Torquemada in Russland.

Die Weltgeschichte wiederholt sich . . .

Was gerade vor vier Jahrhunderten in Spanien geschah, geschieht heute in Russland.


Was Ferdinand de Torquemada in Spanien war, das ist heute im heiligen Zarenreich Konstantin Petrowitsch Pobedonoszew. Während aber der Dominikanermönch in den 17 Jahren seines schrecklichen Regiments, von 1481 bis 1498, bloß 8.000 Menschen lebendig verbrennen ließ und andere 90.000 an den Bettelstab brachte, kann sich der Oberprokureur des Heiligen Synods weit größerer Taten rühmen.

Nach Zehntausenden zählen die Unglücklichen, die seinem blinden Fanatismus zum Opfer fallen; nach Zehntausenden die Armen und Elenden, welche von ihm vertrieben rastlos von Ort zu Ort wandern; nach Hunderttausenden diejenigen, welche er dem Hungertod, der Verkommenheit preisgibt.

Ach, wahrlich eine Wohltat wäre es da, wenn Konstantin Petrowitsch wenigstens die Gnade des Feuertodes gewähren wollte.

Allein er martert die Leute langsam zu Tode. Allee, was nicht orthodox, griechisch-orthodox ist, soll unter grässlichem Weh und Ach vom Erdboden vertilgt werden.

Die Mittel, welche Pobedonoszew anwendet, um seine Zwecke zu erreichen, sind Lug und Trug. Falsche Berichte an den Zaren, falsche Zeugen — alles ist recht. Es gibt nichts, und sei es noch so sonnenklar, das er nicht zu verfinstern, — und nichts, sei es noch so wahr, das er nicht zu entstellen wusste.

Seine Meisterwerke aber sind seine Fälschungen der Geschichte.

Russland ist es gewesen, sagt Pobedonoszew, welches Europa vor dem Eindrang der Mongolen bewahrt hat. Ach, er weiß nicht, dass die Wahlstatt von Liegnitz, der Berg Holstein bei Olmütz und alle, alle anderen Orte, wo die Mongolen aufs Haupt geschlagen wurden, nicht in Russland liegen. Er weiß nicht, was selbst die nationalsten Russen nicht leugnen: dass Feigheit und Kleinheit im Lande zwischen Weichsel und Wolga herrschten, als die Mongolen einbrachen.

In Erfüllung einer göttlichen Mission hielt Russland die Wacht zwischen zwei Weltteilen, spricht Pobedonoszew ruhmselig weiter. Aber wir können ihm mit dem Geständnis des großen russischen Denkers Tschadajew entgegnen, welcher wehklagend ausruft: „Wir gehören zu den Nationen, welche keinen notwendigen Teil der Menschheit zu bilden scheinen, welche nur da sind, damit die Welt sich an ihnen eine große abschreckende Lehre nehme . . .“

Gleichzeitig mit dem Katholizismus, sagt Pobedonoszew einmal, lernte Russland leider auch das Luthertum kennen, das durch die livländischen Ritter, welche Russland den Weg zur Ostsee versperrt hatten, vertretene Luthertum, Gleichzeitig! Russland kannte den Katholizismus schon im Jahre 1054 und früher — als das Luthertum noch gar nicht existierte. Und das nennt der hochgebildete Pobedonoszew gleichzeitig!

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In den baltischen Landen, wo durch lange Jahrhunderte deutsches Leben und deutsche Sitte, deutscher Fleiß und deutsche Kultur geblüht, herrscht nun die russische Willkür. Die von Peter dem Großen und Katharina II. den Ostseeprovinzen zugesicherten Rechte, welche noch unter Alexander II. geachtet wurden, sind jetzt völlig vernichtet.

Es ist nicht notwendig, des langen und breiten zu erzählen, mit welcher Treue und Aufrichtigkeit die Balten den russischen Herrschern gedient haben. Das ist genugsam bekannt.

Noch nicht genugsam bekannt aber ist die Rohheit, mit welcher Pobedonoszews Regierung die heiligsten Rechte verachtet, um an Stelle guter alter Sitten moderne orientalische Barbarei zu rücken. Erbärmliche Kreaturen setzt sie als Herrscher über gebildete Völker. Wo Friede und Ruhe gewaltet, da entfacht sie Hass und Zwietracht, Betrug und Verleumdung.

