patrouille, so flüchtete „vor den heißhungrigen Wölfen" alles, was flüchten konnte, in die Wälder, in die Steppen, in die Berge; war Flucht unmöglich, so geschah es gar oft, dass sich Männer und Frauen in die Häuser und Hütten einschlossen und sich einen freiwilligen Feuertod bereiteten. Nach den Mitteilungen Nilskys in einer russischen Schrift über die Sektierer kamen 1687 im Paleostrowskyschen Kloster 2.700 Fanatiker auf diese Weise ums Leben.

Und „das Unkraut Satans" pflanzte sich fort und verbreitete sich durch das ganze Zarenreich und vergiftete die Seele des russischen Volkes.

Und als der große Zar Peter seine rücksichtslosen Neuerungen begann, als er mit barbarischer Grausamkeit die barbarischen Sitten seines Reiches zu zivilisieren versuchte, — da hatten die religiösen Dunkelmänner leichtes Spiel bei den rohen Massen, und der Zweifel an der Heiligkeit des Bestehenden konnte mächtig um sich greifen, oder andererseits zeitigte der fanatische Hang am Althergebrachten wilde Blüten.

Man klammerte sich an die alten Gebräuche, die der Zar, der Antichrist, zerstören wollte. Denn Peter galt dem russischen Volke gar bald, wie einst der Reformator Nikon, als der Antichrist, der Herr der Hölle. Seine wichtigsten Neuerungen waren Fallstricke des Satans. Der Pass mit dem kaiserlichen Wappen hieß das Siegel des Teufels. Der Befehl, den Bart zu rasieren, war ein Versuch, das Ebenbild Gottes zu entstellen, war eine Empörung gegen den Ratschluss des Herrn, der den Bart doch nicht umsonst hatte wachsen lassen. Peter verlangte, dass das neue Jahr nicht mit dem 1. September, sondern wie bei allen europäischen Völkern mit dem 1. Januar beginne. Das war doch gewiss Teufelswerk! Wie wäre es möglich, fragten die einen, am 1. Januar das neue Jahr zu beginnen, da vor Erschaffung des Menschen alles zur Ernte reif gewesen sein musste; sonst wäre ja der erste Mensch verhungert. Die anderen führten diesen Beweisgrund ins Feld: Am 1. Januar gab es ja keine Äpfel, mit denen Eva den Adam hätte verführen können . . . Um sein Volk aber doch seinem Wunsch geneigt zu machen, ließ Peter am 1. Januar 1700 überall im Reiche mythologische Festspiele aufführen, wobei auch Akrobaten und Magiker auftraten. Dies brachte das Volk erst recht zur Verzweiflung. Denn jetzt schien es klar, dass Peter der leibhaftige Antichrist war; die Festspiele bezweckten nichts anderes, als die Leute zu betören und dem Satan in die Arme zu führen. Nun kamen die Rechenkünstler und rechneten. In slawonischer Schrift stellt jeder Buchstabe — wie es im Hebräischen auch der Fall ist — zugleich eine Zahl vor. Da fand man, dass mit kleinen Abänderungen Peter der Erste = 666, die Zahl des Antichrist, ergab. Auch aus dem verhassten Titel „Imperator", welchen sich Peter statt des bisherigen „Zar" beigelegt, konnte man 666 heraustifteln, wenn man das ,m' fortließ : i = 10, p = 80, e = 5, r = 100, a = l, t = 300, o = 70, r = 100: zusammen 666. Das „m" bedeutet im Slawonischen 40, und das würde einen großen Unterschied gemacht haben. Aber die russischen Weisen wussten sich zu helfen. Ei, sagten sie, der Antichrist ist nicht so dumm, wie man glaubt, er lässt sich eben nicht immer mit der Zahl 666 fangen: daher hat er diesmal das m hineingeschmuggelt — aber wir lassen uns auch nicht fangen . . . Und Peter war und blieb der Antichrist. Übrigens wurde das Rechenkunststück mit 666 auf alle späteren sektenfeindlichen Herrscher ebenfalls angewandt; so ergab Katharina Alexejewna, so ergab Nikolai Pawlowitsch der Erste: 666. Dagegen konnte diese böse Zahl weder bei Alexander dem Ersten noch dem Zweiten herausgefunden werden. Zufällig haben Katharina und Nikolai die Sekten verfolgt, die beiden Alexander sie aber geschont; so deckt sich Theorie mit Praxis. Ob es gelungen ist, aus Alexander dem Dritten die 666 herauszuklügeln, weiß ich nicht.

Nach Peters Tod kam über Russland eine ziemliche Anarchie, und die Sekten konnten sich bequem über das ganze Reich ausbreiten.

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Im Jahre 1870 wurde die Zahl der Sektierer offiziell mit zwölfmal hunderttausend — 997.600 im europäischen und 178.400 im asiatischen Russland — angegeben. Die Zahl ist viel zu gering, und gute russische Kenner der Zustände schätzen die Zahl der der orthodoxen Kirche heimlich und offen Abtrünnigen auf 12 oder gar 15 Millionen.

Sie sind zum Teil harmloser Natur, zum Teil aber äußerst schädlich. Die Harmlosen sind die, welche mit der Mutterkirche aus religiösen Kleinlichkeiten schmollen.


So gibt es eine Sekte, die mit der Mutterkirche in Streit darüber liegt, ob man nach dem dreifachen Gloria zweimal oder dreimal Hallelujah singen muss. Wer dreimal Hallelujah singt, behauptet, dass er damit die Dreieinigkeit noch einmal ansinge. Und ein Erzbischof von Nowgorod erklärte schon vor mehreren Jahrhunderten feierlich, dass diejenigen, welche Hallelujah nach dem dreifachen Gloria nur zweimal singen, bloß zu ihrer eigenen Verdammnis singen. Die Gegner des dreifachen, die Anhänger des zweifachen Hallelujah, aber verhöhnen die verblendeten Dreimal-Hallelujah-Ketzer und sagen: Das dreifache Gloria bezieht sich wohl auf die heilige Dreieinigkeit; das Hallelujah aber darf nur zweimal gerufen werden, denn es bezieht sich bloß auf die doppelte Natur des Heilands, auf seine göttliche und menschliche. Ein Renegat, ein Heide, ein Hundssohn ist also, wer Hallelujah dreimal singt und so die Lehre von den beiden Naturen in Zweifel zieht . . .

Für eine andere Sekte besteht der Streitpunkt darin, dass die Staatskirche den Namen des Heilands Iïssus, also nach griechischer Art dreisilbig, ausspricht, während diese Sektierer nur Issus sagen.

Heftige Meinungsverschiedenheiten herrschen ferner darüber: ob man beim Opfergange nach rechts oder links zu gehen habe, ob das griechische Kreuz gültigerweise aus zwei sich senkrecht durchschneidenden Stäben bestehe, oder ob der Hauptstab von dreien durchschnitten werden müsse, um die Inschrift dos Pilatus und das Brett unter Christi Füßen mit anzudeuten.

Eine der wichtigsten Fragen aber ist: Wie bekreuzigt man sich? Die eine Partei wendet sich mit dem Daumen, dem vierten und dem kleinen Finger an die Dreieinigkeit und biegt dabei den Zeigefinger und Mittelfinger, um damit einzeln die doppelte Natur Christi, zusammen den gewölbten Himmel anzudeuten. Die andere Partei aber bekreuzt sich nur mit drei Fingern, biegt nicht die zwei andern und behauptet von der Gegenpartei, deren zwei gebogene Finger ließen glauben, Gott Vater habe zwei Söhne. Dafür entschädigt sich die erste Partei durch die Hoffnung, Christus werde ihre Gegner schon verdammen, weil sie durch das Nichtbiegen der zwei Finger ihm nicht genug Ehre antun.

