Zweite Fortsetzung

Auch so eine arme, verlassene Judenseele hat ihre Träumereien und Gedankenblumen, und ihr Duft legt sich nicht weniger weich an den Himmel, als von denen, die ihn in Pacht zu haben meinen!

Dann gedachte er seiner jetzigen Lage: so fern von Weib und Kind, dem Tode entgegensehend, und den höhnischen Bemerkungen seines Gefährten ausgesetzt. Da musste er tief aufseufzen.


„Bist Du hungrig Leb?" fragte ihn sogleich Christoph, diesmal aber m einem ungewöhnlich ernsten Tone.

Leb antwortete nicht.

„So komm' Du Narr, sagte Christoph, und lass uns essen gehen." Er zog den Leb von seinem Sitze auf, und der, als übte Christoph eine dämonische Macht über ihn aus, folgte ihm. Hätte Christoph sich noch besser auf Seelenkunde verstanden, als er sich ohnehin verstand, er hätte nicht so innerlich aufgejaucht über die gelungene Bekehrung seines Gefährten, er hätte bemerken können, dass Leb’s Entschluss nicht das Resultat seiner Überredung war, sondern viel tiefer und inniger lag, dort nämlich, wo der Verstand seinen Boden an das Gemüt überlässt. Der Sabbat hatte es ihm angetan. —

Sie gingen nun in die weiche sommerwarme Nacht hinein, vielleicht zwei Stunden lang. Auf dem Wege sprach Christoph von nichts anderem, als den Genüssen, die ihrer warteten, Leb's ahnungsvolle Seele aber, die sich zwischen dem Dufte des Sabbats, dem er entgegen zu gehen meinte, und der Gefahr entdeckt zu werden, wie zwischen Himmel und Hölle auf und nieder bewegte, hatte bei den lauten Ausbrüchen seines Freundes nur das tiefste Stillschweigen.

Hier und da lag eine einsame Schenke auf ihrem Weg; aber Leb zog den hungrigen Christoph jedesmal zurück. Es war ihm keine einsam und entlegen genug. Er glaubte die Franzosen säßen in jedem Glase und auf jeder Gabelspitze. Endlich fanden sie im tiefen Gebirge ein Wirtshaus, das selbst Leb für unverdächtig erklärte.

Sie traten ein. Wie ein gehetztes Wild sah sich Leb in der Stube um, während Christoph mit lauter Stimme nach dem Wirten rief, und Braten und Wein begehrte. Er wollte seinem Freunde sogleich die praktische Anwendung seiner verführerischen Lehren geben. Leb, als der Klügere setzte sich schweigsam an den Tisch. Sobald aber Christoph das Verlangte vor sich stehen hatte, geriet er in eine ausnehmende Lustigkeit, er war wie selig.

„Sag's selbst Leb, rief er, hat der Preßburger Rabbiner heut' Nacht so ein gutes Schabbesessen? Greif zu Bruder, ich versprech Dir's, der Talmud soll kein Wort davon hören, greif zu.

Während er aber selbst so wacker zugriff, dass er kaum Zeit zum Aufsehen gewann, hatte er nicht bemerkt, dass sich Leb indessen mit Zwiebeln und Brot begnügte. Über ihn war der Geist des Sabbats gekommen und bewahrte ihn vor dem Falle. Christoph wurde aber immer lustiger und lauter, er begann Lieder zu singen, vor denen Leb's Haare sich aufsträubten, sie klangen in die Nacht hinaus und weckten die tückischen Luftgeister. Schon mehrmals hatte Leb zum Aufbruch gemahnt, aber Christoph war nicht fortzubringen, und je mehr er zu sich nahm, desto naher rückten ihm die Erinnerungen der ausgestandenen Leiden auf den Leib. Er hatte auch die Zukunft vor Augen.

Da entstand plötzlich Geräusch von Männertritten vor der Türe, eine furchtbare Ahnung durchzuckt Lebs Seele, er wollte fliehen, aber es war schon zu spät.

Gleich darauf traten französische Soldaten herein; es dauerte nicht lange, so waren die Beiden erkannt. Den Leb verrieten seine Haare, einer zog das Signalement der Flüchtlinge hervor, es lautete auf Beide.