Aus ehrlichen treuen Untertanen bildet sie gewaltsam zornerfüllte Revolutionäre. Despotisch wütet sie gegen Protestanten, Katholiken, Juden und Sektierer, gegen Andersgläubige fremder Nationen, gegen Andersdenkende der eigenen Rasse, in Finnland und in Polen, in Livland und Estland. Nur macht sie da und dort einen Unterschied in der Schärfe ihrer äußeren Mittel; nur hängt sie da und dort ein dünnes, ganz dünnes Schamschleierchen über ihre Absichten. So in Finnland, wo sie den starken Volksgeist fürchtet; so in Polen, wo sie schon manchen bösen Denkzettel bekommen hat; so in Livland, wo die großdeutsche Nachbarschaft doch ein bisschen einschüchternd wirkt. Ungehindert aber wogt der Strom ihrer Wut über die unglücklichen Juden, die unglücklichen Sektierer, die unglücklichen Esten . . .

In Estland begann der Versuch, das Volk der russischen Kirche und damit der „russischen Kultur und Freiheit" zu gewinnen, schon vor vielen Jahren. Bereits in den siebziger Jahren, vorläufig allerdings ohne Erfolg, regte sich die panslawistische Propaganda in Estland.

Die Seele dieser Propaganda war ein zum Slawentum übergelaufener Deutsch-Este , Namens Jakobson, der in jüngeren Jahren Küster bei einer evangelisch-lutherischen Gemeinde gewesen, aber durch hässliche Geschichten um Amt und Brot gekommen war. Er hatte deshalb seiner väterlichen Religion und dem Deutschtum bittere Rache geschworen und sich der Partei des Pobedonoszew in die Arme geworfen.

Durch diese erhielt er in Petersburg das Diplom eines Lehrers der Kalligraphie und wurde als solcher in die vornehmsten Häuser der Residenz eingeführt, schließlich sogar vom Großfürsten Konstantin Nikolajewitsch für den Schreibunterricht seiner Tochter Olga, der jetzigen Königin von Griechenland, aufgenommen.

Dieser Jakobson war von Jugend auf bis zu seinem letzten Atemzug ein Schwindler. Er fälschte Urkunden und stahl wie ein gemeiner Dieb. Einmal ertappt, verstand er es mit Hilfe seiner höchsten Gönner, den Prozess zu verschleppen, bis er dem Urteil durch den — Tod entronnen war . . .

Das war der Mann Pobedonoszews. Alle Schandflecken, die dem Individuum anhafteten, hinderten die Regierung nicht, Jakobson als Regierungsvertreter nach Estland zu schicken, damit er dort Hafs und Feindschaft unter den Bürgern säe, die Esten gegen die Deutschen, die Deutschen gegen die Esten, die Bauern gegen den Adel, den Adel gegen die lutherische Geistlichkeit hetze.

Um seine Zwecke besser verfolgen zu können, gründete Jakobson eine von der Regierung unterhaltene estnische Zeitschrift „Sakala", in welcher allen bestehenden estnischen Zuständen der Krieg erklärt wurde, während die panslawistische Propaganda ihre Polypenarme immer fester und fester um das unglückliche Esten-Volk schlang . . .

Nach Jakobsons Tod wurde die Mission von gleich ehrenhaften Männern fortgesetzt und vollführt, — und Estland ist heute bereits längst russifiziert.

Schlau ging man zu Werke, um das estnische Volk zu betören. Man sprach von der Absicht, ein mächtiges Esten-Reich zu gründen. Die estnische Sprache sollte herrschend werden bei den Behörden und in den Schulen, wo bisher alles deutsch gewesen.

„Eesti keel ja Eesti meel" — estnische Sprache und estnischer Sinn! Das war der Lockruf der panslawistischen Apostel. Und als die Esten sich dann wirklich des Deutschtums entledigten, da erhielten sie statt des erwarteten Estentums — das Slawentum. Und dieselben Blätter, welche gestern für das Verdrängen des Deutschtums zu Gunsten des Estentums geschwärmt, predigten heute das Russentum als das alleinseligmachende und verpönten das Festhalten des Volkes am Estentum als ein namenloses Unglück.

