Alt' Babele

Schreiende Knaben, die eben aus der Schule heimkehrten, verfolgten ein altes wahnsinniges Weib über den Pressburger Schlossberg. Ein Jammeranblick war's, dieses Weib zu sehen, wie es fliehend vor seinen unbarmherzigen Verfolgern daherschlumpte, ein großes Pack, das es in den Händen hielt, der Flüchtigen über die Füße schlug, unter der schmutzigen Haube graue Flechten hervorquollen, über die fahlen Lippen eilige Flüche herabstürzten.

„Hendl, wo ist Dein Kind," schrien die Knaben, „wo hast Du Dein Kind, Hendele?" Wenn sich nun ein solcher Ruf in der jauchzenden Rotte erhob, war es merkwürdig anzublicken, welche Veränderung in dem Antlitze der Wahnsinnigen vorging. Da war es nicht anders, als fegte ein furchtbarer Sturm darüber hin, und würfe die Wolken des Wahnsinns wie Kartenblätter auseinander, als träte dann die Vernunft, wie ein gefangen gehaltener Mond still und siegreich hervor!


Über den ganzen abschüssigen Schlossberg hatten die Knaben das alte Weib getrieben. Keine fromme Seele war ihnen in den Weg getreten, sie an ihr frevelhaftes Tun zu gemahnen. Man lässt die Menschen dort überall gewähren, wo sie hassen und verfolgen lernen. So waren sie in die Gegend des Palffygartens gekommen, da wo er seine beiden grünen Tore der Judengasse zuwendet. Wie es immer zu geschehen pflegt, hatte sich auch diesmal unter den Knaben eine starke Seele gefunden, der sich die andern in unbewusster Unterwürfigkeit angeschlossen, und nachtaten, was diese aus angemaßter oder eingeräumter Machtvollkommenheit gebot. Das war das schwarze Maierl, so genannt von seiner Hautfarbe, die nun nicht viel Unterschied machte von einem gewöhnlichen Negerfell, das man aus historisch anbefohlener Liebe noch immer auf die amerikanischen Märkte bringt. Wer sich in diesem Augenblicke das schwarze Maierl so ansah, wie es mit dunkelrot gefärbten Wangen hinter dem wahnsinnigen Weibe einherlief und mit seinen Witzen die Knaben zu unauslöschlichem Gelächter hinriss, dem musste die Seele in trüber Ahnung bluten. Man hätte stehen bleiben und ihn anreden mögen: „Knabe, was verfolgst du dieses Weib? Werde älter, lass Furchen der Erkenntnis über deine Stirne ziehen, verbrenne deine Lippen an dem Scheidewasser der Gesellschaft und dann gehe hin, und verfolge den Wahnsinn, wie und wo du ihn findest. Wir geben dir ihn in allen Sorten und Gattungen, heiligen und unheiligen, verjährten und momentanen; wir geben dir wahnsinnige Adler und Löwen, die triff, denen hacke die Augen aus, mache die Klauen stumpf!"

Wahrscheinlich fand sich aber Niemand, der so gesprochen, denn das schwarze Maierl schrie und jauchzte fort, dass auch ohne Trompeten- und Paukenschall die Mauern von Jericho eingestürzt waren .... wenn nur das schwarze Maierl dabei gewesen wäre! —

Dort bei den grünen Toren des Palffygartens liegen gewöhnlich große Steinhaufen, womit man bei schlechtem Wetter den Kot auszufüllen pflegt. Über einen solchen Steinhaufen wollte der wilde Knabe die wahnsinnige Hendel jagen, damit sie darauf zu Falle kommen, und seiner Unterhaltung neue Reize verschaffen könne!

Aber die Sache kam anders, als sich das schwarze Maierl vorgestellt. Gerade in dem Augenblicke, als er lauter als zuvor: „Hendele, wo ist dein Kind?" rief, und die Knaben begeistert darein stimmten, musste sich etwas von der Seele des alten Weibes losgerissen haben, was wie ein schwerer Druck so viele Jahre darauf gelastet. Da war über diese Züge etwas geflogen, was man nicht Wahnsinn, aber auch nicht Vernunft nennen konnte. Eine Art tierischer Racheinstinkt war es wohl, als sie sich zu dem Steinhaufen niederbeugte, einen Stein ergriff, und zurückgewandt gegen ihre Verfolger, ihn von sich schleuderte. Als hätte der Stein willenbegabte, lebendige Kraft erhalten, als war' er gefeit durch den Fluch des Weibes, flog er fort, fort, bis er an der Schläfe des schwarzen Maierl niederfiel. Maierl fiel mit ihm! —

Blut bringt zur Besinnung. Die rote Farbe strömt über Alles und verwischt die andern Grundtöne. Als das schwarze Maierl so da lag, mit der klaffenden Wundspalte unter der Schläft, aus der sich ein dunkler Blutstrom ergoss, waren die Knaben still geworden. Sie umstanden lautlos den gesunkenen Anführer. Keiner hatte Lust, das edle Geschäft von zwei Augenblicken vorher weiter zu verfolgen. Der Wahnsinn entsprang.

