Aus dem Ghetto

Autor: Kompert, Leopold (1822-1886) böhmisch-jüdischer Erzähler und Publizist, Erscheinungsjahr: 1850

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Themenbereiche
Enthaltene Themen: Juden, Judentum, Ghetto, Franzosenzeit, Franzosen, Judenhass, Patriotismus, Befreiungskrieg, Napoleon, Christen, Palffygarten,
Leopold Kompert
Geboren am 15. Mai 1822 in Münchengrätz/Böhmen, gestorben am 23. November 1886 in Wien

Als Sohn eines jüdischen Wollhändlers besuchte er Piaristengymnasium in Jungbunzlau und begann 1838 das Studium der Philosophie in Prag. Aufgrund seiner Mittellosigkeit mußte er das Studium aufgeben und war in der Folge in Wien und Ungarn als Haushofmeister und Erzieher tätig. 1847 kehrte Kompert nach Wien zurück und begann ein Studium der Medizin, das er jedoch zu Gunsten einer Tätigkeit als Redakteur abbrach. Nach 1857 widmete er sich seiner literarischen Arbeit und historischen und ästhetischen Studien. (Spiegel online)
Draußen vor dem Ghetto.

Ich weiß nicht, woher es kommen mag, aber einen Philosophen möchte ich doch darum befragen — warum ich in diesem Augenblicke, darauf sinnend, welchen Geleitsbrief durch die weite Welt ich meinem „Ghetto" mitgebe — warum ich da gerade in Einem fort an den kleinen Berg vor meinem Vaterhause denken muss!

Ich weiß, es war ein schöner Sabbatnachmittag, als hoch oben am steilen Abhang des Berges, von wo man gerade hinunter in die Gasse sehen konnte, meine tollkühne Knabengestalt erschien. Unten auf dem Hausgange stand die liebe traute Großmutter in ihrer verblichen goldenen Haube und der herrliche Großvater und sonnten ihre Seelen und Leiber im Lichte des Tages und freundlichem Gespräch. Sie hatten mich gewarnt, sie hatten mich bebend gebeten, den gefährlichen Weg da hinauf nicht zu gehen; ich hatte sie verlacht und gesagt: Lasst mich! und stand nun da oben. Die Großmutter aber ringt gar angstvoll die Hände gegen mich; ich höre einen Schrei von ihren Lippen, und der Großvater winkt mit dem Finger und schüttelt bedenklich das weiße Haupt! . . .

Mit dem Berg hat es ein eigenes Bewandtnis gehabt. Es war gar nicht so gefährlich da oben zu gehen, und in finsterer Nacht konnte man sich ohne Nachtgebet gerade in den Abgrund schlafen legen. Wir Kinder durften das ganze Jahr dort spielen und jagen, aber nur in der „Sfire", d. i. in den sieben Wochen zwischen Ostern und Pfingsten war uns das verboten: Denn das ist die Zeit der bösen Geister und Mächte; da gehört denen jeder Abhang, jede Kluft, jeder Berg und wer sich unter sie wagt, nach dem haschen sie, der ist ihr verfallen.

Und nun weiß ich es auch, warum ich gerade jetzt, sinnend darauf, welchen Geleitsbrief ich meinem „Ghetto" schreibe, warum ich so lebhaft an den Berg vor dem Vaterhause denken muss. Der Berg, der Berg! Ich hätte nicht so eilig entfliehen sollen da hinauf, wo jetzt die Zeit der bösen „Sfire" ist? Andere wären da oben verfallen und eingesunken, die nicht auf Warnung hören wollten? Bedenklich sehe ich manch' Haupt sich neigen, manch' winkenden Finger, auch manchen Angstschrei kann ich vernehmen. Ich aber sage: Lasst mich! Auf dem Berg muss ich stehen!
        In Wien, bei herannahendem
        Frühling geschrieben.


                        Im Jahre 1850.