Auf dem Wege, den sie nun zwischen Bajonetten gingen sagte Christoph zu dem vor tiefem Schmerz ganz gebeugten Leb: An dem Allem bist eigentlich nur Du und Dein teuflischer Talmud schuld. Hättest Du mit mir gegessen, so wär' ich zeitiger fertig geworden. Jetzt wird der Kopf herunter, Rebb Leb; Du verlierst eigentlich nichts dabei, denn Du hast keinen, sonst hätt’st Du mit mir gehalten, aber für mich ist ewig Schad! Es kommt sobald nicht wieder ein Christoph auf die Welt. Für mich ist Schad! —

Des andern Tages wurden die Zwei nach Preßburg gebracht. Sie saßen in Ketten geschlossen auf einem Wagen, um sie herum Soldaten mit geladenem Gewehre. Als hätte es jemand den Franzosen verraten, dass Leb Rother damit das tiefste Weh bereitet wurde, wenn er seine Schmach und Erniedrigung vor seinen Glaubensgenossen zur Schau tragen musste, wurden sie gerade durch das Ghetto gefahren.

Es gibt Lagen, wo die menschliche Seele, durch Not und Drangsal getrieben, all das Ursprünglich- große ihrer Entschlüsse vergisst und nur das momentane Leiden mitsprechen lässt. So vergaß Leb Rother, dass er im Grunde eine patriotische Tat begangen, deren er sich nicht zu schämen brauchte; er vergaß, dass er unter glücklichen Umständen vielleicht ein gepriesener Name geworden wäre. Aber er sah nur auf seine Ketten, die brannten ihn wie Feuer. Verzweifelt schlug er sich die Hand über die Augen, als sie den Schlossberg hinanfuhren, damit er sich und seine Schmach und die Welt nicht schaue.

Christoph wurde aber immer lustiger, je näher er dem Ghetto zu kam; er war nun in seinem eigentlichen Element. Es war Sabbat und die Leut' kamen gerade aus Schul'. Als Leb ihrer ansichtig wurde fing er an laut zu weinen, dass man es weit und breit hören konnte. Christoph verwies ihm diese Weichmütigkeit und grüßte mit kecker Gebärde die Leute vom Wagen herab. Selbst im Angesicht des Todes ließ er seine gewöhnliche Lebensfarbe nicht.

„Gut' Schabbes Leut', sprach er wie sonst, wie ist heut' die Derascha (Predigt) vom Rebbe ausgefallen? Habt ihr gut Acht gegeben, dass ihr's euern Weibern wieder erzählen könnt, wenn ihr nach Haus kommt? Ich könnt euch eine andere Predigt vorpfeifen, bei der mein Compagnon Leb Rother so gut zugehört hat, dass er darüber Essen und Trinken vergessen hat.

Als er aber durch einen Soldaten zum Schweigen gemahnt wurde, sagte er: Nu, im Geheimen kriegt man den Ochs um einen Kreuzer. Der Christoph ist doch mehr wert' Gut Schabbes Leut, und lasst euch das Essen gut schmecken.

Sein eignes Haus stand ihm jetzt vor Augen; da wurde auch er still; man sah ihn nach dem goldenen Kreuz mehrmals zurückblicken.

Damals in der strengen französischen Zeit, wo Leute, die einmal in königlichen Windeln gelegen, in stiller Nacht aus ihren Betten gerissen und hinter irgend einem Schlossgraben erschossen wurden, konnten die sechs Kugeln, die so einer vergessenen Judenseele das Licht ausbliesen, keinen Knall machen. Wer sollte sich Leb Rothers annehmen? Sein eigener Kaiser, für den er in den Tod gehen sollte, irrte als Flüchtling herum, und der Feind saß in der Burg seiner Väter. Das Ghetto selbst konnte nichts tun, es sah sich hier einer Macht entgegen, mit der sich weder „im Guten noch im Bösen" unterhandeln ließ. —