Und was solcher List nicht gelang, das setzte fort und beendete brutale Gewalt. Man verletzte das Volk in seinen zartesten Gefühlen, man raubte ihm seine althergebrachten Sitten und Gewohnheiten, man nahm ihm seine Religion und zwang ihm dafür die orientalische Orthodoxie auf. Man löste alle Familienbande, hetzte die Gattin gegen den Gatten, die Kinder gegen die Eltern, verlockte durch Geld und gute Worte, durch allerlei törichte Vorspiegelungen und Versprechungen zum Übertritt. Und eines Tages wurde ganz offen erklärt, die gewaltsame Einführung des griechischen Glaubens in Estland sei unbedingt notwendig. Folgender Vorfall gab den Anlass dazu.

Ein estnisches, evangelisch-lutherisches Sonntagsblatt hatte in seiner geistlichen Anrede an die Gemeinde geschrieben:

„0 Herr, reinige wieder dein Haus. Wo es zur Mördergrube geworden ist, da mache es wieder zum Tempel. Gib gnädig, dass in unserm Land und in der ganzen Welt dein Wort klar und rein gelehrt und gehört werde."

Wer kann aus diesen Worten Hass gegen Andersgläubige heraustifteln?

Das vermochten nur die russischen Regierungsapostel, die krampfhaft nach einem Vorwand zum Beginn neuer Agitationen suchten. Mit heller Entrüstung erklärten sie, die zitierten Worte bewiesen, dass „die Prediger der evangelisch-lutherischen Kirche in den baltischen Provinzen mittelalterliche Unduldsamkeit gegen die griechische Kirche" hegten, und kamen zum Schluss, es wäre die höchste Zeit, diese mittelalterlich unduldsamen Prediger zu vertreiben, zu vernichten.

Und ihre Weherufe fanden Wiederhall in den russischen Blättern, und die panslawistischen Herren, so die Feder fuhren können, füllten ihr Tintenfass mit Gift und Galle und schrieben lang und breit von dem „schweren, mörderischen Kampf", welchen die Orthodoxie in Estland um ihre Existenz führte, und riefen Himmel und Erde, den Zaren und Pobedonoszew um Schutz und Hilfe an.

Und mit Genehmigung des Kaisers leitete Pobedonoszew eine Agitation zur Rettung der in Estland so „himmelschreiend bedrückten und bedrohten Orthodoxie" ein.

Aber das Merkwürdigste war, dass plötzlich eine aus dem esthnischen Volk selbst erstandene Abordnung in Petersburg erschien und um die Gnade endlicher und vollständiger Russifizierung bat. Allerdings durfte man diesen „estnischen" Abgeordneten nicht zu tief ins Herz, nicht zu hell ins Gesicht leuchten. Einer der Herren war ein bestrafter Dieb, ein anderer wurde später wegen Brandstiftung nach Sibirien verschickt. Diese beiden Ehrenmänner waren estnischer Nationalität; die anderen alles eher, nur nicht Esten. Alle „Abgeordneten" aber hatten gemeinsam, dass sie weder im Auftrag des estnischen Volkes, noch aus ehrlicher persönlicher Überzeugung, sondern bloß als Söldlinge der panslawistischen Partei handelten.

Das alles aber genierte die Regierung nicht im geringsten. Man nahm die Leute gern gläubig als estnische Gesandtschaft auf, bewirtete sie ehrenvoll und versprach die sofortige freudige Erfüllung der estnischen Wünsche.

Popenmissionen gingen nach Estland und begannen dort eine Popenwirtschaft. Sie verteilten Flugschriften, welche im Namen des Zaren die Esten aufforderten, die Deutschen zu verderben und sich den russischen Befreiern anzuvertrauen, in Tausenden Exemplaren unentgeltlich unter das Volk. Solche revolutionäre Broschüren passierten anstandslos vor dem Auge der streng wachenden Zensur. Dagegen verfielen die estnischen und noch mehr die deutschen Bücher und Schriften willkürlichen Verboten und Verstümmelungen. Das Lied „Ein' feste Burg ist unser Gott“ wurde wie ein Revolutionslied verpönt und verfolgt, und von dem Titelblatt eines alten Volkskalenders der Bibelspruch, welcher durch lange Jahre auf demselben gestanden, gestrichen. Denn dieser Bibelspruch hieß: „Der Herr kennt den Weg der Gerechten, aber der Gottlosen Weg vergeht." Ach ja, das böse Gewissen der Gottlosen fürchtete sich vor dem schlichten Bibelspruch . . .