Aus den Häusern und Gewölben kamen die Leute herbei. Sie gruppierten sich um den blassen Knaben, dessen Wangen jetzt gar nicht mehr so schwarz waren, wie früher, sondern bleich und fahl, etwa wie Linnen, das erst zu bleichen anfängt. Darum erkannten ihn viele nicht und hatten Mühe, unter dem fließenden Blute, das auf Wangen und Hals stockte, das bekannte schwarze Maierl herauszufinden. Da war auch ein steinaltes Mütterchen gekommen, das schon an achtzig Mal die Bäume des Palffygartens musste blühen gesehen haben. Das fragte einen von den Herumstehenden, ein dickes, feistglänzendes Gesicht, „Schmul der Trakteur" genannt: „Sagt mir doch', Rebb Schmul, was gibt es denn, dass die Leut' so herumstehen."
„Was es da gibt," antwortete Schmul der Trakteur, „n'Jüngel (Knabe) liegt da in seinem Blut, meschuge (wahnsinnig) Hendele hat ihn mit ein' Stein getroffen."

Als aber das Mütterchen auf den blutigen Knaben am Boden sah, hatte es ihn sogleich erkannt. Mit einem Schrei des tiefsten Erschreckens schlug es die Hände über der verblichenen goldenen Haube zusammen, und schrie mit herzbrechender Stimme: „Das ist ja Maierl, mein Jnigel (Enkel). Maierl, was ist dir geschehen? Was ist ihm geschehen? Da liegt er ja tot und stumm! Maierl, Maierl, steh' auf und komm' mit mir daheim!"

Aber das schwarze Maierl regte sich nicht; eine heftige Ohnmacht hatte seine Sinne mit so starken Banden umzogen, dass es nicht einmal die Stimme seines Großmütterleins erkannte, die ihm doch unter allen Menschenlauten am weitesten zum Herzen kam. Da schrie und weinte das Großmütterlein, dass es den Stein hätte erbarmen mögen, der ihrem Enkel so viel Leid angetan, und noch am Boden neben ihm lag.

„Helft's ihm doch, helft ihm, Leut'," sprach es, „seht ihr denn nicht, dass er ist tot. Habt Mitleid mit ihm, er wird noch ganz verbluten: Weh' geschrien, dass mir so was hat zu kommen."

„Wird ihm gar nichts schaden, dem Jüngel," tröstete Schmul der Trakteur, „er soll die Leut' in Ruh' lassen, kein Kind ist sicher vor ihm, jetzt wird er's wissen."

Ein Blick des Vorwurfs fiel aus den Augen des Mütterchens auf den dicken Sprecher, aber dieser eine Blick war hinreichend, um ihn die ganze Tiefe seines Unrechtes fühlen zu lassen. Mit einem Sprunge war „Schmul der Trakteur" in den Kreis gefahren, hatte den Knaben vom Boden aufgerafft und über seine Schultern geladen. Das blutige Gesicht des Knaben reichte ihm bis an den Rücken, und beschrieb im Weiterschreiten lange rote Spuren.

„Soll ich ihn zu sein Tate (Vater) auf dem Bergel tragen?" fragte er das Großmütterlein.

„Nein, nein, tragt ihn lieber zu mir, Rebb Schmul, es war' nicht schön, ihn so vor alle Leut' herumzutragen."

So keuchte der dicke Träger mit seiner Last den Schlossberg hinan. Händeringend folgt ihm das Großmütterlein, ein über das andere Mal aus gepresster Brust ein tiefes „Weh" herausstoßend, bis die Beiden vor einem verfallenen Hause stillstanden, in welchem das Mütterchen wohnte. Dort hinein trug der gutmütige Schmul den blutüberströmten Knaben. —

Es war ein traulich stilles, dämmerndes Stübchen, wo das schwarze Maierl, Dank der Vorsorge und den kalten Bespritzungen, die sein Großmütterlein in reichlicher Fülle anwandte, wieder die Augen öffnete. Vor dem Fenster breitete ein uralter Nussbaum seine grünen Fittige aus, und brachte Schatten und Kühlung hinein. In der einen Ecke des Stübchens stand ein Schrank geschmückt mit Schalen und Gläsern. Über der Türe war ein anderes kleines Gestell, worauf zinnene Teller wohlgescheuert und glanzblinkend, standen. Ihm gegenüber glänzte von der Wand ein in schwarzhölzernen Rahmen eingefasstes Papier, worauf die Löwen Judas zu sehen waren, die das Wort „Misrach" in Riesenbuchstaben über sich trugen. Darunter stand ein Spruch aus der Bibel, den man aber wegen der bedeutenden Höhe nicht recht lesen konnte. Ein altertümliches Bett, mit einem Schemel davor, eine siebenzinkige Lampe, ein viereckiger Tisch, wahrscheinlich ein Altersgenosse des Großmütterleins machten das Hausgeräte des Stövchens aus, nicht zu gedenken des Fliegenklatschers, der auf dem Tische lag und eines jungfräulichen Kätzchens, das sehnsüchtige Blicke nach den kleinen Milchtöpfchen warf, die auf der Kachel des Ofens standen.