In dem schon früher erwähnten großen Konzilium vom Jahre 1551 wurde die erste Form als heilig und richtig festgestellt und die Nichtbefolgung derselben als schwere Ketzerei erklärt und diejenigen, welche sich dem Beschluss des Konziliums zu widersetzen wagten, wurden mit dem Kirchenbann belegt.

Es ist geradezu unglaublich, was für Sekten es in Russland gibt, welche Arten Mystiker und Fanatiker dort ihr trübes oder lächerliches Dasein fristen.

Existieren doch dort Käuze, die sich an Dinge klammern, an weiche ein vernünftiges Wesen gar nicht denkt. Da sind die „Nichtbeter und Seufzer", deren ganzer Glaube darin besteht, dass sie statt zu beten, bei ihrem Gottesdienst — seufzen; sie verachten alle Symbole, verschmähen die sichtbaren Zeichen der Andacht. Charakteristisch sind ihre vier Weltalter. Sie unterscheiden: den Frühling von der Schöpfung bis Moses, den Sommer von Moses bis Jesus, den Herbst von Jesus bis zum Sturz Nikons, den Winter seit 1666 ...

Während die Seufzenden statt zu beten wenigstens seufzen, tun die Njenaschi (Nichtunsern) und die Moltschaniki (Schweigenden) nicht einmal das. Sie verneinen überhaupt jeden Glauben an Gott, Schöpfung und Unsterblichkeit. Dagegen behauptet eine andere Sekte, die der Shiwijo Pokoyniki (Lebend-Verstorbenen), dass der siebente Schöpfungstag noch jetzt fortdaure; es sei die Aufgabe der Menschen, den achten bald herbeizuführen ; die Lebend-Verstorbenen glauben an ein anderes Leben, erwähnen oft den Namen Christi und preisen sein Martyrium; das Leben auf Erden betrachten sie als eine Strafe, die Geburt eines Kindes als ein Unglück.

Eine Sekte wiederum glaubt, dass wir in der Zeit des Antichrist leben; auf dem Thron sitzt „Satan Beelzebulowitsch" und deshalb ist die Unterwerfung unter seine Befehle und Gesetze eine unheilige Tat. Sie weigern deshalb den Gerichten den Gehorsam und suchen sieh auf alle mögliche Weise ihren bürgerlichen Pflichten zu entziehen. Im Gegensatz zu diesen, welche im Reiche des Satans zu leben glauben, meint eine andere Gruppe von Sektierern, Christus regiere jetzt die Welt. Aber so wie jene Satan den Gehorsam weigern, so sagen die letzteren, da Christus regiere, brauchen sie keinen menschlichen Befehlen zu gehorchen — und sie zahlen keine Steuern, entziehen sich dem Militärdienst, verachten die Gesetze, verspotten die Beamten. Sucht diese Sekte aus ihrem Kultus praktische Vorteile zu ziehen, wie die Nichtbezahlung der Steuern, so schwebt einer andern Sekte ein helles Ideal vor. Es ist dies die religiöse Genossenschaft der Schaloputen oder „närrischen Käuze"; so nennt sie das Volk, sie selbst heißt sich jedoch „Genossenschaft wahrhaft geistiger Christen" oder „Bruderschaft des geistigen Lebens". Ihr Gründer war in den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts der Bauer Awakum Kopylow, welchen religiöse Zweifel auf die Wanderung trieben. Aber er fand keine Befriedigung, kehrte heim und konstruierte eine eigene Lehre. Die Schaloputen betrachten Vernunft und Gewissen als die Grundlagen des religiösen Erkennens. Die Bibel hat bei diesen Leuten keine volle Autorität und wird bloß da anerkannt, wo sie die Anschauungen der „geistigen Lebensbrüder" zu bestätigen scheint. Christus ist ihnen einfach ein gottbegnadeter Mensch, ein Genie; seine Wunder verneinen sie. Den heiligen Geist in religiösem Sinne leugnen sie und sagen, er sei in jedem Menschen, der ihn suche. Sündflut und Weltuntergang deuten sie allegorisch. Sakramente erscheinen ihnen unnütz. Sie haben meist gar keinen Gottesdienst. „Nicht die Balken schaffen die Kirche", sagen sie, „sondern im Herzen des Menschen sei sie errichtet!" Einmal wöchentlich versammeln sie sich zum gemeinsamen Lesen des Evangeliums, wobei sie durch geistliche Lieder die Seele erheben. Sie sind fast durchweg Bauern, in ihrem privaten Leben bescheiden und fleißig, denn Arbeit gilt ihnen als eines der wichtigsten Gebote ihres Glaubens. Sie haben auch eine Art Gütergemeinschaft eingeführt, bearbeiten gemeinsam die Felder und teilen den Ertrag; sie helfen bereitwillig den Dürftigen, doch nicht nur ihrer Sekte, — sie helfen allen Leidenden, die sich an sie wenden. In ihrer Häuslichkeit herrscht Friede und Eintracht, Sie schließen keine kirchliche Ehe, sondern nur einen freien Bund der Liebe.

Eine seltsame Gruppe bilden die Napoleowtschini; Napoleon I. gilt ihnen als Fleischwerdung Gottes, als wiedergekehrter Christus, der an den Ufern des Baikalsees lebt und von dort aus eines schönen Tages das Zarenreich, das Reich des Satans, zerschmettern wird, um dann die Herrschaft des Friedens und der ewigen Gerechtigkeit aufzurichten. Allerlei Bilder von Napoleon, bald wie er in die Schlacht zieht, bald wie er auf den Wolken schwebt, sind unter diesen sonderbaren Schwärmern, die sich selbst „weiße Tauben" nennen, häufig zu finden. Eine ihrer Legenden besagt auch, dass Napoleon nur deshalb den Zug nach Moskau unternommen habe, um den Zaren zur Aufhebung der Leibeigenschaft zu zwingen; dies habe er jedoch nur für die Ostseeprovinzen durchführen können. 1854 sei Napoleon noch einmal vor Sebastopol erschienen, habe den Antichrist Nikolai Pawlowitsch gezüchtigt, und Alexander der Zweite musste endlich nachgeben . . .

Die Sabbathianer oder Ssubotniki, welche ihre Lehre von einem im 15. Jahrhundert aufgetretenen karaiïtischen Propheten haben, feiern nicht den Sonntag, sondern den Sonnabend. Sie bezeichnen sich als das Volk Gottes, nennen sich auch das Volk Israel, Judäer, Juden, endlich Fremdlinge in Israel. Sie sind aber durchwegs slawischer Rasse, russischer Nation. Alle ihre Hoffnungen sind an die Erde gefesselt, nicht auf den Himmel gerichtet. Die Männer werden einer Cirkumcision unterzogen. Indem die Sabbathianer sich auf die Beispiele Abrahams, Jakobs, Ismaels und Davids berufen, gestatten sie die Vielweiberei. Jedes Sabbathianerdorf hat seinen Rabbiner. Diese Sektierer beobachten alle jüdischen Fest- und Fasttage und feiern besonders das Passahfest und den Versöhnungstag wie die frommsten wirklichen Juden.

Im Jahre 1770 trat in den Gouvernements Orel, Tambow und Tula ein gewisser Kondrati Seliwanow als Gott auf. Er gab sieh zugleich als Peter der Dritte aus. Das aber brach ihm das Genick. Er wurde gepackt und nach Sibirien verschickt Paul, der selbst zum religiösen Mystizismus neigte, ließ ihn zurückkehren und vor sich führen. Aber als der unverbesserliche Kondrati den Zaren als „Sohn" titulierte, ließ Paul den „Gott" ins Irrenhaus sperren. Da blieb er bis zu Pauls Tode. Alexander gab ihm die Freiheit und schickte ihn in eine Versorgungsanstalt. Als er hier wieder allerlei Unfug trieb, sperrte man ihn in ein Kloster, wo er 1832, angeblich 112 Jahre alt, starb. Die Zahl seiner Anhänger war nur gering.