Leb's Weib kam mit ihren Kindern auf Kohlshaus (Gemeindehaus) und beschwor da den Vorsteher und die Beisitzer, sich ihres Mannes anzunehmen. Sie meinte, das stünde in ihrer Macht! Aber die Umstände hatten sich gewaltig geändert. Was hatte man nicht früher mit Rebb Koppel, dem Vorsteher, alles durchgesetzt! Er war bei allen Ämtern und Gerichten angesehen; er war so zu sagen die Hand und das Ohr der Gerechtigkeit! Als der Kaiser die Juden zu Soldaten konskribieren wollte, war Rebb Koppel, der darin eine Gefahr für die Religion erblickte, zur Audienz nach Wien gegangen. „Majestät, hatte er gesagt, wenn wir Soldaten werden sollen, so lassen Sie uns alle nur gleich erschießen." — Der Kaiser war böse geworden— aber die Maßregel unterblieb und dadurch blieben Tausende von jüdischen Kindern vor den Kugeln den Schlachten frei.

War nun Rebb Koppel, der Vorsteher, nicht vollkommen berechtigt zu glauben, er werde den einzigen Leb Rother vor den sechs Kugeln bewahren können?
Am Nachmittage sah man Rebb Koppel im feierlichen Staat, seinen Schameß (Diener) voraus, sich zum französischen Kommandanten begeben. Er machte wirklich eine ganze vornehme Figur; er war ein starkgebauter Mann und sein Gesicht hatte etwas Kühnes und Gebieterisches. Die Leute sahen ihm voller Ehrfurcht nach. Als er an dem Wachthause, das dort beim Gitter ist, vorüberkam, präsentierte der französische Soldat sein Gewehr! Die Ehrfurcht der Leute steigerte' sich bis zum Staunen. Sie sagten: Wenn's Keiner durchsetzt, der setzt's durch. Sie wussten nicht, dass der Soldat durch den Schameß Geld bekommen hatte, damit er das Gewehr Präsentire. Rebb Koppel wusste sein Ansehen zu behaupten.

Schon nach einer halben Stunde kam der Vorsteher zurück. Sein Gesicht war blass und schmerzlich aufgeregt; er ging gebeugten Ganges. Der Soldat präsentierte nicht mehr und die Leute sagten sich nichts Gutes voraus. Rebb Koppel hatte auch wirklich nichts ausgerichtet; er hatte den General bestechen wollen, der vielleicht morgen ein Herzogtum besaß, und war schmählich abgewiesen worden. —

Es bestätigte sich immer mehr, das Ghetto hatte nicht mehr seine früheren Richter. —

Weil man aber nun etwas haben musste, auf das man sein Weh wälzen konnte, fiel aller Hass wie auf ein verabredetes Zeichen auf Chajim Franzos und seine Braut. Viele waren bei der Scene gegenwärtig gewesen, wo Leb Rother auf Chajims regelloses Leben so tückisch angespielt hatte, und nun meinte man, kein anderer könne ihn angegeben haben als Chajim. —

Anfangs getraute man sich nicht dieser Anklage Worte zu geben, denn Chajim war noch eine zu gefürchtete Macht; wenn er aber durch die Gasse ging, sah er, wie man die Köpfe zusammensteckte, und unverständliche Worte flüsterte. Seit dem Zerstörungsfeste Jerusalems hatte Chajim ein schlechtes Gewissen; er fühlte es also gleich, dass von ihm die Rede sei. Eines Tages kam kein Schüler in seine Wohnung, denn er hatte sein altes Handwerk wieder ergriffen. Er konnte sich schrecklicher Ahnungen nicht erwehren, und um ihrer los zu werden, ging er auf die Gasse hinaus, nachsehen, wo denn die Schüler blieben.

In der Gasse fand er die meisten mit Spielen beschäftigt; als sie den Lehrer kommen sahen, liefen sie mit großem Geschrei davon, nur Einer, sonst sein liebster, hielt ihm Stand.

„Warum kommt Keiner in die Schul'?", fragte ihn Chajim.

Erst sah der Knabe verlegen zu Boden, dann sagte er schluchzend: „Der Vater hat's verboten."

„Und warum?" Chajim zitterte vor banger Ahnung.

„Weil der Lehrer ein Moßerer (Denunziant) ist," sagte der Knabe nach langer Pause, „der Lehrer hat Leb Rother angegeben; Leb Rother wird werden erschossen, ein Moßerer darf mit kein' jüdisch Kind lernen."