Es war dem wilden Knaben so wohl und so wehe, als er die Augen öffnend, die Hände seines Großmütterleins auf sich liegen hatte; er fühlte nicht das Knochige ihrer Finger, und meinte, es seien linde Fächer, die ihm das heiße Blut kühlten. Er ließ mit sich tun und machen, ohne ein einziges Wörtlein des Widerspruchs zu wagen.

Zuerst entkleidete sie ihn; sie kniete selbst am Boden nieder, um ihn seiner Stiefel zu entledigen, zog ihm dann Rock, Hosen und Weste aus, und schickte sich an, den so entkleideten Knaben in das bereits offene Bett zu legen. Bei jedem Stücke, dessen sie ihn entledigte, murmelte sie leise Worte für sich hin, die aber in Maierl's Ohren wie süße Musik klangen. Plötzlich verzog sich das Gesicht des Großmütterleins zu einem wehmütigen Weinen. Sie war bis aufs Hemd des Knaben gekommen, über das er sein „Arbeh Kanfes" trug. Aber in welch', vernachlässigtem Zustand! Die „Ziges" (Schaufäden) hingen aufgelöst aus den Endlöchern; an dem einen Loche fehlte die „Zizeh" ganz und gar. Da erhob das Großmütterlein jammernd die Stimme und rief aus: „Ach und weh geschrien! Was ist das für eine Zeit, wo'die Kinder so schlecht geworden, dass sie „poßle Zizehs" (schlechte Schaufäden) tragen. Warum hat mich denn Gott nicht schon lang von der Welt weggenommen, dass ich das auf meine alten Tag' noch muss erleben. Maierl, Maierl, schlecht Kind, was Du bist, was möcht der Dede (Großvater) sagen, wenn er das wüsst'? In sein' Grab möcht' er sich umdrehen und Ach und Weh schreien über sein Juigel, was so schlecht ist geworden. Aber der Schem boruch hu (der, dessen Name gelobt sei) hat dich auch dafür gestraft, weil du so ein Posche Iisroel (ein Abtrünniger von Israel) geworden bist und so wird er's Jedem machen, der nicht besser wird als Du. War' Dir denn das zugekommen, Maierl, wenn Du kein so schlecht Kind wärst? Ach und weh geschrien, es gibt gar kein Jüdenkind mehr auf der Welt, es ist alles schlecht, alles schlecht." —

So klagte das Großmütterlein im gerechten Schmerz und seine Worte wären diesmal auf kräftigem Boden aufgekeimt — wenn sie der Knabe nur gehört hätte. Der aber lag wieder in tiefer Ohnmacht, in tieferer als zuvor. Als das Großmütterlein diesen Zustand bemerkte tat es einen Schrei des Entsetzens und stürzte auf den Knaben, den es während des Redens hatte zurücksinken lassen. Kalte Bespritzungen aus dem Waschbecken brachten das schwarze Maierl nach einigen Augenblicken wieder zur Besinnung! Jetzt klagte das Großmütterchen nicht mehr; es beeilte sich vielmehr den Knaben ins Bett zu bringen. Es kostete einige Mühe bis das schwarze Maierl unter der Decke war. Mit zitternden Händen legte das „Babele" ihm die Kopfkissen zurecht, schob und dehnte die Decke, dass die Füß warm lagen und bedeckte ihm den Hals und die Hände.

Dann nahm sie den Schlüsselbund, der auf dem Tische lag und schloss mit einem Schlüssel den alten Schrank auf. Da stöberte sie lange, lange herum. Ein trockenes Husten verriet endlich dass sie den Gegenstand gefunden haben musste, den sie so eifrig suchte. Es war eine Reliquie aus alten, längst entschwundenen Zeiten, eine Reliquie deren einstmaliger Besitzer schon lange eine Beute hungriger Würmer geworden war — es war das „Arbeh Kanfes" ihres seligen Mannes, dem Friede sei.
Wie eine duftende Rose hatte es das Babele aufbewahrt, wie eine duftende Rose, die man in Lenzespracht draußen vom Blütenhange pflückt. Blattweise legt man die Blume in irgend ein stilles Buch und nun nach Jahren wird es wieder hervorgeholt und geöffnet. Da hauchen die Blätter noch immer Duft, und in diesem Dufte wallen leise, nebelhaft zerflossene Gestalten der Vergangenheit, die man nicht greifen, die man nur empfinden kann. —