Als dieses Buch im Frühlinge des Jahres 1848 erscheinen sollte, schrieb dessen Verfasserin dunkler Ahnung dessen, was die nächsten Zeitmomente brachten, das voranstehende Programm und man wird ihm eine gewisse Sehergabe gewiss nicht ableugnen wollen, wenn man liest, mit welcher Furcht und Bangigkeit er seinem Buch den Geleitschein in die Welt mitgab. Er gesteht es jetzt freimütig, welcher Kleinmut ihn damals befallen und wie er nicht anders glaubte, als dass unter dem Steingerölle zusammenbrechender Verhältnisse auch sein „Ghetto" für immer und ewig begraben sein würde!

Ein freundlicheres Verhängnis hat den Kleinmütigen belehrt, dass sein Fürchten und Bangen wohl Berechtigung aber nicht Erfüllung hatte; es ist ihm die Freude geworden, das Buch gerade unter Umständen und Zeitepochen gelesen und besprochen zu hören, die nichts weniger als günstig waren dem Erzeugnisse des Gemütes, und manche dankende Stimme, manch' warmer Händedruck hat ihm das gesagt.

Auch in einer andern Beziehung hat dieses Buch die prophetische Befürchtung seines Verfassers getäuscht. Er hatte ihm einen Titel an die Stirn geschrieben, der einige Zeit nachher, Dank der unabweisbaren Idee des Rechtes und der Humanität, aus dem Fremdwörterbuch der deutschen Nation und unsers engeren Vaterlandes gestrichen werden sollte! Wenn der Verfasser den alten Titel wieder voranstellt, so bezweckt er damit keine leicht erkaufbare, witzige Demonstration, die etwa den Zweifel ausdrücken sollte, ob denn die Tore der Ghettoschranen auch wirklich weit geöffnet und nicht bloß zugelehnt wären? denn er lebt des heiligen, unwandelbaren Glaubens, dass die Idee diesmal wirklich nun vollständig gesiegt hat —; wenn er also den alten Titel wählt, so geschieht dies aus jenem Gefühle, das uns nicht nur die Orte aufsuchen heißt, wo wir früher glücklich waren, sondern auch jene, wo wir so viel gelitten hatten!

Dieses Gefühl, zu dem die Psychologie einen leichten Aufschluss gibt, mag den Verfasser „der Geschichten aus dem Ghetto" bewogen haben, noch länger innerhalb der Schranken eines Volkslebens zu bleiben, das auf den Wellen des Zeitstromes, neuen ungekannten Formen und Wandlungen entgegengetragen wird. Sollte es ihm nicht erlaubt sein, der scheidenden Zeit noch einmal in das liebe trauliche Gesicht zu sehen, ihre Züge fest zu halten, ehe sie ihm unkenntlich werden? Sollte er den Gestalten, die an seiner Wiege standen, nicht noch einmal die Hände drücken dürfen, bevor Gras auf ihren Gräbern zu wachsen beginnt und eine neue Zeit, unachtsam, über wen sie dahinschreitet, das mit dem Staube ihrer Altwordnen gedüngte Gras zertritt?

Der Verfasser hat es in den „böhmischen Juden," die gleichzeitig mit diesem zweiten Abdrucke der „Geschichten aus dem Ghetto" auf den Büchermarkt treten, versucht.

Mögen beide Bücher die Poesie und Bedeutsamkeit eines Volkslebens ahnen lassen, das vielleicht auf dem Punkte steht, sie zu verlieren!
            Wien, im Juli 1850.

                        Inhalt

            Judith die Zweite
            Alt Babele
            Schlemiel
            Die Kinder der Randars
            Ohne Bewilligung
            Märchen aus dem Ghetto

Kompert, Leopold (1822-1886) böhmisch-jüdischer Erzähler und Publizist

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Die Befreiungskriege 1813-1815. Original-Cover.

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Französischer Kürassier-Offizier

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3. Husaren-Regiment unter Napoleon I.

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Napoleons Krönung in Notre Dame

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