Die Agonie des Baltentums. Dorpat und Jorjew.

Der finstere nikolaitische Geist ist im heiligen Russland neu auferstanden.

Wieder fortgesetzt wird die vom Kaiser Nikolay erstrebte Umkehr vom Freisinn zum Terrorismus, zur Knechtung des Willens, der Taten und der Gedanken der Untertanen — ein Streben, welches Alexanders des Zweiten milde Regierung segnend unterbrach. Und trauernd zu gestehen: Die Erfolge sind heute größer als je zuvor . . .


Nie hat der Rassenhass oder der Konfessionshass in Russland eine solche Brutalität erreicht, wie unter der Regierung Alexanders des Dritten, und neben den Leiden der Polen, Juden und Sektierer ist insbesondere jammervoll das tragische Schicksal der Balten, welche sich seit ihrer Zugehörigkeit zum russischen Reich stets als die treuesten und festesten Stützen der Zaren bewiesen haben. Wie weit diese Verhetzung des Deutschtums bereits gelangt ist, zeigt sich darin, dass ein in Estland erscheinender, in vielen Tausenden von Exemplaren unter das Volk geworfener Volkskalender offen zur Beraubung und Vernichtung der „fremden Geschöpfe" , der „deutschen Tiere" auffordern kann. Da werden die deutschen Pastoren als scheußlich krächzende Dohlen bezeichnet; die Deutschen im allgemeinen heißen nicht anders als Molche, Kröten, Frösche; die germanisierten Letten und Esthen, die „Halbdeutschen", aber werden Wachholderdeutsche oder Buschklepper genannt. Daneben befleißigt sich auch die große gebildete Presse eines wahnwitzigen Deutschenhasses. Fort mit der deutschen Eigenart! ertönt es überall. Und: Fort mit den deutschen Privilegien, den deutschen Schulen, der deutschen Sprache, der deutschen Kirche und Kultur! — klingt es im Echo zurück.

Fort mit der deutschen Kultur! denn an die Stelle der deutschen Kultur soll die — russische treten. Ach, die russische Kultur — klingt das nicht wie ein Jubellied der Ironie?

Zur Zeit schon, als die größten russischen Fürsten vor den Mongolenchanen demütig im Staube lagen, herrschten Kultur und Freiheit im Staate der deutschen Ordensherren an der Ostsee; und während die Russen, vom Bauern bis zum Fürsten, Sklaven der asiatischen Despoten waren, konnte in ruhiger Freude, unter dem Schutze der freien Ordensherren, der freie baltische Bauer sein Feld bearbeiten. Seit beinahe sieben Jahrhunderten blühte die Kultur in den baltischen Ländern, während Russland noch unter den ersten Romanows, vor zwei Jahrhunderten, bloß zwei Männer besaß, welche Lateinisch verstanden. Und vor 250 Jahren, als in Russland hoch und niedrig in finsterstem Aberglauben befangen waren, besaß Livland schon eine Universität — die Universität Dorpat . . .

Heute jedoch existiert die deutsche Universitätsstadt Dorpat, das nordische Heidelberg, nicht mehr.

Nicht die Macht des Feuers hat sie zerstört. Nicht das überflutende Wasser des Embachflusses hat ihre Mauern niedergerissen. Zahlreiche Male überstand sie schwere Feuersbrünste und allvernichtende Überschwemmungen; und selbst aus dem Schutt, in den die Kriegswut der Polen und Schweden und die wilden, siegestrunkenen Scharen Iwans des Grausamen und Peters des Großen nie gelegt, stieg sie stets neuverjüngt hervor.

Ein Wink, ein Wort des Zaren Alexander des Dritten indessen ist mächtiger als Feuer und Wasser. Er winkte, und die deutsche Universität Dorpat verschwand. Er sprach ein Wort, und an Dorpats Stelle trat die russische Stadt Jurjew. Polen und Schweden und die russischen Scharen der Vorzeit zerstörten bloß Städte und Dörfer — Alexander der Dritte aber vernichtet die Zivilisation und zerstört die deutsche Kultur, wo sie im Zarenreich noch einen Atemzug zu verraten wagt . . .

Und Dorpat war gleichsam der letzte Atemzug Deutschtums in Russland. Seit zwei Jahrzehnten ward das Deutschtum in Russland verfolgt, bis es zu Tode erschöpft zusammenbrach. In Dorpat röchelte es noch leise, leise. Jetzt ist auch dieses Röcheln verstummt. Die letzte Stunde des Deutschtums in Russland ist gekommen; das Baltentum liegt in rettungsloser Agonie . . .