Aber das Babele hatte zu allen diesen Erinnerungen im gegenwärtigen Augenblick keine Zeit. Schien es doch ganz und gar vergessen zu haben, dass es einmal einen gewissen „Langleser" gegeben, dessen „Arbeh Kanfes" jetzt vor ihm lag. Dieser Nachlass des seligen „Langleser" war aber mit seinem früheren Besitzer so identifiziert, dass man daraus seine bedeutende Länge schon von selbst entnehmen kann. Das „Arbeh Kanfes" des seligen „Langleser" musste nun nicht viel Unterschied machen von dem berühmten Bett Sr. Maj. des Königs Og von Basan, das wie ich glaube, einige vierzig Ellen in der Länge hatte. Das schwarze Maierl hätte daraus Rock, Hosen und Weste und zum Notfall vielleicht auch eine Kappe bekommen. Aber das Alles bedachte das Babele nicht! Sie hatte nur daran zu denken, wie sie dem Maierl das herrliche Amulet umtat. Nach einigen Augenblicken gelang es, und so lag der Knabe in die Reliquie seines Großvaters, wie in einem guten warmen Rock eingehüllt.

Aber das Wichtigste hätte das Großmütterlein beinahe vergessen, wogegen wir an die achtzig Frühlinge der Bäume im Palffygarten erinnern müssen, die in ihrem Gedächtnisse tabula rasa gemacht hatten. Der Knabe lag nämlich barhaupt im Bette. Heftig erschrocken wusste das Babele lange nicht, was es tun sollte? Woher eine Kopfbedeckung nehmen? Die Mütze des Knaben war von Blut ganz getränkt, die konnte man ihm doch nicht aufsetzen? Da trippelte das Mütterchen in größter Verlegenheit im Stübchen umher, leise Worte vor sich hinmurmelnd, wovon der Sinn unverständlich war. Mit einem Mal verklärte sich ihr Antlitz wunderbar; sie hatte gefunden, was sie brauchte, und was meint ihr wohl, dass es war? — Babeles goldene Sabbathaube! Die setzte es dem schwarzen Maierl auf, der in nichts widerstand.

Da sah nun der Knabe aus, wie einer jener Könige aus früheren Zeiten, von denen die Sage geht, dass sie sich mit der Krone ans dem Haupt zu Bett legten! Das lange „Arbeh Kanfes" des Großvaters umhüllte ihn als Krönungstalar, daran waren die Schaufäden als Ordensbänder zu sehen, so wie das gestockte Blut ein prachtvolles Vließ herumgehangen hatte! Sogar historischen Wert hatte der ganze königliche Anzug wie weiland Kaiser Karolus Magnus seiner; denn Großvater „Langleser," und das Babele hatten ihn getragen und waren darin alt und lebenssatt geworden. Das Babele aber glich in diesem Augenblicke einer grauen fränkischen Königin wie sie ihrem Enkel die Krone aufs Haupt setzt.

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Es war Abend geworden. Der Knabe lag im wildesten Wundfieber und fantasirte in ausschweifenden Träumen. Bald schrie er den Namen „Hendl" furchtsam aus, und duckte sich dabei unter der Bettdecke zusammen, als fürchtete er noch einmal von ihrem Stein getroffen zu werden. Bald musste er sich einbilden, er sei ein „Kohn" (Priester) und stünde in der Synagoge und sänge dem Volke die Segnungsformeln vor! Denn er sang wirklich eine jener uralten Melodiken, wobei er die Finger gerade so aufhob, wie es die Priester in der Synagoge machen. Dann kam ihm wieder das Schreckgesicht der wahnsinnigen Hendel, und er kreischte in wilden, unartikulierten Lauten auf. Dazwischen klang, seltsam genug, das Abendlied der Vögel aus dem Palffygarten herüber und rauschte der Nussbaum geheimnisvoll, als wollten sie ihn locken und hinausziehen zu sich.

In diesen Augenblicken gewährte das Antlitz des Großmütterchens einen unbeschreiblich rührenden Anblick. Bald fuhr sie dem Knaben über die heiße Stirne und benetzte ihn mit altem Wasser, bald sprach sie ihm linde schmeichelnde Worte zu, nannte ihn mit den süßesten Namen, vergleich ihn mit Geld, Zucker und Perlen, dann, wenn das alles nichts fruchtete, nahm sie den dicken „Sidur" (Gebetbuch) und sprach mit lauter Stimme einige Psalmen heraus. Die Vögel machten Musik dazu und der Nussbaum rauschte gar gewaltig.

Da tönten mit einem Mahl die drei bekannten Schlage eines hölzernen Hammers an der Haustüre. Es war das das Zeichen zum Minchagebet (Abendgebet) das der Schulklopfer gab. Gleich darauf erhob sich das Großmütterlein und begann in dem alten Sidur eifrig zu beten. Sie hatte sich dabei gegen den Misrach (Ost) gewendet, weil noch dort Jeruschulaim liegt, sie bückte und beugte sich nach allen Seiten, und als sie in den achtzehn Segnungen zu jener Stelle kam, wo man den Herrn des Himmels um Genesung seiner Kranken anfleht, musste sich ihre Seele wirklich von allem Erdentand losgerissen haben. Da sprach sie so flehend, so innig und gläubig, als sähe sie Gott auf seinem Richterstuhl sitzen und trüge ihm ihre Bitte von Angesicht zu Angesicht vor. Wunderbar genug, hatte sich während dieser Zeit die Macht des Wundfiebers gebrochen und der Knabe lag still und ruhig in seinem Bett.