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Solche unglaubliche Lächerlichkeiten, wie die eben geschilderten, hatte das Vorgehen der Regierung Pobedonoszews zahlreiche im Gefolge. Aber nicht für möglich halten möchte man trotzdem den folgenden Vorfall, wenn derselbe nicht durch unumstößliche Zeugnisse wahrheitsgetreuer und ehrenfester Männer, unter anderem auch des estnischen Pastors Lööralt, gleichwie durch die Berichte der russischen Blätter selbst, festgestellt wäre.

In unwirtlicher Gegend des östlichen Estlands liegen ein paar kleine Dörfer mit ausnahmslos evangelisch-lutherischer Bevölkerung. Längst hatte diese beabsichtigt, sich eine Kirche zu erbauen, in welcher die Alten und Gebrechlichen, die nicht nach den entfernt liegenden Bethäusern der größeren Dörfer wandern konnten, das Abendmahl empfangen sollten. Endlich nahm man den Bau in Angriff. Die Gutsherren lieferten das Material, und die Bauern übernahmen die Anfuhr und leisteten Arbeitstage zu dem auf dem Kuremägi oder Kranichberg begonnenen Bau des Gotteshauses.

Kaum erfuhr Pobedonoszew davon, so machte man in Petersburg plötzlich die Entdeckung, dass der Kuremägi eigentlich Püchtiz heiße und ein orthodoxes Heiligtum sei. Vor Zeiten, so erklärte man, hat sich dort die Mutter Gottes gezeigt; dort ist ein vom Himmel gefallenes wundertätiges Bild gefunden worden; dort fließt eine heilige wundertätige Quelle . . .

Und sofort wurde der Bau der lutherischen Kirche untersagt, und in den panslawistischen Blättern erhob sich wieder ein großes Gejammer über die Unterdrückung der Orthodoxie in den baltischen Provinzen, so dass sich „auf dem Boden russischen Heiligtums" und „inmitten einer ausnahmslos orthodoxen russischen Bevölkerung" ein evangelisches Gotteshaus „von gewaltigen Dimensionen" erheben konnte.

Die estnische Gemeinde sandte zwar in ihrer Not einige Männer nach Petersburg, um höheren Ortes die Freigebung des Bethausbaues zu erwirken. Allein diese wirklich estnischen Abgeordneten wurden bei ihrer Ankunft in der Residenz am Bahnhof von Gendarmen erwartet, verhaftet, in Arrestantenkleider gesteckt und per Schub nach Hause zurückbefördert. Und auf dem Kuremägi entstand kurz darauf eine prachtvolle russische Kathedrale, wo alljährlich am 14. und 15. August unter Entfaltung großartigen Pompes, unter Beteiligung der höchsten Administratoren dos Gouvernements und besonderer Abgesandter des Heiligen Synods und des Zaren ein großes orthodoxes Kirchenfest abgehalten wird. Zu demselben wird wohlweislich auch das umwohnende lutherische Volk in herzlichen Worten geladen, damit es, vom Pomp und Weihrauch benebelt und betört, seinen Glauben verrate und zur Orthodoxie übertrete . . .

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Aber nicht nur Pomp und Weihrauch sind die Mittel Pobedonoszews, um Seelen zu gewinnen. Auch der Schnaps spielt eine große Rolle, ja die größte. Agitatoren ziehen von Schenke zu Schenke und zahlen den Leuten Getränke, soviel sie mögen, und wenn die so Gekaperten aus schwerem Rausch erwachen, sehen sie an ihrem Halse das orthodox griechische Kreuz baumeln, zum Zeichen, dass sie während ihrer Bewusstlosigkeit zum „Kaiserglauben" bekehrt worden. Nach den Mitteilungen des Pastors Lööralt, der vielfach Zeuge dieser traurigen Geschichten sein musste, wird den „Bekehrten" fast nie klar gemacht, dass es sich um einen Bekenntniswechsel handelt, sondern man redet ihnen ein, den „Kaiser- und Reichsglauben" anzunehmen, um der Vorzüge teilhaftig zu werden, welche der Kaiser angeblich allen schenken wird, „die sich zu ihm bekennen, die sich ihm opfern". Ausdrücklich wird betont, dass der Glaubenswechsel an sich nichts bedeute. Selbst von äußeren Formen, welche die orthodox-griechische Kirche sonst so stark hervorhebe so vom Fasten, werden die Neubekehrten entbunden. „Ihr armen Leute hungert ja genug", sagen mit erheucheltem Mitgefühl die Popen. Die Popen! Wenn
die Bekehrer nur immer Popen wären! Aber zumeist sind Schurken, selbst Diebe und Mörder, in besseren Fällen gewöhnliche Handwerker und Tagelöhner, die kaum zu lesen oder zu schreiben verstehen, diejenigen, welche die Bekehrungen zur Orthodoxie vollziehen — im Namen Gottes, im Namen des Zaren, im Namen des Heiligen Synode! . . .