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„Damit das martialische Livland zu Tugend und Sittsamkeit gebracht werde“, wurde vor 260 Jahren in Dorpat von Gustav Adolf eine Universität gegründet.

In Not und Jammer lag Livland darnieder. 1561 war nach beinahe vierhundertjährigem Bestand der livländische Ordensstaat zu Grunde gegangen. Nach zwei Jahrzehnten kriegerischer Wirren ergriff Polen Besitz von dem widerstandslosen Lande. Doch damit war Friede nicht eingekehrt. Zwischen Polen und Schweden folgte dreißig Jahre hindurch ein harter Kampf um die baltischen Lande, bis 1629 die Schweden Sieger blieben in Livland. Gustav Adolf endlich trachtete, „dass das martialische Livland zu Tugend und Sittsamkeit gebracht werde." Es wurde in der eroberten Provinz eine lutherische Kirchenordnung eingeführt. Es wurde in Dorpat ein Gymnasium gegründet. Und zwei Jahre später, 1632, unterzeichnete Gustav Adolf die Stiftungsurkunde der Universität Dorpat Allein einige Monate nachher erlosch der Stern des großen Königs, er starb bei Lützen den Heldentod, und sein Reich und seine Eroberungen und Schöpfungen standen verwaist, einem ungewissen Schicksal preisgegeben. Und dieses zeigte sich bald bös und hart.

Die folgenden schwedischen Regierungen kümmerten sich nur in geringem Maße um die Pflege germanischer Kultur, und die neue Universität war eine schwächliche Anstalt: weniger ein Herd allgemeiner Bildung als vielmehr ein Hexenkessel nationalen Haders zwischen Schweden und Deutschen. Die eigenen Landeskinder fühlten sich zu der Landesuniversität nicht hingezogen und wanderten zur Erwerbung gelehrter Kenntnisse lieber ins deutsche Reich.

Das wurmte die schwedische Regierung endlich, und bald mit strafender Strenge, bald mit schmeichelnder Lockung suchte sie die schwedisch-deutsche Hochschule zu beleben. Einmal verbot sie den baltischen Studenten, ausländische Universitäten zu besuchen, ohne vorher in Dorpat die Prüfung bestanden zu haben. Ein andermal verkündete sie, dass kein Balte zu einem öffentlichen Amt gelangen sollte, der nicht wenigstens zwei Jahre auf der Universität Dorpat zugebracht hätte. Den ausländischen Privatlehrern wurde der Unterricht in den baltischen Provinzen untersagt, wenn sie sich nicht in Dorpat einer Prüfung unterzogen hatten. Dagegen verlieh man denen, die sich in Dorpat dem Studium widmeten, große Vorrechte und erließ ihnen sogar den Militärdienst. Aber alles war verlorene Mühe. Nur 765 Deutsche besuchten von 1632 bis 1710 die Dorpater Vorlesungen, wie wir aus einer kleinen anonymen Schrift über „die 14.000 Immatrikulierten Dorpats" ersehen können.

Von 1632 bis 1710 bestand die Universität nicht ununterbrochen. 1656 eroberten die Russen die Stadt Dorpat. Die Professoren und Studenten der Universität flüchteten sich, und die Hochschule löste sich auf. Einige Professoren begaben sich nach Reval und versuchten dort die Vorlesungen weiterzuführen, was ihnen auch bis 1665 gelang. Allerdings vor einer Hörerzahl, wie sie wohl sonst in der Geschichte der Universitäten nicht wieder verzeichnet sein mag. Die Zahl der von 1656 bis 1665 in Reval bei den Dorpater Professoren Immatrikulierten betrug — 60. 1657 besuchten bloß 1 Finnländer und 4 Studenten aus Deutschland die „Vorlesungen". Im folgenden Jahre stieg die Zahl auf 65 Schweden und 1 Unbekannten. 1659 war das schwächste Jahr: es hatte bloß 2 Finnländer als Hörer zu verzeichnen. Im Jahre 1660 kam zu den 2 Finnländern noch 1 Schwede. 1661 finden wir plötzlich 15 Revaler an der Universität, 1662 wieder nur 4 Finnländer. 1663 war das beste Jahr: wir können 5 Schweden und 13 Finnländer vermerken. Dann sank die Zahl wieder 1664 auf 4 und 1665 auf 3 Finnländer. Als die opferbereiten Professoren sahen, dass trotz ihrer durch ein Jahrzehnt unerschüttert gebliebenen Geduld, keine Studenten herbeiströmen wollten, gaben sie die Vorlesungen auf.