Das Großmütterlein betete noch. Da öffnete sich leise die Türe und herein trat ein schönes Mädchen. Das Nabele grüßte die Eingetretene nur durch ein stilles Kopfnicken, und fuhr im Gebete fort, denn sie durfte nicht „mafßik" sein, d. h. sie durfte ihre Lippen nicht zu weltlichem Gespräche öffnen. Doch der Knabe rief sogleich, als er sie sah, freudig: Golde, Golde, bist Du's wirklich? und streckte der Schwester, denn sie war es, unter der Bettdecke die Hände entgegen.

Die Schwester hatte sich aufs Bett zu Maierl hingesetzt und koste und schmeichelte ihm. Da schien sich aber des Knaben mit einem Male eine Art Abneigung gegen Golde bemächtigt zu haben; er duckte sich von ihr weg und schob die Hand fort, die sie beschwichtigend auf seine heiße Stirne gelegt hatte.

„Gelt, sagte er, Du hast den langen Landtagsherrn draußen vor der Tür' stehen und hast Dich nicht getraut ihn herein mitzubringen. Warum gehst Du nicht hinaus zu ihm Golde? Du kannst Dich mit ihm besser unterhalten, wie mit mir.

Mit fliegenden Pulsen fuhr das Mädchen bei diesen spitzigen Worten auf, und indem sie die Hand auf die Lippen des Knaben stürmisch legte, sprach sie mit bittender Stimme: „Um Gotteswillen, sei still, Maierl, Du machst mich unglücklich, wenn Du auch nur ein Wort redst.“

„Bist Du's nicht schon?“ meinte der kranke Knabe mit furchtbarem Hohn.
„Maierl“, sprach das Mädchen, und Tränen liefen ihm die Wangen herab, „Du kriegst Zuckergebach von mir, wenn Du schweigst.“ Der Knabe lag einige Augenblicke, in tiefen Gedanken, dann sagte er: „Aha, das Zuckergebach, was Dir der Lange gegeben hat? Na das will ich nicht, das kannst Du Dir behalten. Du kannst mir alles Zuckergebach von ganz Pressburg herlegen, ich rühr's nicht an. Geh' nur fort zu Dein Zuraten, er wird bald müd werden von Warten."

Herzinnig bat ihn die Schwester: „Maierleben was hab' ich Dir denn Böses getan, dass Du bist so bös auf mich? Habe ich Dir nicht immer Anbeißen (Frühstück) gebracht, wenn Dich der Vater hat fasten lassen, weil Du früh nicht bist in Schul' gegangen? War ich nicht immer gut gegen Dir (Dich)? Hab' ich Dir zum Schabbesobst nicht immer noch etwas zugegeben? Und wenn Dich der Vater hat wollen schlagen, weil Du beim Verhör aus dem Chumesch (die 5 Bücher Moses) schlecht bestanden bist, hab' ich da nicht die Tür' aufgemacht, damit Du auf und davon kommst? Und jetzt bist so bös auf mich! Wart Maierl, wie Du mir tust, will ich auch Dir tun. Denn so willst Du's Maierl!“

Das Babele hatte eben ihr Gebet beendigt. Mit einer tiefen Verbeugung gegen den Ost, schloss sie die schweren Klammern des Sidurs, nach dem sie vorher auf die letzte Blattseite einen innigen Kuss gedruckt hatte. Sie schien von dem Zwiegespräch der beiden Enkel nichts vernommen zu haben; war es die Taubheit ihrer Ohren, war es die Innigkeit ihres Betens, was sie daran hinderte? Vielleicht beides zusammen.

Ehrfurchtsvoll nahte sich ihr das Mädchen und küsste ihr die welke Hand. Aber nicht wie sonst begrüßte das Großmütterlein die Enkelin mit freundlichem Worte; mit trockener Strenge fragte es: „Wo bist Du denn so lang geblieben, Golde? Ist das schön und recht von Dir, dass Du so spät kommst auf Krankenbesuch zu Dein Bruder Maierl?“

„Ich hab' viel gehabt zu tun, Babe“, sagte das Mädchen mit am Boden gehefteten Blicken, indem sie die Stimme so laut als möglich zu erheben suchte, „ich hab' viel zu nähen gehabt, auch war kein Mensch zu Haus.“

„Red' hecher (höher, lauter), gebot das Babele; ich bin nicht nicht mehr von den Jungen, dass ich Dein Gepiep' soll verstehen.“

„Ich hab' viel zu tun gehabt“, wiederholte Golde mit schmerzlicher Anstrengung, sich vernehmlich zu machen.