Eine Menge Sekten, meist Abzweigungen von schon länger bestehenden, meist aber auch ganz neue, sind in den letzten Jahren entstanden. Unter ihnen befindet sich auch eine, die wahrhaft edle Ziele verfolgt. Dies ist die von Paschkow vor 20 Jahren gegründete Gemeinschaft, welcher meist Mitglieder der besten Gesellschaftsklassen angehören, die als Laienprediger unter das Volk gehen, um helfend und aufklärend zu wirken. 1874 erschien in Petersburg der berühmte Laienprediger Lord Radstock; von seinen Reden hingerissen, beschloss der frühere Gardeoffizier Wassily Alexandrowitsch Paschkow sich mit seinem Gut und Eigen dem Wohle der Menschheit zu widmen, die allumfassende Liebe zu predigen. Er ging mit gutem Beispiel voran, pflegte die Kranken, tröstete die Elenden, die Gefangenen, besuchte die Armen in den Fabrikhäusern, in ihren Hütten, und sein Anhang wuchs und wuchs. An jedem Sonntag Abend versammelte er dann in den Prunkgemächern seines Palastes, wo früher nur übermütige Feste abgehalten wurden, die Leidenden und Bedrückten, um sie zu lehren und zu bilden. Das war der Regierung eines Tages unangenehm; sie fürchtete nihilistische Versammlungen, und 1880 verbot sie plötzlich die „Soireen". Trotzdem blüht noch heute diese Sekte, welcher wohl jeder Mensch ferneres fröhliches Gedeihen wünscht.

Im Gouvernement Astrachan hörte ich bei meiner Reise, dass dort Anhänger einer Sekte existieren, welche man die Spuckersekte nennen könnte. Einer ist das geistliche Oberhaupt und trägt ein Kreuz auf der Brust. Bei den Versammlungen im Bethaus, zu welchen die Frauen in weißen Kleidern erscheinen müssen, treten die Sektierer mit gekreuzten Armen vor ihren Geistlichen hin und lassen sich von ihm segnen.

Dann setzen sich alle um einen Tisch, auf welchem für jeden eine Tasse Tee mit einem Imbiss steht. Der Geistliche geht um den Tisch, spuckt mit seinem heiligen Spuck in jede Tasse und der Trank ist geheiligt und kann genossen werden. Nach dieser schönen Speisung stehen die lieben Leute beseligt auf und stimmen fromme Hymnen an.

Sehr viel Verbreitung, unter den Landleuten insbesondere, findet die erst vor wenigen Monaten entstandene oder wenigstens bekannt gewordene Sekte der Selesnowzen, welche man schon heute auf etwa 12.000 Köpfe schätzt. Ihre Bekenner befinden sich hauptsächlich im Gouvernement Smolensk, namentlich in den Dörfern Tschalsk und Senijonowsk. Die Selesnowzen helfen einander mit guten Ratschlägen, mit Brot und, wenn sie's haben, auch mit Geld. Die in Russland jetzt herrschende Not wird wohl die Urheberin dieser Sekte sein. Einmal in der Woche versammeln sich die Selesnowzen, Männer und Frauen, in dem Hause eines ihrer Genossen — besondere Bethäuser haben sie nicht — und disputieren über die beste Art, nach Gottes Gebot und zu seinem Wohlgefallen zu leben. Spezielle Prediger haben sie nicht; jedermann aus ihrer Mitte, ob Mann ob Frau, darf predigen. Sie leugnen jede „Sichtbarkeit" in religiösen Dingen, verwerfen die Heiligen und Heiligenbilder, sind aber keineswegs fanatisch gegen die Bekenner anderer Lehren, an Feiertagen dürfen sogar die Popen kommen. Umgekehrt werden daher auch die Selesnowzen vorläufig weder von der Regierung noch von der Geistlichkeit verfolgt und genießen bei der übrigen, nicht sektierenden Bevölkerung allgemeine Achtung. Die Anschauungen der Selesnowzen lassen sie den Fortschritt in allen Dingen als erwünscht erkennen, sie sind alle des Lesens und Schreibens kundig, studieren das Evangelium und fleißig auch die von Leon Tolstoi unter dem Titel Possrednik, der Vermittler, herausgegebenen aufklärenden Volksschriften. Ja, einige russische Schriftsteller, welche mit den Selesnowzen in Berührung kamen, behaupten, zu ihrem größten Erstaunen unter diesen Bauernsektierern Leute gefunden zu haben, welche die Werke von Buckle, Spencer und Mill besser kannten als mancher gebildete Europäer und dass sie philosophische und kulturgeschichtliche Gespräche mit Geist und Verstand führten. Mit ihrem Streben nach Bildung geht ihr Wunsch Hand in Hand, ihre wirtschaftliche Lage zu bessern, und während die Bauern der Umgegend die Erde noch mit Hakenpflügen bearbeiten, scheuten sie sich nicht, des Widerstandes der konservativen Landbevölkerung trotzend, englische Pflüge einzuführen und Versuche zu machen, das ganze Agrikultursystem zu reorganisieren.

Zu den jüngsten Sekten gehören die durch Anregung des Dichters Tolstoi entstandenen. Seit 1880 trat ein Bauer Basil Sutajew auf, der eine großartige Organisation der christlichen Liebestätigkeit in sozialistischem Sinne anstrebte. Sein Vorgehen ward von dem Dichter sympathisch begrüßt, und mit Begeisterung sprang der gräfliche Bauer vom Pegasus in das mystische Reich religiöser Sektiererei. Wie weit er es da gebracht hat, ist bekannt. Teilweise hätten wir auch schon die Entstehung der Selesnowzensekte auf seine moralischen Lehren zurückführen können. Während die Selesnowzen meist Bauern sind, hat sich nun nach den Grundsätzen der „Kreutzersonate" die Perchowtzensekte gebildet, deren Begründer nach den Mitteilungen eines Mitarbeiters des Standard ein begüterter Edelmann und deren Anhänger hauptsächlich Leute von höherer Bildung sind. Die Perchowtzen arbeiten auf ihren eigenen Gütern wie gewöhnliche Bauern und tragen Bauernkleidung. Wenn sie auf ihren Gütern nicht genug Arbeit finden, verdingen sie sich als Arbeiter an andere Orte, wo sie ihrer Lehre neue Anhänger zuzuführen trachten. Sie behaupten, die gegenwärtige menschliche Gesellschaft sei so unheilbar verderbt, dass es das Beste sei, sie sterbe aus. Sie verabscheuen daher die Ehe. Nach vollendetem Tagewerk beschäftigen sie sich mit der Auslegung des Evangeliums in Tolstois Sinne.

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Mackenzie Wallace teilt die Sekten ein: in solche, welche die heilige Schrift als Basis ihres Glaubens annehmen, aber die darin enthaltenen Lehren durch gelegentliche Inspiration oder innere Erleuchtung ihrer leitenden Mitglieder auslegen und vervollständigen; zweitens in solche, welche die heilige Schrift wenig oder gar nicht beachten und ihre Lehre aus der vermeintlichen Inspiration ihrer Lehrer entnehmen; drittens in Sekten, welche an die Wiedermenschwerdung Christi glauben, und viertens in Sekten, welche Religion mit nervöser Erregung verwechseln und mehr oder weniger erotischer Natur sind.