Erst 1690 wurde die Universität wieder in Dorpat errichtet, 1699 bei Ausbruch des nordischen Krieges aber nach Pernau verlegt. Hier bestand sie bis 1710, um alsdann für ein Jahrhundert ganz zu verschwinden.

Während dieser ersten, aus drei Teilen bestehenden und von 1632 bis 1710 währenden Periode der Universität wurde dieselbe insgesamt von 1662 Studenten besucht. Davon waren 802 Schweden, 765 Deutsche, 6 Ausländer und 89 Unbekannte. Von den 765 Deutschen waren 397 Livländer, 155 Estländer, 20 Kurländer — diese hielten sich am meisten von Dorpat fern — , 11 Siebenbürger und bemerkenswerterweise nicht weniger als 182 aus Deutschland. Von den Professoren waren von 1632 bis 1656: 17 Deutsche,

7 Schweden; von 1690 bis 1710: 4 Deutsche und 24 Schweden, insgesamt also 21 Deutsche und 31 Schweden. Sowohl unter den Studenten als Professoren waren die Schweden also in der Majorität.

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Die wissenschaftliche Bedeutung jener Universität von 1632 bis 1710 scheint nicht sehr bedeutend gewesen zu sein. Ein Professor, der Schwede Ludenius, zeichnete sich zwar durch große Fruchtbarkeit aus, er verfasste mehrere hundert größere und kleinere Arbeiten; ein anderer, der Kurländer Wilde, scheint ein tüchtiger Historiker gewesen zu sein. Diesen wenigen uns bekannt gewordenen ernsten Gelehrten standen aber so viel faule Patrone gegenüber, dass man endlich dazu schreiten musste, einige der ärgsten von den Lehrkanzeln zu verjagen.

Das soziale Leben der Studierenden wird gekennzeichnet durch die damaligen akademischen Vorschriften: übermütige Streiche, Häuserbelagerung, Fenstereinwerfen, Türeinbrechen, das Schleudern von Bleikugeln und feurigen Geschossen wurden mit Relegation, Beleidigungen, Körperverletzung, Totschlag und Duelle nach dem Gesetz, Würfelspiel und Kartenspiel mit vier Tagen Karzer, nächtliches Schießen, „cyklopisches Gebrüll" (heutzutage wohl Katzenmusik) und sonstige Tumulte mit Karzer, aufrührerische Versuche endlich mit dem Tode bestraft. Nach neun, im Sommer nach zehn Uhr abends sollte kein Student mehr im Wirtshaus anzutreffen sein. Geboten war dagegen strenge Frömmigkeit, aufrichtiges orthodoxes Bekenntnis, tägliches Bibellesen. Landsmannschaften waren nicht geduldet; wer einer heimlichen Landsmannschaft angehörte, wurde mit ewiger Relegation bestraft. Bewerber um Stipendien mussten dem Rektor an Eidesstatt versprechen, dass sie keiner Landsmannschaft angehörten, noch in eine solche je eintreten wollten. Der Grund lag in den, besonders seit Patkuls tragischem Schicksal, wild erregten nationalen Leidenschaften. Die Deutschen und Schweden standen sich als Todfeinde gegenüber, und es kam oft zu blutigen Händeln, nicht nur zwischen den Studierenden, sondern auch zwischen den Studierenden und den Professoren.

Trotz alledem muss man sagen, dass selbst dieses Zwitter von einer Universität viel für die Kräftigung des germanischen Wesens in den baltischen Provinzen geleistet hat. Der Untergang der Hochschule im Jahre 1710 war aber keineswegs zu bedauern; dadurch ward der Platz frei für eine neue, echt deutsche Universität, deren Name in der Geschichte der Universitäten unter den besten genannt wird.

Peter der Große dachte bei der Eroberung Livlands nicht daran, das Erworbene zu erhalten, sondern seine Absicht war zunächst, das Eigentum des verhassten Schwedenkönigs Karls des Zwölften möglichst zu zerstören. Demgemäß befahl er seinem Feldherrn Scheremetjew, dem Eroberer Livlands: „Verheere alles!" Und Scheremetjew war ein gehorsamer General, und emsig vollführte er den Befehl des Zaren bis ins kleinste und konnte schon bald seinem Herrn melden: „Nun habe ich alles verheert, mein Zar, nun habe ich nichts mehr zu verheeren!" Wahrlich, er hatte alles verheert, es war noch ärger als zur Zeit, da Gustav Adolf das Land den Polen entriss. Es war alles zerstört, Stadt und Dorf, Wald und Feld, Berg und Tal. Und es war fast alles ermordet, jung und alt, Edelmann und Bauer, Bürger und Handelsmann, Geistlicher und Lehrer. Was aber übrig blieb aus der unendlichen Zerstörung, was der Sündflut von Blut entrann, das wurde verschenkt, verkauft, ins Innere Russlands verschleppt . . . Und im allgemeinen Untergang sank auch die Universität Dorpat . . .