Vor Entsetzen ließ Chajim den Knaben los. Und wie er dann durch die Gasse zurückging, stand die furchtbare Anklage auf allen Lippen und Augen; wie funkelnde Messerspitzen sah sie zu allen Häusern und Fenstern heraus. Die Steine schienen ihm nicht aus dem Weg gehen zu wollen, bis sie ihm das schreckliche Wort zugeschrien hatten, die Gasse dehnte sich ins Unendliche aus, damit die Luft Raum gewönne, ihre dunklen Anklagelaute ihm entgegen zu tönen. Er lief zu Blumele, um sich wenigstens vor ihr zu reinigen.

„Weißt du, Blumele, was die Leut' von mir reden?" sagte er mit fahlen Lippen, „sie heißen mich Moßerer und sagen, ich hätt' Leb Rother angegeben. Sein Blut wird über mich kommen; wehgeschrien!"

„Ich weiß das Alles," sagte darauf Blumele, „die Leut' speien vor mir aus, weil ich deine Kalle (Braut) bin. Heut, früh', wie ich über die Gasse bin gegangen, hat mich Leb Rothers Weib schier umgerissen, sie ist auf mich gefallen und hat geschrien: Du und Dein Choßen (Bräutigam) bringt's meinen Mann um. Man hat mich nur mit Gewalt von ihr losgebracht."

Im tiefsten Schmerz war Chajim auf den Boden gesunken. Er weinte und seine Braut stand bleich und aufgeregt neben ihm. Da sagte sie: „Deine Sünden, Chajim, kommen Dir bald nach, Gott hat Dich bald gestraft."

Da sprang Chajim ganz wild auf und schrie: „Hältst Du mich auch für ein' Moßerer?" Er schlug die Türe auf und stürzte fort. Blumele rief ihm umsonst nach. —

Zu Hause angekommen, sperrte sich Chajim ein; kein menschliches Auge sollte auf seinen Jammer schauen. Hier verlebte er grauenvolle Tage und wuchs beinahe in seinen Schmerz, hinein. Oft war er überzeugt, kein Anderer könne Leb Rother angegeben haben, als er; dann griff er sich in die Brust, nannte sich selbst Moßerer und spie giftig vor sich selbst aus.

Indessen schien der Schlag, der die schuldigen Häupter Leb Rothers und seines Gefährten treffen sollte, noch lange zögern zu wollen. Sie saßen schon seit einigen Wochen in festem Gewahrsam und außer mehreren Verhören, worin Leb oft zugestand, was Christoph geradezu ableugnete, war noch nichts geschehen, was auf einen gewaltsamen Richterspruch hätte schließen lassen.

Da kam zwei Tage vor Jom Kippur die Weisung an die Preßburger Rabbiner, Männer seines Glaubens zu Leb Rother zu schicken, damit sie ihn zum Tode vorbereiten sollten, denn das sei sein Wunsch und man habe ihn nicht abschlagen können.

Um die bestimmte Stunde begaben sich zehn Männer aus der „Gesellschaft der Totengräber" aufs Schloss. Wie sie durch die Gasse gingen, erscholl lautes Weinen; man schloss die Gewölbe und ein großer Menschenhaufen begleitete die Totengräber. Mit Leb Rother wurde wie mit einem Sterbenden verfahren. Man sprach die gebräuchlichen Gebete mit ihm, wie sie im „Maiver Jabok" stehen; Leb sagte Wort für Wort nach. Dann wollte er die Avide oder das Sündenbekenntnis ablegen; er tat es mit vielen Tränen; bei jedem Worte schlug er sich an die Brust und stöhnte wie ein von wahrhafter Todesangst Umfangener!

Zur selben Zeit breitete eine andere Religion auch in Christophs Gefängnisse ihre letzten Spendungen aus. Und wunderbar! als der Priester mit dem Glöcklein, das Allerheiligste hoch in den Händen haltend durch die Gasse kam, wo seine Erscheinung sonst Furcht und Groll verursacht hatte, sah man ihm jetzt mit Art gläubiger Ehrfurcht nach. Vielleicht rief das Glöckchen in manchem Gemüte den Gedanken wach: wie es doch nur der Todesweg sei, auf dem sich die beiden Religionen begegneten, und dass es gerade eine blutige Leiche sein musste, über der sich die Nieversöhnlichen die Hände reichten!