Das schwarze Maierl in seinem Bette kicherte bei diesen Worten laut auf und sah höhnisch nach der Schwester. Diese stand ein Bild der Verzweiflung da, und faltete unwillkürlich die Hände, wie zum Gebet, gegen den unbarmherzigen Bruder.

„Und wo bleibt der Vater“, fragte wieder die Babe.

„Er ist auf den Markt nach Tyrnau gefahren“, entgegnete Golde.

„Und die Mamm?“

„Ist noch gar nicht zu Haus gewesen heute.“

„Da hat sich Golde „Simches Thora" (Freudenfest) gemacht“, warf der Knabe mit leisem Gelachter hin.
Länger vermochte nicht das Mädchen, dem Sturm dieser Spottpfeile zu widerstehen. Ein Strom bitterer Tränen brach aus ihren Augen, laut schluchzend warf sie sich in den Lehnstuhl und verhüllte mit beiden Händen das Antlitz.

„Was ist denn Dir Golde“, fragte besorgt die Großmutter, „vielleicht bist Du auch krank?“

„Nein, Babele“, sagte das Mädchen, indem es seine Tränen zu bemeistern sich bemühte, „krank bin ich nicht. Aber ich fürcht vor Maierl, dass er uns nicht schwer krank wird. Soll ich um den Chirurgus gehen?“

„Geh, geh“, meinte das Babele, indem sie auf ganz eigentümliche Weise den Kopf schüttelte, „wer wird gleich den Chirurgus holen? Der ist gut wenn man ihn nicht braucht. Unser Maierl aber wird Morgen in aller früh schon in die Schul' gehen und sein „Amen" nachschlagen. Ist's wahr Maierleben? Und wenn ihm dann besser wird, dann kriegt er von mir, da kriegt er von mir was?“ —

„Ein groß Stück Gugelhop", ergänzte der Knabe.

„Ganz gut, mein Kind“, sagte unbeschreiblich lächelnd die Großmutter, ein groß Stück Gugelhop. Wenn mir aber Maierl die Hand drauf gibt, dass er Morgen in aller früh frisch und gesund ist, wie im Wasser der Fisch, so verzähl' ich ihm ein „Maissele" (Geschichtchen) wie er's gar nicht schöner und besser gehört hat. Willst Du das mein Kind?“

Lächelnd streckte der Knabe die eine Hand dem Großmütterlein hin und sah es mit stummer inniger Liebe an. Golde hatte ihre Tränen schnell getrocknet, und den alten Lehnstuhl zum Bett gerückt, worauf die Babe Platz nahm. Das Mädchen selbst setzte sich zu Haupten des Bettes, um den Knaben nicht ins Gesicht zu sehen. Sie fürchtete sich vor ihm.

Das Babele begann:

„Vor vielen, vielen Jahren, das Babele war damals ihrem „Leser" noch nicht geredet worden, da lebte in Pressburg auf dem Nikolaibergel ein Mann, der war ausgerufen in ganz Pehm, (Böhmen) Marrn (Mähren) und Ungarn. Der hat geheißen Rebb Paltiel Wolf. Auf der ganzen Welt hat es nichts gegeben, was der nicht hätt gewusst. Das ist gekommen daher, weil der Rebb Tag als Nacht hat gelernt und wenn man um zwölf Uhr in der Nacht ist an sein Haus vorübergegangen, hat man ihn können sehen, wie er über der Gemara ist gesessen und hat gelernt. Auf die gute Letzt hat er schon so ßach (viel) gelernt gehabt, dass er gar nicht mehr gewusst hat, lebt er oder nicht. Damit will ich, Gott bewahr und beschütz mich, nicht sagen, dass er gar nicht mehr bei sich ist gewesen; sondern er hat alles vergessen, was um ihn ist vorgegangen. Er hat immer ausgesehen, wie Einer, der aus dem Grab herauskam' wenn noch die Würmer hätten was an ihm übrig gelassen.

Rebb Paltiel Wols hat auch ein Weib gehabt, das hat ihm ein Mädchen geboren. Als nun einmal Rebb Paltie über der Gemara sitzt und lernt, hört er Kindergeschrei und Weinen. Da hat er sein Weib gerufen und gesagt: Esther, was ist das für ein Geschrei, was mich nicht lässt lernen? Da hat sie gesagt: Rebb, das ist ja Dein Kind, das Kind, was ich Dir hab' geboren. — Und von der Minut' hat er's erst gewusst, dass er ein Kind hat.