Als die Wogen dieser Sündflut sich endlich glätteten, als der Rauch dieser grenzenlosen Feuersbrunst sich zu verziehen begann und über die Leichenfelder ein neuer, leiser Hauch des Lebens wehte, und als man wieder an das Erbauen des Zerstörten dachte und an die Neubefruchtung des Landes, das nun russisch war, da ließ Peter seine Absicht verkünden, an Stelle der untergegangenen schwedisch-deutschen Hochschule eine rein deutsche zu errichten. Es kam indessen vorläufig nicht dazu, und das mag gut gewesen sein; das erschöpfte Land war kein Boden für eine hohe Schule, das erschöpfte Land brauchte Jahrzehnte der Kräftigung, damit Früchte und Wissenschaften in ihm gedeihen konnten. Erst Kaiser Paul dachte wieder an die Errichtung der baltischen Universität, und Alexander der Erste vollführte den Plan seines Vaters und eröffnete am 21. April 1802 die Hochschule von Dorpat, die deutsche Hochschule. Ihr Zweck sollte sein: „Die Erweiterung der menschlichen Kenntnisse in unserm Reiche." Wohlgemerkt, nicht für Livland allein, für ganz Russland sollte diese Schule eine Quelle „menschlicher Kenntnisse" werden. Und sie ward es, sie erfüllte die Aufgabe, die Alexander der Erste ihr gestellt, fast bis auf den heutigen Tag. Von Dorpat aus liefen die Fäden der Kultur über ganz Russland. Von Dorpat aus drangen menschliche Kenntnisse bis zum Stillen Ozean. Von Dorpat aus floss das menschenrettende Licht der medizinischen Wissenschaften in die düstersten Winkel des Zarenreiches. Tausende und aber Tausende Ärzte und Lehrer, Prediger und Beamte eilten von den Ufern des Embachflusses in die Ebenen Sarmatiens, in die Steppen Mittelasiens, in die Wüsten Sibiriens, zu den Abhängen des Ural, auf die Höhen des Kaukasus. Namen von europäischer Berühmtheit haben hier ihren frühesten Glanzschimmer erworben. Hier studierten und lehrten Männer wie K. E. von Baer, Helmersen, F. Schmidt, Schrenck, Middendorff, die Sprachforscher Böthlingk, Wiedemann und Osteneck (russifiziert in Wostokoff), ferner der größte Chirurg Russlands: Pirogow, und der größte Chirurg Deutschlands: Bergmann, die Historiker Brückner und Schiemann und zahlreiche andere.

Der Anfang war hart genug gewesen. 1802 hatte die Universität bloß 47 Hörer. Die berufenen ausländischen Professoren lehnten es ab, nach Dorpat zu kommen, die Balten wollten ebenfalls nicht dorthin. Dazu kam die schwere politische Situation, welche durch den französisch-russischen Krieg aufs äußerste verschärft wurde. Nur langsam gewann die Universität Freunde, nur langsam stieg die Zahl der Hörer. Von 1813 ab aber kam eine bessere Zeit. 1813 waren in Dorpat erst 245, im Jahre 1830 schon 619 Studenten. Und 1890 über 1800 und endlich 1892 noch über 1600.

Das Charakteristische dieser zweiten Universität war ihr ausgesprochen deutscher Charakter. Während an der ersten Universität, von 1632 bis 1710, die Schweden bedeutend überwogen, war an der zweiten, von 1802 bis auf die Gegenwart, das Deutschtum im Übergewicht oder vielmehr ausschließlich herrschend. Der Geist war deutsch-wissenschaftlich und ernst, die Studentenschaft war überwältigend deutsch, und sämtliche Professoren, zwei russische für russisches Recht und russische Sprache und Religion ausgenommen, waren deutsch.

