Erste Fortsetzung

Noch an demselben Tage sollte Chajim für seine Franzosenfreundschaft eine neue Wunde erhalten. Er war in die Synagoge gegangen und hatte sich dort unter die fastenden Leute gestellt, als gehörte er zu ihnen. Nach Schul' eilte man schnell nach Hause, denn die Nacht war hereingebrochen und der lange Fasttag hatte ein Ende. Hier und da bildeten sich Gruppen in der Gasse, die nach den drei Sternen am Himmel lugten, denn diese Zahl bildet das gesetzliche Zeichen der angebrochenen Nacht. Auch Chajim blickte hinauf; er wusste selbst nicht warum. Da hörte er hinter sich das heisere Gelächter Leb Rothers, wie der sprach:

„Wer da will sein Wunder erleben, muss sehen den Franzos auf die Sterne gucken. Meint man nicht, die Gedärm' gehn ihm vor Hunger heraus? Sein Fasten soll mir auch nicht schaden."


Das Blut siedete in Chajim's Adern; aber er hielt an sich. Leb Rother fuhr aber in seinen giftigen Bemerkungen fort.

„Hätt' man nicht gesollt meinen, mit Chajim Franzos könnt' man Jerusalem aufbauen? Da seht's, was aus ihm ist geworden; er kennt sich gar nicht mehr. Keck Wesen gilt aber mehr als bar Geld, und alle Stummen wollen am mehrsten reden."

„Meint Ihr mich damit, Rebb Leb," sagte Chajim zitternd vor Zorn und wandte sich um.

„Ein Haar auszieh'n von einem Schwein ist eine große Mitzweh (Gebot)" schrie Leb Rother und ging, mit einem Stoße in Leb's Seiten, schnell vorüber. „Da hast Du's Franzos!"

Wenige Tage darauf ging ein ungeheurer Schreck durch das Ghetto. Französische Soldaten waren in die Wohnung Leb Rothers gekommen und hatten da Hausuntersuchung gehalten. Sie wollten Leb Rother verhaften. Dasselbe war auch bei Christoph geschehen. Die beiden' hatten aber noch frühzeitig „Wind" bekommen und hatten das Weite gesucht. Offenbar war ihr Geschäft verraten worden und der Patriotismus sollte Buße tun. —

Es war dies abgesehen von der Brandschatzung, der erste fühlbare Angriff des strengen Kriegsrechtes und war gegen ein Leben des Ghettos gerichtet. Im Ghetto ist aber jeder wie mit tausend Ketten an das Ganze gebunden. Das Leid hat hier tausend Zungen und wenn hier der Blitzstrahl in eines Einzelnen Glück fährt, senken sich tausend Augenwimpern. Darum ging auch ein Schrei über aller Lippen! —

Leb Rother und sein Gefährte irrten indes in den Preßburger Gebirgen seit einigen Tagen herum. Sie hielten sich immer zusammen und das war unklug von ihnen; denn dadurch konnten sie leichter bemerkt und aufgegriffen werden. Ihr Leben war ein beständiges Blicken in den Rachen einer Klapperschlange! Bei Tag verbargen sie sich in irgend einem dunklen Gesträuch, bei Nacht suchten sie die öden Winzerhütten auf. Leb Rother betete in einem fort aus einem Thillim-(Psalmen-)Buch, das er bei seiner Flucht vom Hause unbewusst zu sich gesteckt hatte; Rebb Christoph pfiff ein katholisches Kirchenlied dazu. Nur des Nachts schlichen sie aus ihren Verstecken hervor und krochen in die Weingärten, um sich mit den halbreifen Trauben zu erquicken, denn es war erst um die Hälfte des Monates August. Oft sahen sie aus ihren Schlupflöchern Soldaten vorüberziehen, die vielleicht auf ihr Leben fahndeten. Dann hielt Christoph im Pfeifen ein, Leb’s Lippen bewegten sich aber schneller und er blätterte sich in dem alten Psalmenbuche den Psalm des Königs David auf, als dieser die Rebellion seines Sohnes Absalon vernommen hatte. „In meiner Not fleh' ich zu dir mein Gott, du bist mein Fels und meine Schutzwehr."

Eines Tages sprach Christoph zu seinem Freunde:
„Mir geht die Geduld aus, Leb, ich bin hungrig wie ein Wolf. Man hört meinen Hunger gewiss bis auf Preßburg.

„Du hast einen langen Hals, Christoph, sagte Leb Rother gleichgültig, sieh' mich an, hast Du schon ein Wort über meine Lippen gehen gesehen?

Christoph schlug ein Höllengelächter auf.

„Meinst Du, rief er, ich bin einer von Deine Leut', ich kann fasten und mich peinigen und kasteien von früh Morgens bis auf die Nacht? Das könnt ihr tun, euch kommt so was zu gut; denn wenn der Mensch sich Essen und Trinken abgewöhnen kann, kann er alles anfangen. Meinst Du, ich weiß nicht, warum ihr das Geld habt?' Aber was macht das? Ich sag' Dir, Leb, der Mensch muss essen und Du weißt gar nicht, was euer Herrgott für ein strenger Patron ist, wenn Du z. B. kein Schweinfleisch essen darfst. Bist Du auch so ein Narr, dass Du meinst, ein Stück davon führt gerad' ins Gehennim?