Gott verzeih's ihm, dem großen Frommen, dessen Andenken gelobt sei, er hat's immer vergessen, dass er hatt' ein Kind. Er hat sich nicht umgesehen auf sich selbst, wie hätt' er sich sollen umsehen auf sein eigen Kind? Das war nicht Recht von ihm, denn das Mädchen ist herangewachsen, ist groß und schön geworden und in der ganzen „Kille" (Gemeinde) hat man geredt von Hendl, Rebb Paltiel Wolfs. Nur der Rebbe selbst hat's nicht gewusst, der war wie blind, und hat nicht gesehen wie andere Leut. Sein Weib Esther ist ihm bald gestorben. Als sie am andern Tag sein Anbeißen nicht hat gebracht zur gewohnten Stund', hat sich der Rebbe ganz erstaunt, wie lang' heut die Weiberschul dauert. Denn er hat geglaubt sie hat sich dort verplauscht. Da hört er auf einmal etwas weinen in der Stub und sieht, dass es Hendl sein Kind ist. „Warum weinst Du, mein Kind“, hat er sie gefragt.

„Warum ich wein'“, sagt ihm Hendl darauf, „warum hast Du den Riss da auf dem Rock?" Da hat der Rebbe auf seinen Rock gesehen, der war zerrissen von oben nach unten. Da hat er erkannt, dass sein Weib tot ist, und hat sich hingesetzt und geweint sieben Tag und sieben Nacht.

Da ist Landtag nach Pressburg gekommen. Was ihr jetzt seht, Kinder, das ist wie nichts, was damals ist gewesen. Das waren Zeiten! Tausende von Fürsten, Grafen und Edelleut sind gekommen, in Samt, Gold und Perlen und der Erdboden hat gezittert, wenn so Einer ist aufgetreten mit Sporn und Säbel. Und die Augen haben Einen weh getan von so viel Sehen auf Sammet und Gold. Da hat auch die ganze Kille vom Landtag gelebt und den ganzen Tag ist der Schlossberg nicht leer geworden von Grafen und Fürsten, die sind gekommen einkaufen und ausborgen mit ihren Gräfinnen und Fürstinnen. Das schöne große Haus auf der Stieg', was Rebb Chajim Schlesinger gehört, das ist vom Landtag gebaut worden. Und auch andere Balbatim (Familienväter) sind damals reich und groß geworden und Alles hat Nahrung gehabt.

Hendl Rebb Paltiels ist den ganzen lieben Tag vor dem Landhaus gestanden und ist gar nicht müd geworden zusehen die Pracht von so viel Kutschen und Pferd und Hussaren, Fürsten, Grafen und Edelleuten. Wen man zu jeder Stund' im Tag dort hat können sehen, war Hendl Rebb Paltiels. Ist sie spät am Nachmittag zu Haus gekommen und hat dem Rebbe das Essen hingestellt, hat der gesagt: Hendl, wie kommt das, mir scheint, Mittag ist schon lang vorüber? Sie hat aber darauf gemeint: Das Fleisch hat nicht gewollt kochen, drum ist es so spät geworden. Und hat er gefragt: Wo bist Du so lang geblieben, Hendl? hat sie drauf gesagt: Ich war ja daheim, und hab' genäht und gestrickt.

Was soll ich euch länger verzählen, Kinder? was jed' Kind weiß in Pressburg. Er dessen Name gelobt sei, soll jedes Jüdenkind vor dem bewahren, was Hendl Rebb Paltiels hat angestellt. Heiliger Gott Israels! warum hast Du das zugegeben, warum hast Du das der frommen Kille Pressburg zugeschickt, dass sich ein Kind so schwer hat versündigen dürfen? Der schlechteste Träger auf dem Schlossberg hätt' sich mögen die Haar' ausreißen und so ein großer Zaddik (Frommer) hat's müssen erleben.

Was soll ich euch länger verzählen meine Kinder, man hat Hendl Rebb Paltiels immer gesehen spazieren gehen mit einem Goi (Christen) der hat ihr schöne Sachen und Kleider gegeben und man hat nicht gewusst, wie und woher. Aus einmal hat man's gewusst, wie es ist schon zu spät gewesen. Hendl, Rebb Paltiels war verloren, sie war geworden Gott soll es ihr noch heut zu Tag verzeihen."
Ein Schrei aus dem Munde des Mädchens, das bis dahin ohne Äußerung zu Haupten des Bettes gesessen hatte, unterbrach hier mit einem Male die Erzählung der Großmutter. Der Knabe aber lag starr und regungslos und trug die Zeichen der angestrengtesten Aufmerksamkeit in seinem Gesichte.

Das Babele fuhr fort:
„Ihr könnt'euch leicht vorstellen Kinder, was man in Pressburg gesagt hat zu dem, was Hendl, Rebb Paltiels hat angestellt. — Man hat lang geschwiegen vor dem Rebbe, weil man sich hat gedacht, er wird's von selbst sehen. Da ist es aber herausgekommen, wie es sich Keiner hat gedacht.