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Ein gütiges Schicksal hatte der neuen, von Alexander dem Ersten begründeten Universität als erste Leiter tüchtige, hingebungsvolle Männer geschenkt. Der erste Kurator, von 1803 bis 1817, war Klinger, der Dichter und Jugendgenosse Goethes; der erste Rektor der Universität war der Württemberger Parrot. Beide eiferten in edlen Taten für die Förderung und Hebung der ihnen anvertrauten Hochschule. 1817 folgte dem Kurator Klinger Fürst Lieven im Amt; er gehörte, wie er selbst sagte, zu den „armen Ungelehrten“ er hatte nie etwas mit Schule und Unterricht zu tun gehabt und lebte still und zurückgezogen als abgedankter Soldat auf seinen Gütern in Kurland. Da rief ihn der Einfall des Zaren auf den Posten eines Kurators des Dorpater Lehrbezirks. Aber es hat wohl nie einen besseren, edleren Schulverwalter gegeben, als diesen armen Ungelehrten, als diesen abgedankten Soldaten, der sich in der ihm anfangs fremden Stellung bald so auszeichnete, dass Kaiser Nikolaus ihn 1828 zum Minister der Volksaufklärung ernannte. Aber auch dann noch behielt er Dorpat treu im Auge und sorgte für die dortige Universität wie ein Vater für sein Lieblingskind. Dem Fürsten Lieven zur Seite stand als würdiger Freund und Kollege der Rektor Gustav Ewers. Durch beider Bemühungen wurde das Budget der Universität von 120.000 auf 337.000 Rubel jährlich erhöht. Außerdem erlangten sie von 1818 bis 1830 an außerordentlichen Zuschüssen über eine Million. Beiden Männern verdankt die Universität ihren ausgesprochen deutschen, ernsten, wissenschaftlichen Geist, der sie als die beste von ganz Russland hervorhob und den vorzüglichsten europäischen Hochschulen nicht unebenbürtig an die Seite stellt.

1830 starb Ewers, 1833 der Fürst Lieven. Es kam für Dorpat eine schwere Zeit. Als in Westeuropa der Revolutionsgeist wieder spuckte, suchte Kaiser Nikolaus sein Reich gegen die „Folgen der westlichen Kultur", gegen die „Gefahren des westlichen Liberalismus" abzuschließen. Jedes freie Wort wurde verpönt, die stürmende Jugend in fesselnde Zucht gebannt, strenge Militärdisziplin als Schutz gegen die revolutionären Ideen aufgestellt. Am schlimmsten erging es natürlich der deutschen Universität Dorpat. Das war ja auch ein Stück westlicher Kultur, da musste man scharf acht haben. Noch mehr, in der Rückkehr zur Unkultur, in der Vernichtung der Zivilisation, in der Ersetzung des Deutschen durch das Russische sah man das einzige Heil. Ein ungebildeter Soldat, der alte Generalleutnant Craffström, wurde zum Kurator von Dorpat ernannt. Er war der rechte Mann seines Kaisers, er betrachtete seine Studenten als seine Soldaten, er steckte sie in Uniformen, er strafte mit Karzer und Ausschließung die Burschen, wenn ihnen ein Knopf fehlte, wenn einer sieh erlaubte, in Zivilkleidung sich sehen zu lassen oder gar, wenn einer — horribile dictu — einen Schnurrbart trug . . . Wer einem studentischen Verbande angehörte, wurde relegiert und unter die Soldaten geworfen; wer sich an einer Mensur beteiligte, ward vor ein Kriegsgericht gestellt und verschwand vielleicht für immer in den Ödnissen Sibiriens oder im Kerker von Schlüsselburg. Kamen mehr als sechs Personen in einer Wohnung zusammen, so waren sie heimliche Verschwörer; sprachen mehr als drei Personen auf der Straße mit einander, so waren sie öffentliche Empörer . . . Zugleich wurden Versuche gemacht, den deutschen Geist zu vertreiben, und man begann eine nachdrückliche Russifierung. Man nahm der Universität das Recht der autonomen Rektorswahl und unterstellte dieses Recht dem Minister für Volksaufklärung; und dies war damals der deutschfeindliche Uwarow.

Versteckt und offen wurde gegen die Balten gehetzt, und bald mit List, bald mit Gewalt. Bald griff man die baltischen Behörden, bald die baltischen Gymnasien und Hochschulen an, bald verfolgte man ihre Geistlichen, bald ihre Richter. Oder man versetzte Russen nach den baltischen Provinzen und suchte dort die russische Sprache einzubürgern und baute russische Kirchen und Kapellen und gründete russische Theater. Aber die russischen Theater standen leer, während die deutschen überfüllt waren. Und die russischen Kirchenglocken verklangen im Chor der evangelischen Orgeln wie das dünne Geläut eines Herdenglöckchens im Chor stürzender Lawinen und brausender Ströme, welchen die Bergnatur dem Weltengeist singt. Fest wie die Berge stand die evangelische Kirche, fest wie die Berge das Deutschtum in den baltischen Provinzen.