Andere teilen die russischen Sektierer in priesterliche und priesterlose.

Die Priesterlichen erkennen die staatskirchliche Priesterweihe als solche an und wählen ihre Geistlichen aus der Zahl der von orthodoxen Bischöfen geweihten, sobald diese zu ihnen übertreten und nach ihren Ritualbüchern zu amtieren sich verpflichten. Zu den „Priesterlichen" oder Popowzy gehören die Anhänger des Mönchs Hiob, der 1667 im Lande der donischen Kosaken auftauchte, die Anhänger des Jepifany, die Diakoniten, die Peremasanzy oder Neu-Salbenden und die Genossenschaftler von Tschernobol; die letzteren glauben an das Ende der Welt , bekämpfen das Passwesen, verweigern den Eid und verehren wie die Katholiken das Kreuz nur mit dem Gekreuzigten, als Kruzifix.

Zahlreicher sind die priesterlosen Sekten. Deren Anhänger beichten ihren Ältesten oder auch den Bahas, den alten Weibern, welche Vergebung zu verleihen imstande sind. Statt des Abendmahls genießen manche Rosinen, die von reinen Jungfrauen verteilt werden. Einige Sektierer, die Gähnenden, halten Gründonnerstag den Mund auf, damit Engel sie unsichtbar laben; andere trinken Menschenblut. Schließlich gibt es auch solche — ihre Zahl ist groß — die gar kein Abendmahl verlangen, keine Buße tun und auch keine kirchliche Ehe anerkennen, sondern einen bloßen Vertrag zwischen Mann und Weib. Diese Sekten sind zumeist schon Ausgeburten menschlichen Wahnsinns, wie die Ssoshigateli oder Selbstverbrenner; ein Häuptling derselben, Domitian, verbrannte sich einmal mit seiner ganzen Gemeinde von 1700 Personen; eine ähnliche Schaudertat beging ein anderer Häuptling, Sehaposhnikow, Gott zu Ehren, vor nicht langer Zeit in der Nähe von Tobolsk. Gleiche Ziele verfolgen die Pomorzy (die am Meere wohnenden) und die Kapitonen. Die verbreitetste unter den priesterlosen Sekten ist die der Theodosianer, die alle Sakramente verwerfen und die Staatsgesetze nur bedingungsweise anerkennen. Von Andersgläubigen bereitete Speisen genießen sie nicht. Im allgemeinen von guten Sitten, ehrlich und fleißig, sind sie nur in betreff der Ehe sehr freigesinnt.

Waren die im vorigen Kapitel geschilderten Sekten teilweise harmloser Natur, teilweise sogar von edlen Anschauungen geleitet, so haben wir nun die fanatischen und gefährlichen zu betrachten, welche unter dem Deckmantel religiöser Besonderheiten sinnlichen Lastern und Verbrechen frönen. Das sind die hirnverwirrten Anhänger der Sekten der Stranniki, Chlysty, Skopzen, Skakuny und wie die Namen noch alle lauten mögen.

Einigermaßen bekannt sind im Auslande die Skopzen oder Verschnittenen, die gegen Ende des 18. Jahrhunderte zuerst aufgetaucht sein sollen. Sie glauben, dass Selbstverstümmelung sowohl den Männern als den Frauen das Himmelreich eröffne. Sie gelten als sehr reich und konnten trotz aller Verfolgungen nicht ausgerottet werden. Ihre Andachtsübungen bestehen in wilden Tänzen, auch haben sie eine Art Hierarchie.

Der erste Prophet der Stranniki oder Wanderer, die man auch Läufer, Flüchtlinge oder Tänzer nennt, war ein Deserteur Jefim, der, nachdem er von verschiedenen religiösen Genossenschaften ausgestoßen worden, selbst eine gründete. Die Stranniki behaupten, in ewiger Flucht vor dem Antichrist zu sein, brechen jede Beziehung zu Staat und Kirche ab, vernichten ihre Personaldokumente und führen in Wäldern und abgelegenen Gegenden ein zuchtloses Leben. Zu ihnen gehören Laienbrüder, die in den Städten als scheinbar fromme, rechtgläubige Christen leben, aber nur, um die Behörden zu täuschen und ihren Genossen desto leichter Unterkunft geben zu können.

Einen entsetzlichen erotischen Kultus treiben die Chlysty und Skakuny.

Den Skakuny wurde 1867 der Prozess gemacht, weil sie Kinder mordeten. Aber vertilgt sind sie trotzdem nicht.

Wahnsinnige Zustände herrschen bei den Chlysty. Sie bezeichnen sich als „Leute Gottes" oder als „betende Brüder und Schwestern" und nennen ihre Genossenschaft „Chris towschtschino, Christusbund". Das Volk aber änderte dieses Wort in „Chlystowschtschino, Geislerbund."

Der oberste Würdenträger der Chlysty heißt Christus, die oberste Würdenträgerin, Mutter Gottes oder auch Großfürstin, die Genossenschaft im allgemeinen „das Schiff“.

Ihren religiösen Hauptzweck bilden Offenbarungen, die sie in erregtem Zustande vom Himmel zu empfangen glauben. Nach Eröffnung ihrer Versammlung, die sie in Scheunen oder Schluchten oder sonst verborgenen Stellen abhalten, wird aus dem Evangelium vorgelesen und gesungen. Dann gibt der Älteste ein Zeichen, Männer und Frauen werfen ihre Kleider von sich und behalten nur ein weites weißes Hemd auf dem Leibe. Und plötzlich beginnen sie sich im Kreise zu drehen, die Lichter verlöschen, im Dunkel hüpfen sie wild durcheinander, jeder sucht ein Weib zu erfassen, und die gräflichsten Szenen spielen sich ah.

Dass solcher sinnliche Wahnsinn unter religiösem Mantel auch anderswo Platz greifen konnte, ersah ich einmal zufällig aus einer Stelle in dem Buche des Reisenden Jonas Hanway, welcher eine verblüffend ähnliche mohammedanische Sekte schildert: „Zu Sahrie" — sagt er — gibt es ein gewisses Volk, das Moum Seundurain oder Lichtauslöscher genannt wird. Diese sind das Gegenteil von den römischen Matronen, die den geheimen Gottesdienst der Bona Dea verwalteten, welchen es für die größte Unheiligkeit angesehen wurde, Mannespersonen in ihrer Gegenwart zuzulassen. Zu den Gebräuchen der Moum Seundurain sind beide Geschlechter notwendig. Diese versammeln sich, essen und trinken tapfer und löschen unter tiefem Stillschweigen und mit größter Feierlichkeit ihre Lichter aus, verwechseln ihre Stellen durcheinander und werfen alle Vorzüge vernünftiger Kreaturen beiseite. Obgleich die mohammedanische Religion vor allen anderen Religionen den Venusdienst nachsieht: so ist doch diese Sekte mehr als einmal verfolgt worden, und wird von den Mohammedanern gar sehr verabscheut" . . .

Was ich eingangs gesagt, dass die russische Regierung die schlimmen Elemente in Ruhe lässt, die besseren aber verfolgt, bezieht sich im letzten Teil hauptsächlich auf die drei nun zum Schluss zu schildernden Sekten der Duchoborzen, Malakanen und Stundisten.

Die Duchoborzen hat man die Quäker der griechischen Kirche genannt; denn gleich den Quäkern glauben sie an eine unmittelbare Einwirkung des heiligen Geistes. Sie besitzen eigentümliche Vorstellungen von den Funktionen der Seele, des Verstandes und des Herzens. Schriftliche Denkmäler, in denen diese Vorstellungen ausgedrückt wären, haben sie indessen keine, sondern bloß mündliche Traditionen, wodurch allerdings manche Dogmen verstümmelt worden sind.