Dennoch machte sich Pobedonoszew kein Gewissen, auf die Frage des Zaren, ob denn die Bekehrten für den orthodoxen Glauben gehörig vorbereitet würden, gegen besseres Wissen zu antworten: Jeder, der zum griechischen Bekenntnis bekehrt wird, erhält durch sechs Monate Unterricht in allen orthodoxen Glaubenslehren, hat dann eine dreitägige öffentliche Prüfung zu bestehen, und hierauf erst nimmt man ihn in den Schoß der griechischen Kirche auf! . . .

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Pobedonoszews heuchlerisches Wesen bekundet auch der jüngst von ihm ins Leben gerufene Erlass, demzufolge keine Juden getauft werden sollen, welche dies wegen der materiellen Existenz tun. Und doch verlangt Pobedonoszew eine einzige Kirche für Russland, für die Welt, und doch versucht Pobedonoszew alle Mittel, um die Juden Russlands entweder zu ruinieren oder griechisch-orthodox zu machen . . . Das ist Wahnsinn, aber keine Methode.

Handelt Pobedonoszew rücksichtslos, wo er auf die protestantischen und katholischen Völker Europas und auf die politischen Verhältnisse doch noch etwas acht geben muss, wie viel freier kann er seinem Fanatismus die Zügel schießen lassen, wenn es sich um Juden, um vogelfreie Juden handelt. Da kennt er keine Schranken, da braucht er keine strafende Gerechtigkeit zu fürchten, da genieren ihn keine politischen Rücksichten, kurz — da kann er sich einmal so recht nach Herzenslust auswüten.

Einst trat Pobedonoszew vor den Selbstbeherrscher aller Reußen mit der schlichten Frage:

„Herr, willst du, dass die russische Rasse, welche 50 Millionen zählt, bestehe und herrsche, oder soll den 4 Millionen Juden die Führerrolle in unserem Lände zufallen?"

Natürlich entschied sich der Zar für die russische Rasse.

Da entgegnete Konstantin Petrowitsch: „Dann, Majestät, vertreibe die Juden. Denn die Juden sind ein Volk von Parasiten. Sie zehren am Mark unseres geliebten großen russischen Volkes, sie verderben unsere einfachen Sitten, sie ruinieren unseren Wohlstand."

Im Widerspruch zu dieser Erklärung steht aber die folgende:

„Alle Juden sollen sich taufen“, meint Pobedonoszew, „sie sollen orthodox werden, und ich bin überzeugt, dass dies zu ihrem und auch zu unserem Vorteil sein wird. Die Juden sollen sich taufen und mit dem russischen Volk vermischen. Die Juden sind ein Volk von höchster Intelligenz, die Russen haben Kraft und Bildungsfähigkeit. Wohl werden die ersten Generationen, welche aus dieser Mischung entstehen werden, noch nicht recht taugen. Das Schlechte, das dem Judentum anhaftet, kann hier noch nicht ausgerottet sein. Allein die jüdische Intelligenz, verbunden mit der russischen Kraft und Bildungsfähigkeit, wird siegen über alle jüdischen Unarten, die den Nachkommen dieser Mischlinge noch im Blute stecken würden — und die späteren russisch-jüdischen Generationen werden jenes Volk bilden, welches die Welt zu beherrschen bestimmt ist . . . „

Dieser Widerspruch zeigt am besten, auf welchen Füßen die Anschauungen Pobedonoszews stehen oder richtiger — schwanken.

Ist Pobedonoszew wirklich von der Schlechtigkeit des Judentums oder von seiner Intelligenz überzeugt — vorläufig trachtet er, mit allen Mitteln die völlige Vernichtung der jüdischen Rasse in Russland herbeizuführen.

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Pobedonoszews Bedeutung verrät sich nicht im geringsten in seiner äußeren Erscheinung.