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Die Balten sind lange ein widerstandsfähiges Volk gewesen. Dieser Ast des deutschen Stammes hatte das härteste Holz. Noch vermochte die panslawistische Axt dieses Holz nicht zu zersplittern. Die äußere Knechtung, welche die Regierung den deutschen Studenten auferlegte, stärkte in denselben nur die innere Kraft und Würde. Und würdig und kräftig überstanden sie die dräuende Gefahr der nikolaitischen Epoche, und siegreich sahen sie das freiheitliche Morgenrot anbrechen, welches die Regierung Alexanders des Zweiten ankündigte. Die gewaltige Wucht der deutschen Geisteskraft hatte diesmal noch dem Ansturm des Panslawismus Trotz geboten.

Alexander der Zweite hob die bedrückenden Maßregeln wieder auf; er gab der Universität das Recht der Rektorswahl wieder, er erweiterte ihre Anstalten, vermehrte ihre Bibliothek, erhöhte ihr Budget, baute ihr eine Kirche, erkannte sogar ihre Korporationen an. Als Kurator bestellte er den estländischen Grafen Kayserling, einen Jugendfreund lind Studiengenossen des Fürsten Bismarck. Dann wurden die Uniformen abgeschafft, neue Privilegien gegeben — es schien ein Ende aller Leiden, die Universität blühte wie nie zuvor, die Zahl der Hörer stieg über 1.000, über 1.200, über 1.800 . . .

Nach 15 Jahren der Blüte aber kam ein neuer Sturm daher. Er war nicht heftig, nicht jäh. Ein jäher Sturm fährt über den Wald hinweg; er biegt wohl die mächtigen Stämme, er bricht hier und da einen stolzen Riesen, aber mit Blitzesschnelle ist er wieder fort, und die gebeugten Stämme springen ungeschwächt wieder empor und über die gebrochenen wächst ein Feld von üppigen Blumen. Aber dieser Sturm, dieser nicht heftige, dieser geduldige, immer und immer wehende, er pflückt Blume um Blume, er zerreißt Blatt um Blatt, bis alles welk ist und kahl, und reißt dann noch den letzten Stumpf mit der letzten Wurzel aus. Vor diesem Sturme gibt es keine Rettung . . .

Als Deutschland mächtig und einig ward, da regten sich in Russland Neid und Furcht. Und über die Balten ergoss sich das Gift des slawischen Hasses. Die Balten, die keinen Anteil an Deutschlands Ruhm und Glück, keinen Vorteil von Deutschlands Einigkeit hatten, denn sie fühlten sich stets als treue Untertanen ihres russischen Herrschers, nur dass sie ihren alten, guten, deutschen Sitten anhingen, nur dass sie ihre gute deutsche Sprache liebten — die Balten wurden plötzlich als Russenfeinde verdächtigt, als Landesverräter, die heimlich für Deutschland schwärmten. Die Lüge fand gläubige Herzen und willige Federn, und es begann jene Agitation, welche seit zwei Jahrzehnten ein glückliches Volk elend, ein blühendes Land wüst gemacht hat. Vom Amur bis zur Ostsee, vom Weißen bis zum Schwarzen Meer, vom Ural bis zum Kaukasus, von der Weichsel bis zur Wolga erbrauste der Ruf des Rassenhasses, erscholl es: Nieder mit dem Deutschtum!

Nieder mit dem Deutschtum, mit den baltischen Privilegien, mit der baltischen Kultur! . . . So lange Alexander der Zweite lebte, blieb der Ruf ein hohler Schall, dann aber nahm er Kraft an und dröhnte so lange, bis vor seinem Donner der Fels des baltischen Rechts, die baltische Kirche und die baltische Kultur barsten und in Trümmer sanken . . .

Das war der hartnäckigste Kampf zwischen Germanentum und Slawentum, zwischen europäischer und halbasiatischer Barbarei, den die Geschichte beklagen muss.

Und der Kampf ist zu Ende.

Und es siegte Jurjew über Dorpat, das Russentum über das Baltentum, die Barbarei über die Zivilisation . . .
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Aus dem modernen Russland.