Über die Duchoborzen ist schon viel Interessantes geschrieben worden. So ist die Studie des Professors Nowitzki in Kijew sehr belehrend und genau. Kein Reisender, der Südrussland bereist hat, konnte an diesem Völkchen achtlos vorübergehen; die Deutschen Petzholdt, Karl Koch, Wagner, Erckert, Thielemann widmeten ihnen kleinere und größere Exkurse in ihren Werken. Als die beste Arbeit über die Duchoborzen erscheint mir die Skizze eines ungenannten Offiziers im elften Bande der Baltischen Monatsschrift, welche auf durchwegs eigenen Beobachtungen und Erlebnissen beruht und für meine Mitteilungen über die Duchoborzen als Hauptquelle benutzt wurde, wobei ich einige kleine persönliche Reminiszenzen beifügte.

Da die Duchoborzen eine der wichtigsten und interessantesten Sekten des Zarenreiches bilden, sei es mir gestattet, bei ihnen etwas länger zu verweilen.

Die Duchoborzen selbst leiten die Entstehung ihrer Sekte von den drei Knaben im feurigen Ofen ab, davon der Prophet Daniel Erwähnung tut. Als den Begründer der Sekte nennen sie meist einen gewissen Siluan Kolesnikow, der zu Ende des 18. Jahrhunderte im Dorfe Nikolskoje im Jekaterinoslawschen Gouvernement lebte. Andere dagegen datieren den Ursprung der Duchoborzen, und es scheint nicht mit Unrecht, viel weiter zurück, und lassen Kolesnikow bloß als berühmten Glaubenshelden gelten; denn man glaubt zu wissen, dass schon in früheren Jahrhunderten in den südlichen Gouvernements, wie Tschernigow, Kursk, Charkow, Jekaterinoslaw , Woronesh, Tambow und Haaratow, Duchoborzen lebten und verfolgt wurden. Alexander der Erste ließ ihnen im taurischen Gouvernement im Melitopischen Kreise eine große Strecke unbebauten Landes zu freiem und ruhigem Leben anweisen. Sie bildeten hier eine Kolonie von 9 Dörfern und vermehrten sich so stark, dass man schon im Jahre 1832 mehr als 800 Familien zählte. Unter der Regierung Nikolays brachen wieder schlimmere Zeiten für sie an, an denen sie freilich selbst nicht schuldlos waren. Sie versagten den Behörden den Gehorsam und wollten keine Rekruten stellen, weil man dabei schwören musste, was aber nach ihren Satzungen verboten war. Die Regierung begnügte sich daher mit einem Ehrenwort statt des Eides. Aber selbst dieses Nachgeben des Staates nützte nichts, die Widerspenstigkeiten wurden immer ärger, worauf 1841 ihre strafweise Übersiedlung nach Transkaukasien befohlen wurde; hier führten sie bis auf den heutigen Tag ein friedliches und glückliches Leben, bis Pobedonoszews wilder Fanatismus sie jäh aufstörte.

Das Land der Duchoborzen, das sogenannte Duchoborje, liegt im westlichen Teil des Achalkalakischen Kreises, auf einer von kahlen Bergen durchkreuzten hohen Ebene.

Das Klima ist hier ziemlich ungesund, namentlich fordert der Typhus alljährlich viele Opfer.

Der Winter herrscht vom September bis März, zuweilen bis April, ist aber sehr mäßig und übersteigt selten 12 Grad Reaumur; die Menge des Schnees dagegen ist sehr bedeutend; derselbe liegt so locker, dass beim geringsten Winde sich Schneegestöber erheben.

Der kurze Sommer bietet den Einwohnern nur geringe Freuden. Kaum hat man Zeit, das Heu einzuheimsen und sich mit den nötigen Mitteln für den Winter zu versorgen. Das Haupterwerbsmittel ist der Verkauf von Heu, wobei nach Faden gerechnet wird.

Vieh halten die Duchoborzen verhältnismäßig wenig. Die Gebäude bestehen selten aus Holz, sondern sind zumeist aus in Quadern geschnittenen Kisjak- oder Düngerstücken aufgeführt und recht sorgfältig geweitet; das Dach besteht aus Sparren, bedeckt mit einer dicken Schicht Stroh; das Innere der Hütten ist, trotzdem zur Heizung ebenfalls Kisjak verwendet wird, hell und geräumig, im Gegensatz zu den benachbarten Armeniern, welche den Dünger feucht und unachtsam ins Feuer werfen, wodurch schwere Dünste entstehen, lassen die Duchoborzen das Material erst gut trocknen.

Korn besitzen diese Gegenden fast gar nicht — auf den schier leblosen Steppen gedeihen nicht Getreide und Früchte. Nirgends ein Wald, ein Feld, ein Garten oder auch nur eine Wiese. Das zu ihrem Bedarf nötige Getreide kaufen die Duchoborzen auf den Bazaren von Achalkalaki oder Alexandropol.

Die Duchoborzen sind meist von kräftiger Gestalt und äußerlich den deutschen Kolonisten ähnlich, deren Tracht und Sitten sie vielfach übernommen haben. Ihre Charakterzüge sind Offenheit, Ehrlichkeit, Treue. Ein gegebenes Wort vertritt den Schwur und wird nie gebrochen. Die Frauen sind schön, aber nicht bloß wie die russischen Dorfschönen: bäurisch kräftig und rotbackig, — sondern von feinem, blassem Ansehen, haben ovalen Gesichtsschnitt, edlen Ausdruck; dazu kommt die nette Reinlichkeit, die appetitliche Kleidung. Letztere besteht aus einem weißen, feinen Hemd mit breiten ausgenähten Ärmeln und einem bunten Rock. Auf dem Kopf ein niedriges rundes Mützchen, sehr kunstreich aus verschiedenfarbigen dreieckigen Läppchen zusammengesetzt Die Mädchen schneiden die Haare vorn ein wenig ab und tragen sie rückwärts in Flechten, die verheirateten Weiber halten das unverminderte Haar rückwärts unter der Mütze. Arbeitslust, Frühaufstehen, Häuslichkeit sind große Tugenden der Duchoborzinnen. Abends verachten sie nicht einen kleinen Tratsch, zuweilen gesellen sich fröhliche Bursche dazu, und die Jugend lacht und scherzt, während die Alten einem kräftigen Gläschen Feuerwassers weniger abgeneigt sind, als man bei diesem mäßigen Volke glauben sollte.

Merkwürdig ist, dass die eheliche Treue nicht streng gehalten wird. Die Leidenschaft für Reinlichkeit und Nettigkeit in der Kleidung artet oft in Putzsucht aus und führt zur Verderbnis der Sitten. Die Männer strafen nicht zu streng und lassen die Frauen gewähren. Kur wenn eine es zu arg und zu öffentlich treibt, kommt sie vor das Gemeindegericht und wird dann zur Strafe nackt durch das Dorf geschleppt und von der hinterher trabenden Menge, unter der sich wohl manche Gleichschuldige befinden mag, mit Hohn und Kot beworfen.

Die Leichtigkeit, mit welcher die eheliche Treue gebrochen wird, ist vielleicht eine Folge der Leichtigkeit, mit welcher man die Ehe eingeht.

Wenn sich zwei Personen heiraten wollen, ist eigentlich nur noch das Einverständnis der beiderseitigen Eltern erforderlich. Dann versammeln sich Bekannte und Verwandte im Hause der Eltern des Bräutigams oder der Braut, wo das älteste Mitglied der Familie die beiden Liebenden als Mann und Frau erklärt. Ähnlich geschieht es bei einer Scheidung, die Übrigens selten vorkommt.