Am Tage, wo das geschah, fühlte sich Chajim von einer furchtbaren Unruhe gequält. Leise Stimmen schienen an die Fensterscheiben wie mit unsichtbaren Fingern zu pochen und ihm das Todesurteil Leb Rothers zuzurufen. Entsetzt sprang er auf und wollte auf die Gasse. Aber da er den dumpfen Lärm, der beim Weggehen der Totengräber entstand, zu sich herausdringen hörte, kehrte er wieder um.

In der Nacht, als er weinend auf dem Boden saß und zu sterben meinte vor ungeheurem Jammer, ging plötzlich die Türe auf. Blumele trat herein. Bei ihrem Anblick überfiel ihn ein banges Zittern; er meinte, sie komme ihm Vorwürfe zu machen. Darum hielt er sein Angesicht abgewandt und wagte nicht sie anzublicken. Aber wie ward ihm, als Blumele leise mit ihrer Hand ihm über die Stirne fuhr und sprach: „Was weinst Du, Chajim? Und wenn Dich die ganze Welt anspeit, und wenn Dir Keiner glaubt, ich bleib bei Dir, ich glaub', dass Du hast nicht schlecht sein können."

Wie Frühlingsschein dämmerte es in Chajims Seele. Er fasste die Hand Blumele's, sie zitterte in seiner; er blickte ihr in das schöne liebe Antlitz, und da war es ihm, als stünde da die Lösung seines Jammers mit großen Buchstaben geschrieben. Die Welt, flog es ihm durchs Gehirn, kann doch nicht so schlecht sein, wenn Blumele drin herumgeht, dem Gesichte müsse sie Glauben schenken.

„Ich weiß erst jetzt," sagte er ganz fröhlich, „dass ich Leb Rother nicht hab' angegeben. Du glaubst nicht, Blumele, was ich dadurch hab' ausgestanden. Kein Judenkind soll solche Tage erleben."

„Und ich, und ich?" schrie das Mädchen mit überquellendem Gefühl. Chajim bemerkte nicht, welche Blässe über Blumele's Antlitz zog, als dieser gewaltige Aufschrei aus ihr tönte. Chajim aber meinte in seiner Lustigkeit: Sind wir beide nicht Narren, ich und Du, dass uns Leb Rother was angeht? Weiß ich, wer Schuld ist an seinem Tod? Das Feuer, was mich nicht brennt, lösch' ich nicht."

„Schmah Jisroel," rief Blumele erschrocken, „wie redt'st Du, Chajim. Vergisst Du, dass man Dir Leb Rother immer, und wenn Du hundert Jahr noch lebst, wird vorhalten? Du wirst in seinem Blut herumwaten müssen, so lang Du in der Welt bist; es wird Dir über den Kopf zusammenschlagen. Denk' Dir, wenn Du Kinder hast und die Leut' sagen von ihnen: Der Vater ist n' Moßerer gewesen, was kann da Guts sein? — Und das ist alles nichts. Leb Rotheristeine Judenseel', willst Du die zu Grundgehen lassen?"

Das stürzte Chajims Seele wieder in Traurigkeit. Er rief: „Gott, Gott, warum hast Du mir das zugeschickt? Was soll ich tun?"

Nach einer langen Weile sprach Blumele: „Sag', Chajim, war' das ein Unglück für Dich, wenn ich nicht Deine Weib werd'?"

Chajim lächelte ungläubig. „Schöne Frag' das," meinte er.
„So hör' mich an, Chajim," begann Blumele in einem ungewöhnlichem Ton; „ich komm' Dir etwas sagen; Du wirst ausspeien vor mir, wenn ich nur ein Wort gesagt hab'. Du wirst mich dann hinausstoßen, Du wirst mir ins Gesicht schlagen, denn das was ich tun will, hast Du Dir nicht vorgestellt; ich kann dann nicht mehr Dein Weib werden."