Einen Bismarck erkennt man unter Tausenden, wohl selbst, wenn man sein Bild nie gesehen haben sollte, als einen weltbewegenden Geist schon an seinem Äußeren, an seinen Augen, seiner Stirn, jedem Zug dieses mächtigen Gesichtes. Aber Konstantin Petrowitsch Pobedonoszew, der Nebenzar von Russland, der gern den Bismarck in der inneren Verwaltung Russlands spielen möchte, der im Zarenreich einen Kulturkampf ohnegleichen entfesselt hat, Pobedonoszew, ein magerer alter Herr mit einer spitzen Nase, mit von Brillengläsern geschützten Augen, mit einer feinen, von spärlichen grauen Haaren eingefallen Stirn, mit klugem, glattrasiertem Gesicht, — wird von jedem eher für einen friedsamen Gelehrten, als für Russlands allmächtigsten streitbarsten Minister gehalten werden.

Im buchstäblichen Sinne lebt Konstantin Petrowitsch ausschließlich seinem Amt als Oberprokureur des Heiligen Synods, was er seit 1881 ist. Seine Stellung ist nicht bloß eine kirchliche, wie häufig angenommen wird, sondern die eines selbständigen Ministers, etwa eines „Kultusministers für die Staatskirche", wie Samson-Himmelstjerna treffend umschreibt.

Als Vertreter des Kaisers mit weitgehenden Vollmachten ausgestattet, ist der Oberprokureur des Heiligen Synods das einzige weltliche Mitglied dieser aus den Metropoliten von Nowgorod-Petersburg, von Moskau-Kolomna und von Kijew und aus neun zeitweise berufenen Bischöfen und Obergeistlichen bestehenden höchsten Kirchenbehörde des Reiches. Kein Beschluss derselben tritt ohne vorgängige Zustimmung des Oberprokureurs in Kraft, der in wichtigen Fällen die Entscheidung des Kaisers einholt und unmittelbar an denselben berichtet. Unter seiner Aufsicht und Leitung stehen die kirchlichen Lehranstalten, Akademieen und Seminarien, direkt von ihm ressortieren die Kanzleien der Eparochialkonsistorien, er ist Mitglied des Ministerkomitees und des Reichsrates, er steht den Ministern im Range gleich und muss in jeder das Interesse der Staatskirche mittelbar oder unmittelbar berührenden Angelegenheit vorher angehört werden.

Peter der Große war es, welcher nach Vernichtung der bis dahin bestandenen Patriarchen würde dieses Amt schuf, das seit damals zu den bedeutendsten des Reiches gehörte, seine Blütezeit aber erst unter dem Günstling Alexanders III. erreichte. Als einstiger Lehrer des Zaren besitzt Pobedonoszew dessen ganzes Vertrauen, das er dazu missbraucht, um sein Vaterland völlig von der westlichen Kultur zu entfernen und in die halbasiatische Barbarei zurückzuschleudern. Dabei dient ihm seine hohe Bildung nur als Mittel im Kampfe gegen die Bildung. Mit kaltem Gleichmut verdreht er die Tatsachen, mit blendender Sophistik verwirrt er die unverständigen Massen, die sklavische Presse, den gläubigen Herrscher.

Pobedonoszews Name wird mit dem Niedergang der Zivilisation in Russland, mit dem Schwinden des letzten Restes von Menschlichkeit, welcher aus der Ära Alexanders II. noch heute existiert, ewig verknüpft sein. Sein Werk sind die Verfolgungen der Katholiken und der Unierten in Polen, Kleinrussland und Litauen; sein Werk ist die Aufhebung der Ordre vom Jahre 1864, durch welche Alexander II. die Konfession der in den baltischen Ländern aus gemischten Ehen Entsprossenen freigegeben hatte; sein Werk ist die unerhörte Bedrückung der Juden und Protestanten; sein Werk ist die mörderische Verfolgung von Millionen Sektierern, die großenteils allerdings mystische Fanatiker, teilweise aber doch auch harmlose Schwärmer sind, wobei die letzteren mehr zu leiden haben, ab die ersteren; sein Werk ist der moralische und materielle Ruin, welcher Hunderttausende und Aberhunderttausende im heiligen Russland bedroht, solange sein Auge offen bleibt.

Dabei ist er so ehrlich, so gut, so fromm. Dabei führt er immer Gott und die Barmherzigkeit im Mund. Dabei ist er oft Einsiedler in heiligen Klöstern, um frommen Übungen und tiefsinniger Andacht sich widmen zu können.

So ist Konstantin Petrowitsch Pobedonoszew, Oberprokureur des heiligen Synods, Minister im Lande der Willkür, der russische Torquemada.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Aus dem modernen Russland.