Es lebt in den Duchoborzen viel Poesie und viel Symbolik. Ein alter Duchoborze versuchte einmal folgondermaßen die eigentümliche Glaubenslehre der Duchoborzen in einer poetisch eingekleideten Erzählung darzustellen:

Weit, weit von hier, sprach der alte Duchoborze, in einer dem menschlichen Verstände unerreichbaren Gegend liegt ein blaues Meer, aus dem blauen Meere ragt eine Insel. Undeutlich, mit dichtem Nebelgewande verhüllt, erscheint sie zuweilen dem Seefahrer; ewige Wellen bewegen das Meer und verwehren dem menschlichen Fuße den Zutritt zur Insel . . . Dieses Meer und diese Insel stellen das menschliche Schicksal vor: neblig, undeutlich liegt es vor uns, bis der Mensch seinen Kahn durch die wilde Brandung des Lebens zum stillen Hafen des Todes zwängt. Ein hoher Tempel, nicht von Menschenhänden am ersten Tage der Welterschaffung errichtet, steht auf der Insel, und das Gewölbe wird von soviel Säulen getragen, als es Religionen in der Welt gibt, und bei jeder Säule steht ein Mensch, der sich zur Religion bekennt, deren Bild diese Säule darstellt. Eine einzige Säule ist von reinem Golde, und diese ist das Symbol des reinen wahren Glaubens zu Gott, der die Insel, sowie Himmel, Erde und Wasser geschaffen hat; die übrigen sind von Stein, das ist die falsche Weisheit des Menschengeistes, der in seinen Sünden versteinert ist. Alle diese Säulen, sowohl die goldene als auch die steinernen, sind mit Marmor bekleidet: das ist die Unwissenheit des Menschen, die ihm den freien Blick in das Licht der göttlichen Lehre entzieht. Und niemand kann das Gold sehen, aber jeder Mensch sagt dem andern, dass er den goldenen Schaft des wahren reinen Glaubens in der Hand halte . . . Jahrhunderte vergehen, die Welt altert und veraltet, es drückt sie schwer der Zorn des Allerschaffers, und es kommt die Stunde des allgemeinen und furchtbaren Unterganges, die Wogen des Meeres wälzen Blut und Feuer, der Himmel stürzt ein, es erzittert die Erde in ihren Fugen, und es fällt der herrliche Tempel, nicht von Menschenhänden am ersten Tage der Welterschaffung errichtet. Der Marmor springt ab von den Säulen, und licht erglänzt die goldene Säule und leuchtet allein über die steinernen Säulen und über die ganze Welt hin, wo nur Finsternis und Qual herrschen, und alle Menschen erkennen das Gold und fallen auf ihr Angesicht, geblendet von dem Lichte der göttlichen Wahrheit. Wehe dein, der einen steinernen Schaft in der Hand hielt; wohl dem, der aber seinem innerlichen Christus gehört; in ihm allein ist Rettung. Wir alle aber sind Blinde und wissen nicht, wer das Gold des wahren Glaubens in der Hand hält . . .

Ganz sonderbar hat sich bei den Duchoborzen die Lehre von der Dreieinigkeit und der Person Christi entwickelt. Zwar glauben sie an einen dreieinigen Gott; aber in der Seele des Menschen offenbart er sich, sagen sie: als Gott der Vater in der Gedächtniskraft; als Gott der Sohn in dem Verstände; als der heilige Geist im Willen.

Das Erdenleben des Heilands fassen sie symbolisch auf, als ein Wohnen desselben in den Herzen der Menschen; er wird in der Seele eines jeden Menschen empfangen und geboren, predigt dort das Wort der Wahrheit, leidet und stirbt und ersteht dort wieder.

Die Duchoborzen halten dabei nicht nur das Christentum für das Alleinseligmachende, Sie glauben, dass auch jeder Jude, Mohammedaner und selbst Heide, der wahr und gut ist, ins Himmelreich kommt. Die Höllenqualen bestehen nach ihnen in den Vorwürfen des Gewissens.

Die Seele ist das Ebenbild Gottes. Aber nach dem Sündenfall verschwand das Ebenbild Gottes, das Gedächtnis wurde geschwächt, und der Mensch vergaß, was er früher gewesen, der Verstand stumpfte sich ab, und der Wille, nicht mehr vom heiligen Geist regiert, fiel leicht dem Zuge des Schlechten anheim.

Danach ist auch ihre Auffassung der biblischen Erzählung von Adam und Eva modifiziert, welche nunmehr als ein symbolisches Bild des Erdenlebens erscheint.

Die Seele, sagen die Duchoborzen, ist schon vor der Welterschaffung gefallen, mit den übrigen bösen Engeln zugleich. Die Welt wurde für sie nur als Gefängnis geschaffen, wohin sie für ihr Vergehen versetzt wurde. Also; nicht erst mit dem angeblichen
Sündenfall, mit dem unglückseligen Biss in den süßen Apfel, kam die Sünde in die Welt, sondern Adam und Eva waren schon Bündig erschaffen, die ganze Geschichte mit dem Feigenblatt ist ein Märchen, eine Komödie.

Auf diese Lehre gründet sich das Gebot der Duchoborzen, nicht um die Toten zu jammern, ihr Ende nicht zu beweinen; denn dies Ende ist nicht ein Sturz aus irdischem Glück, sondern eine Erlösung aus dem Gefängnis, Erde oder Welt genannt. Der Tod ist Verzeihung, ist Ende der Strafe, auf Erden zu wandeln.

Im Schicksal Abels erblicken die Duchoborzen die Verfolgung der Gerechten durch die Ungerechten oder die Kaine. Der Turmbau von Babel erscheint ihnen symbolisch als die Zertrümmerung des alten wahren Glaubens, als die Ablösung der falschen Religionen von der echten. Der Zug der Israeliten durch das Rote Meer und der Untergang der Ägypter in den plötzlich wieder zurückkehrenden Fluten ist die Rettung der Gläubigen, die Vernichtung der Sündigen.

Die Sakramente werden ganz verworfen. Geistliche sind keine vorhanden, und selbst die Beschlüsse der allgemeinen Konzile, welche von vielen Sekten anerkannt werden, haben hier keine Gültigkeit.

Die Apostel und die Heiligen der griechischen Kirche genießen wohl Achtung und Verehrung, aber nur als Menschen, die sich durch besonders frommen und schonen Lebenswandel ausgezeichnet.

Das Sichbekreuzen ist eine unnütze Zeremonie, und töricht ist das Beten für die Nächsten und die Feinde oder für diejenigen, „die Gewalt über uns haben": die Obrigkeit, das Staatshaupt; denn ein jeder hat schon genug für sich selbst zu beten und zu bitten. Auch Fasten kennt man nicht.

Alle Menschen sind gleich; die Duchoborzen wollen weder von Herren noch Knechten wissen, sondern nur von gleichberechtigten Brüdern. Daher nennen sogar die Kinder ihren Vater bloß: Alter, ihre Mutter bloß: Wärterin. Der Gatte nennt die Gattin Schwester, die Gattin den Gatten: Bruder. Vater wird nur Gott genannt.

Dank wird mit dem Wort: Gott helfe dir! ausgesprochen.

Waffen existieren nicht, denn der Krieg, das Blutvergießen ist eine sündhafte und ungerechte Sache; das Evangelium predigt Liebe und Erbarmen, und das heilige Gebot sagt: Du sollst nicht töten!

Liebe und Erbarmen ist eins ihrer wichtigsten Gesetze. Daher leben sie in größeren Gemeinden, damit in Unglücksfällen dem einzelnen durch alle leichter geholfen werden könne.