Dabei schnalzte Christoph mit der Zunge, als läge ihm ein fetter Bissen darauf, Leb Rother aber, statt aller Antwort auf die Blasphemien seines Gefährten, fuhr in den Psalmen fort eifrig fort zu „sagen". Wie Wetterbäche stürzten die alten Laute der Offenbarung über seine Lippen; aber die königlichen Klagelieder machten keinen Eindruck auf Christophs hungrigen Magen.

„Sag' Du nur fort, meinte er lachend, und gib mir keine Antwort, von dem Allem wirst Du doch nicht satt. Und gerad aus dem Buch! Euer König hat in ein' Muck (Wink) mehr Sünden begangen, als Du an tausend Jom Kippurs verantworten kannst. Und hat er nicht auch die Schaubrote gegessen? Deswegen kannst Du Schweinfleisch essen! —

Da Christoph bemerkte, dass er dem Leb mit seinen philosophischen Gründen nichts anhaben könne, dachte er auf andere und solche, die ihn mehr erschütterten. Einstweilen streckte er sich auf den Boden hin und pfiff ein Kirchenlied, bloß um den Leb zu ärgern.

Am andern Morgen, als Leb bei kaum herandämmernden Morgenlicht wieder in seinem Psalmenbuche betete, sagte Christoph mit einer Bewegung in der Stimme, als hätte er an Leb ein Ungeheures entdeckt: Wie kommt das, Leb, dass ich Dich nicht seh' die Tefillin (Gebetriemen) umbinden? Leb, Leb, Du wirst mir ein großer Posche Iisroel! (Abtrünniger von Israel.)

„Narr" sagte Leb, „siehst Du denn nicht, dass ich bin in Not? Ich hab' sie zu Haus vergessen und unsere Gelehrten sagen auch, wenn man in einem Zustand ist, wo man seine Pflicht nicht tun kann, so ist man davon frei. Und das weißt Du nicht, Christoph? Rebb Christoph Du wirst mir ein großer Amhoretz (Ignorant.)

„Gut gesprochen Rebb Leb, rief Christoph mit schrecklichem Gelächter, soll ich leben, gesprochen wie der der erste Rebbe von ganz Ungarn. Wenn der Preßburger Rabbiner stirbt, so müssen sie Dich dazu machen; sie können einen Andern gar nicht brauchen! So soll ich leben, gut gesprochen! Also Deinen Gott kannst Du eher abspeisen als Deinen Magen? Da irrst Du Dich gewaltig, Rebb Leb! Ist Dein Magen nicht jetzt auch in Not? Kannst Du mit ihm nicht dasselbe tun, was Du mit Hand und Kopf tust, wenn Du keinen Gebetriemen umlegst? Ich sag' Dir, Leb, das muss auch im Talmud stehen, das, nämlich der Mensch, wenn er in Not ist und hungrig dazu, überall und alles darf essen. Es muss dort, stehen, und Du wirst's nur überschluppert (überblättert) haben. Ist's wahr oder nicht?

Du bist ein Goi (Christ) sagte Leb, Du verstehst mich nicht. Jed' Wort, Das ich mit Dir red', ist verloren. Lass mich in Ruh!

Die folgende Nacht war der Vorabend des Sabbats. Da es zu dunkel war, um noch zu beten, saß Leb in seinem Verstecke still und sinnend, und seine Gedanken flogen wie Leuchtkugeln nach Preßburg. Da sah er in seinem Geiste, wie der holde, duftende Sabbat überall einzog; er fühlte gleichsam das Wehen seines Kommens, den leisen Flügelschlag seines Herannahens. Überall war Friede, Seeligkeit und Lust. Er kam aus der Synagoge nach Hause, da strahlte die siebenzinkige Lampe so freundliches Licht; sein Weib stand im reinlichen Sabbatkleid vor ihm; auf dem Tische glänzte das weiße Linnen. Seine Kinder, das schwarzhaarige Jossevel und die gescheidtere, sanfte Vögele kamen ihm entgegengesprungen und stritten um die Wette, wen der Vater früher benschen (segnen) würde, und gaben ihm ihre Köpfe zu gleicher Zeit hin. Da legte er, um den Streit zu vermeiden, die rechte Hand auf Jossevels und die linke auf Vögeles Kopf; er bedachte nicht, dass er jedem einen eigenen Segen schuldig war. — Dann hörte er die frommen Tischgesänge der Leute und diese uralten Melodien weckten wieder andere in ihm. In seiner Stimmung fiel ihm das Lied ein, worin man die Ankunft des Sabbats mit einem Bräutigam vergleicht, der seine Braut überrascht. Die ganze Synagoge sang das Lied in ihm mit lauter, freudiger Stimme; aber seine Lippen blieben stumm und bewegten sich nicht.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Aus dem Ghetto