Chajim horchte in Angst auf.

„Ich will zum französischen General gehen," sagte Blumele ganz tonlos. „Was dort?"

„Ich will bitten für Leb Rother und Christoph."

„Du?"

Dem Chajim kam dieser Entschluss so wunderbar vor, dass er erst nach einer langen Weile hinzusetzte: „Und wenn er dir's abschlägt?"

Da fiel ihm Blumele mit einer heftigen Gebärde um den Hals und raunte ihm etwas in die Ohren. Dabei erzitterte ihr ganzes Wesen und das Antlitz war in die feurigste Röte getaucht.

Es musste entsetzlichen Inhalts sein, was Blumele gesprochen, denn Chajim stieß einen gellenden Schrei aus und stürzte von ihr fort.

„Gott sei davor," rief er, „die Sünde darfst Du nicht begehen."

„Misch' nicht Gott hinein," sagte das Mädchen beinahe ruhig, „ich tu's nur um seinetwegen. Ich hab's mit mir ausgemacht, Leb Rother soll nicht zu Grund' gehen."

Chajim aber weinte und jammerte fort. „Tu's nicht, Blumele, wehgeschrien, was hast denn Du versündigt, dass Du Dein Bestes wegwerfen willst?" Er bedeckte sich schamvoll das Antlitz, als hätte er den Entschluss Blumele's zu offen herausgesagt.

„So will ich allein gehen," sprach Blumele und ging schon zur Türe. Da kam ihr Chajim vor; er warf sich feiner ganzen Länge nach neben die Türe und verrammelte ihr so den Ausgang. Sein Angesicht war auf den Boden gedrückt. So lag er, ohne Äußerung, lautlos und still einige Minuten, während Blumele unschlüssig, was sie tun sollte, in der Stube auf und ab ging.

Mit Einem Male richtete sich Chajim langsam auf; er fuhr sich über die Stirne und blickte dann Blumele ohne Schmerz und Tränen an. Während jener Zeit war ihm jener Strahl, den wir Eingebung nennen, gekommen; er sah nun alles klar.

„Geh' nur, geh' nur," sagte er, „ich seh' doch, es ist Gotteswerk. Ein Judenkind geht um das andere hin; geh' nur. Und wenn Du willst, so führ' ich Dich selbst hin, denn auch das seh' ich, Du tust es um meinetwegen. Aber mein Weib musst Du doch werden, Blumele."

Blumele flog auf ihn zu; selig umschlossen sich die Zwei. —

Zwei Stunden vor Mitternacht gingen Chajim und Blumele fort. Die Nacht hatte ihre schönsten Sterne angetan, als wollte sie die Tat Blumele's recht beleuchten. Das Ghetto war still und stumm; als sie an das eiserne Gitter kamen, das ihnen der Stadttrabant öffnete, warf Blumele noch einen letzten Blick in die Gasse. Ohne ein Wort gingen sie weiter. — Der General wohnte auf dem Barmherzigen-Platz.

Der Soldat, der vor dem Hause Wache stand, strich sich mit einem schmunzelnden „Sacrebleu" den Schnurrbart, als das schone Mädchen in so später Nacht Einlass begehrte. Das Haustor schloss sich auf — Blumele verschwand. — In der kalten einsamen Nacht stand Chajim draußen. Charaktere seiner Art nehmen wieder bald ihre ursprüngliche Färbung an, und so darf es nicht Wunder nehmen, wenn er seinen unendlichen Jammer in Tränen losgab. — Die Nacht war vorüber und die ersten Streifen flogen über den Morgenhimmel, als Blumele wieder kam. Der Schulklopfer ging mit dem Hammer, der zum Gebete weckte, durch die Gasse, als sie den Schlossberg erreichten. Der Mann schüttelte den Kopf. —

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Am andern Tage wunderten sich die Leute gar sehr, als Leb Rother und Christoph „frank und frei" aus ihrer Haft kamen; es deuchte allen wie ein Wunder. Am Jom Kippur musste Leb Rother Gomel benschen, d. h. Gott für seine Rettung danken. Man hat erst später gehört, was Chajim's Blumele für eine „Judenseele" geopfert hatte.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Aus dem Ghetto