Verboten ist Streit und Schlägerei, verboten jegliches Schimpfwort. Erlaubt ist dagegen das bei den Altgläubigen verpönte Tabakrauchen.

Das sind die Hauptsatzungen und Gebote, welche streng befolgt werden.

Gebetet wird wenig, ihre religiösen Gebräuche sind gering und höchst einfach.

Jeden Morgen, vor und nach dem Essen, sowie vor dem Schlafengehen stellt sich die ganze Familie in einem Kreis auf, und das Haupt derselben spricht ein Vaterunser oder einen Psalm.

Ein jeder Mensch, welchen Glaubens immer, kann das Bethaus der Duchoborzen besuchen. Kein Mensch, sagen sie, kann den Tempel Gottes durch seine Gegenwart entheiligen, sondern nur durch schlechte Taten.

Die Männer stellen sieb links auf, die Weiber rechts. Am oberen Ende des Hauses steht ein hölzerner Tisch, auf diesem ein hölzernes Fass mit Salz und Brot. Sonst kein Ornament im ganzen Gebäude. An dem Tisch steht der Vorsänger, der Älteste, und spricht einen Psalm, der Chor der Beter fällt ein. Die geistlichen Gesänge bestehen aus verschiedenen Bibelsprüchen, die aus dem Zusammenhange gerissen und oft sinnlos aneinandergereiht sind. Nach Beendigung des Psalmes tritt der Zweitälteste an den Tisch, nimmt den Ältesten an der Hand, und beide verbeugen sich voreinander zweimal. Darauf küssen sie sich und verbeugen sich ein drittes Mal. Nun tritt aus dem Kreise der Drittälteste und macht die gleiche Zeremonie mit dem Ältesten und Zweitältesten. Dann kommt der Viertälteste, und so fort, bis alle Männer an die Reihe gekommen sind. Nach den Männern kommen die Weiber.

Man muss das Ebenbild Gottes im Nächsten verehren, sagen nämlich die Duchoborzen, und fügen in einigem Widerspruch mit ihrer sonstigen Lehre, dass das Ebenbild Gottes verloren gegangen, hinzu: der Mensch vertritt Gott auf Erden. Ja, sie gehen noch weiter, und obgleich sie die Heiligenbilder verpönen, wählen sie selbst aus ihrer Mitte einen hübschen Knaben, den sie die „Gottesmutter" nennen und mit abergläubischer Ehrfurcht als Gottheit betrachten. Diese Gottesmutter besitzt einen Hofstaat aus allen jungen Mädchen der Duchoborzendörfer, und kein Mädchen verheiratet sich, das nicht einige Zeit bei der Gottesmutter gelebt — — Es ist daher kein Wunder, dass die Entsittlichung und gleichsam die Selbstverständlichkeit derselben bei den Duchoborzen so eingenistet ist. Ähnliche Gebräuche fanden wir ja bis zu haarsträubenden Verrücktheiten auch bei anderen Sekten, welche aber nur den erotischen Kultus kultivieren, ohne im übrigen die besseren und edleren Satzungen der Duchoborzen zu beachten.

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Den Duchoborzen in vielem verwandt sind die Malakanen oder Milchesser, so genannt, weil sie in der Fastenzeit im Gegensatz zu den Bekennern der orthodoxen Religion Milch genießen. Sie werden von einigen als ein Zweig der Duchoborzen betrachtet, während sie selbst sich als die Muttersekte der Duchoborzen erklären und ihre Existenz bereits im 10. Jahrhundert nachzuweisen versuchen. Andere glauben, dass der Ursprung der Malakanen ins 16. Jahrhundert, auf die Lehren ausländischer, nach Russland gelangter Protestanten zurückzuführen sei. Die älteste bekannte Urkunde über diese Sektierer ist ein Aktenstück aus der Epoche der zweiten Katharina.

Die Stärke der Malakanen ist bedeutend; diese Sekte zählt viele hunderttausend Anhänger. Sie wurden von der Regierung in die östlichen und südöstlichen Gebiete, namentlich nach der Krim, nach Sibirien, nach dem Kaukasus und besonders nach dem Gouvernement Ssamara an der Wolga verbannt; es leben indes auch viele Molokanen in den inneren Gouvernements, so in Tambow.

Obgleich die Malakanen jeder Frömmelei oder gar dem Fanatismus ganz unzugänglich sind, gelang es doch vor nicht langer Zeit einem gewissen Iwan Gregorjew, als Prophet aufzutreten und einige, allerdings wenige, Anhänger zu gewinnen. Er predigte, man müsse leben wie die ersten Christen und alle Dinge gemeinsam haben; diese Gemeinschaft solle auch freie Liebe einschließen. In Orloff-Hai, in der Nähe von Ssamara, gelang es ihm auch, eine solche kommunistische Gemeinschaft zu gründen, die aber nur von kurzer Dauer war, weil der Prophet wegen Passfälschung ins Gefängnis kam und die neue Lehre sich keine besonderen Sympathien zu erobern vermochte.

Der Engländer Mackenzie Wallace, der die Malakanen nach eigenen Beobachtungen schildert — er lernte sie im Gebiet von Ssamara kennen — , meint, dass die Lehren der Malakanen dem Presbyterianismus sehr ähnlich sind, wobei indessen ein wichtiger Unterschied zu beachten ist: Der Presbyterianismus hat eine kirchliche Organisation und ein geschriebenes Glaubensbekenntnis, und seine Lehren sind schon lange Zeit infolge öffentlicher Diskussionen, polemischer Literatur und allgemeiner Versammlungen bestimmt festgesetzt worden; die Malakanen dagegen stützen sich wie die Duchoborzen auf mündliche Traditionen; sie haben keine Gelegenheit gehabt, ihre Fundamentalgrundsätze zu entwickeln und ihre unbestimmten religiösen Anschauungen in ein klares, logisches System zu bringen; ihre Theologie ist deshalb noch in einem halbflüssigen Zustande, so dass es unmöglich ist, vorauszusagen, welche Form dieselbe allendlich annehmen wird; außerdem gewähren ihre fundamentalen Grundsätze individuellen und lokalen Meinungsverschiedenheiten einen großen Spielraum; sie behaupten, dass die heilige Schrift die einzige Richtschnur für den Glauben und Wandel des Menschen ist, aber dass dieselbe dem geistigen und nicht dem wörtlichen Sinne nach ausgelegt werden muss; da es keine irdische Autorität gibt, welcher zweifelhafte Punkte überwiesen werden können, so ist es jedermann anheimgestellt, jene Auslegung anzunehmen, die seinem eigenen Urteile als richtig erscheint; doch versichert Mackenzie Wallace, bei ihnen nirgends den fanatisch dogmatischen, wortklauberischen Geist angetroffen zu haben, der die Seele der Sektiererei ist.

Dass die russische Regierung die Duchoborzen und Malakanen verfolgt, gehört zu den russischen Rätseln. Die Regierung behauptet, dass die Duchoborzen und Malakanen politisch unzufrieden und deshalb staatsgefährlich seien. Aber schon Mackenzie Wallace erklärte dies nach bestem Wissen und Gewissen als eine grundlose Verleumdung und sagte namentlich von den Malakanen: „Während meines Verkehrs mit den selben habe ich sie häufig wohl von der Polizei als von Wölfen, die gefuttert werden müssen, sprechen hören, aber Uber den Kaiser äußerten sie sich nie anders, als in Ausdrücken kindlicher Anhänglichkeit und Verehrung" . . . Das war freilich in der Epoche Alexanders des Zweiten, der gleich seinem Oheim Alexander dem Ersten die Sekten in Frieden ließ. Aber Alexander der Dritte befolgt das Beispiel des Zaren Nikolay, und der auf die Duchoborzen und Malakanen ausgeübte systematische Druck mag manche Widerspenstigkeit erzeugt haben.

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Die in letzter Zeit am meisten genannte, weil am meisten verfolgte Sekte ist die der Stundisten.

Ihre Entstehung reicht etwa zwei Jahrzehnte zurück. Jobannes Bonekemper aus dem Wupperthale wurde 1824 Pastor in der reformierten Gemeinde in der Kolonie Rohrbach, 60 Kilometer von Odessa. Unter seinen, zum großen Teil aus Schwaben eingewanderten Gemeindekindern fand er den altwürttembergischen Gebrauch des „Stundenhaltens" : die Leute kamen abends im Schulsaal zusammen, sangen einen Choral, ein Bauer hielt das Gebet ab, ein Stück der heiligen Schrift wurde verlesen und darüber disputiert. Johannes Bonekemper ließ die Kolonisten bei diesem Gebrauch, und als sein Sohn Karl 1867 ihm im Amte folgte, änderte dieser gleichfalls nichts. Ende der Sechziger Jahre gesellte sich dem Kreise der Kolonisten ein schlichter frommer Bauer orthodoxen Glaubens, Michael Ratuschny aus Osanowa; die Andachtsübungen gefielen ihm, und als er in seinen Heimatsort wiedergekehrt war, gründete er eine Sekte, die Stundisten.

Der Glaube dieser Sekte lehrt Gleichheit aller Menschen und verlangt umfassende Betätigung der Bruderliebe. Die Stundisten erkennen keine Kirche, keine Priester, keine Sakramente an. Den Sonntag aber halten sie heilig. Der Genufs des Branntweins, das Tabakrauchen, das Fluchen und gemeine Reden sind verpönt. Die Ehe wird vor dem Gemeindeältesten geschlossen, eine Scheidung ist nicht zulässig. Strenge Arbeit ist Pflicht, dabei aber darf nichts erspart werden, denn der Überfluss an Erwerb, sagen sie, führt zu Lastern. Die Obrigkeit, also auch den Zaren, erkennen sie theoretisch nicht an, da ein rechter Christ nur Gott als Oberhaupt hat; da aber die Zeit des wahren Gottesreiches noch nicht da ist, fügen sie sich vorerst in die Staatsgesetze.

Lange Zeit lebten die Stundisten unbehelligt Gegen Ende des Jahres 1881 erschienen in der deutschen Petersburger Zeitung drei Feuilletons über diese Sekte, welche sie meines Wissens zuerst ausführlich schilderten, ohne die Regierung zu Maßregeln gegen sie zu reizen. Bald aber bemächtigten sich die russischen Blätter der Sache und begannen einen wütenden Feldzug, welcher bis heute ununterbrochen währt. Allen voran schreitet die ehemalige Katkowsche Zeitung, die Moskowskija Wjedomosti, welche zuletzt am 23. Juni 1892 durch eine gehässige Schilderung der Stundisten die Regierung zu neuen strengen Verordnungen anfeuerte. Und die russische Regierung liefe sich nicht lange bitten, hörte auf die Denunziationen, und wenige Tage später unterbreitete der Minister des Innern dem Reichsrat einen Gesetzentwurf betreffs Maßregeln gegen den Stundismus. Derselbe wird danach als eine durchaus staatsgefährliche und Glaubens feindliche Sektiererei erklärt und behandelt; Stundisten können weder Stellen von Vorstehern, Richtern oder Schreibern der Bezirke und Ortschaften, noch sonst irgend ein öffentliches Amt bekommen; Stundisten dürfen keine Dienstboten oder Arbeiter orthodoxen Glaubens verwenden, und natürlich ist es auch den Orthodoxen verboten, Stundisten in Dienst zu nehmen, Personen, welche überwiesen werden, Bekenner des orthodoxen Glaubens zum Stundismus bekehrt zu haben, und Stundisten, die sich unehrerbietiger Worte oder Handlungen gegen die orthodoxe Religion oder deren Priester schuldig machen, unterliegen den schwersten Strafen.

Und wie ernst dieses Gesetz gemeint war, zeigte sieb sofort Aus Tinis kamen dem Londoner Daily Chronicle grauenvolle Jammerschilderungen über die Lage der verfolgten Stundisten, Malakanen und Duchoborzen zu. Man riss Männer aus den Kreisen ihrer Familien und verbannte sie in ferne Ortschaften, an die Grenzen Persiens, in die Wüsten Transkaspiens, in die Ödnisse Sibiriens. Die Hinterbliebenen dieser Armen aber wurden zu orthodoxen Leuten „in Kost" gegeben . . .

Weshalb diese barbarische Verfolgung gerade der Stundisten? Die Gegner derselben behaupten, dass die Stundisten verkappte — Deutsche sind; dass sie jedermann, der sich ihnen anschließt, zu germanisieren suchen; dass von dem Augenblick an, wo ein Russe zum Stundismus Übertritt, der Bekehrte die russische Nationalität abstreift, nicht nur den russischen Glauben; dass er sich auch in seinem ganzen Äußern ändert, Schnurrbart und Backenbart nach deutscher Art stutzt, Kleider nach deutschem Schnitte trägt, die deutsche Sprache erlernt, sein Heim nach deutscher Art schmückt und das Russentum zu hassen beginnt . . . . .

Den Maßregeln der Regierung ist es indessen bisher nicht gelungen, die Stundisten zu vertilgen. Dafür ist, wie es oft zu geschehen pflegt, aus der Mitte der Stundisten eine neue Sekte, welche sich „Neu-Stundisten" nennt hervorgegangen; während aber die Muttersekte edlere Ziele verfolgt, ist die neue Abzweigung unter dem Druck der Verhältnisse, in der Aussicht auf bevorstehendes Martyrium zu einer solchen geworden, welche die schon bestehenden fanatischesten und verrücktesten weit zurücklässt. Selbst in Russland, wo man an die wilden Gebräuche der sonderbarsten Sekten so gewöhnt ist, dass man von ihnen kaum noch Notiz nimmt, ist man durch das Auftreten dieser, unerhörtem Wahnsinn huldigenden Fanatiker entsetzt worden, und die Mitteilungen, welche der russische Geistliche und Schriftsteller Skworzory über die modernen Flagellanten zu machen weiß, lesen sich wie Phantasien eines Irrsinnigen. Vor allem kennzeichnet die Neu-Stundisten das krampfhafte Schütteln, die wilde Tobsucht, in welche sie sich bei ihren religiösen

Versammlungen versetzen. Herumlaufen im Kreise, rastloses Händeschlagen, unartikulierte Schreie, wirbelndes Kopfwackeln, Lachen und Weinen, gräuliches Gesichterschneiden — sind die Mittel, um diesen Zustand zu erreichen. Zitternd am ganzen Körper brechen sie nach dieser „Arbeit für Gott" zusammen und künden ihre phantastischen Gesichte. Alle verwandtschaftlichen Bande haben sie abgestreift ; sie verwerfen den Begriff von Vater und Mutter, von Gatte und Gattin, von Bruder und Schwester, selbst das Geschlecht erkennen sie nicht an. So lange sie können, fasten sie, um sich dann durch ganz geringe Nahrung zu weiterer Qual zu stärken. Arbeit suchen sie keine, ihr Vieh haben sie verkauft und ihr ganzes Hab und Gut, und ihre Felder liegen brach; nur ihrem religiösen Dienst leben sie . . .

Doch genug, genug des grenzenlosen menschlichen Wahnsinns . . .
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Aus dem modernen Russland.