Nämlich so: Am Schabbes Teschuba (Bußsamstag) da hat Rebb Paltiel Wolf in seiner Schul gedarschent (gepredigt) und hat geredet von der Schlechtigkeit der Welt und wie die Leut' jetzt gar nicht mehr so sind, wie sie einmal sind gewesen. In der Kille hat damals ein gewisser Löb Goldstein gelebt, von dem haben die Leut' gesagt, dass er am heiligen Schabbes fahrt und reit' und Geschäfte macht. Auf den hat Rebb Paltiel Wolf in seiner Derascha (Predigt) mit dem Finger hingewiesen und hat gesagt, die heilige Stadt Jeruschulaim wär' nur durch solche Menschen zu Grund gegangen und dessen wegen sein wir noch in der Fremd', weil solche Menschen unter uns sind. Wie die Leut' von der Derascha sind fortgegangen, haben sie unter einander geredt: Löb Goldstein hats heut' gut bekommen vom Rebbe, warum ist er auch so ein Posche Jisroel?

Das hat Lob Goldstein gehört, und ist am andern Tage zum Rebbe gegangen, und wie er ein ausgelassener Mensch war, der sich nicht um Gott und die Welt hat umgesehen, hat er zu ihm gesagt: Rebbe seid mirs mochel (verzeiht mir) Ihr habt mich gestern in eurer Derascha einen schlechten Menschen gescholten und einen Posche Jisroel. Noch einmal verzeiht mirs, Rebbe, ich bin ein großer Amhorez (Ignorant) und Ihr seid ein Rebbe — aber soviel weiß ich doch, dass Hendl, Rebb Paltiels in vierzehn Tagen eine Mihle (Beschneidung) machen wird.

Gott verzeih' mir meine Sünden! Ist das ein Schlag gewesen für den Rebbe! Der Schlag hat ihn auch auf der Stell' getroffen, erst in die Zung' und zuletzt ins Herz! Am andern Morgen war er tot! Erst als die Schinne (Agonie) über ihn war gekommen, hat er auf einmal wie durch ein Wunder die Sprache wieder bekommen. An seinem Bett ist Hendel gestanden und hat bittere Tränen vergossen. Da hat sich der Rebbe aufgesetzt, die Hand ausgestreckt und zu ihr gesagt: Ich bin muftech (ich bin sicher), dass du ein Spott wirst werden für Kinder und Kindeskinder; gebären wirst Du, aber die Frucht von dem Leib wird werden weggenommen von der Benemmerin, Du sollst an deinem Kind keine Freud' haben; Du sollst's nicht kennen, Du sollst nichts wissen von ihm!"

Hier ließ sich das Großmütterlein auf die Frage Maierls, was denn das wär' eine Benemmerin? in eine lange Erklärung dieses Wortes ein. Benemmerinen sind eine Art Hebammen, die mit bösen Geistern im Bund stehen, und den gebärenden Weibern die Kinder wegnehmen. Wo eine solche Benemmerin erscheint, stirbt das Kind, oder bekommt einen Leibschaden, zuweilen schieben sie verunstaltete Wechselbälge an die Stelle der neugeborenen Kinder. Den Gebärenden selbst machen sie die Milch zu Kopf steigen, erregen ihnen Fieber, Wahnsinn, ja auch den Tod. Wo man sie nicht ruft, schlüpfen sie durch's Schlüsselloch; auch als Katzen mit grünen funkelnden Augen hat man sie gesehen, und wenn man solches Getier nicht sogleich mit einem kräftigen Besenstiel zu Paaren treibt, entsteht Unglück im Haus. Um sich nun vor solchen Benemmerinen zu bewahren, geht man im Augenblick des Gebarens zu einem Rebbe und lässt sich von ihm eine Art Talisman geben. Dieser besteht in einigen Blättchen beschriebenen Papiers, worauf der Schild Davids zu sehen ist, mit einigen kabbalistischen Sprüchen, deren Initialbuchstaben ein kräftiges Präservativmittel gegen dergleichen böse Geister sein sollen. Unter diesen Sprüchen steht einer von den Stufengesängen des Königs David. Diese Blättchen werden in der Stube der Wöchnerin über Türen und Fenster ausgehängt und bleiben dort so lange liegen als diese das Bett hüten muss. Den männlichen Kindern legt man in der Nacht das Messer, womit sie morgen der Nation einverleibt werden, unter den Kopf; auch muss man die ganze Nacht bei ihnen Wache halten und „lernen" wozu man einen Rebbe mitnimmt. Der Gevatter, der das Kind zur Beschneidung trägt, muss in der Nacht oft nachsehen, ob dem Kind kein Unheil geschehen sei. —

„Von der Minute an, fuhr das Babele fort, hat Hendel Rebb Paltiels keine frohe Stund' mehr gehabt. Sie hat sich schier die Augen ausgeweint, aber hat das was genutzt. Mit einmal war sie wie verschwunden. Da haben die Einen gesagt: sie hat sich in die Donau geworfen, andere wieder haben sie auf dem „guten Ort" (Begräbnisplatz) gesehen, wie sie auf dem Grab ihres frommen Vaters ist gelegen und hat geweint. Es ist aber Alles nicht wahr gewesen. Da in der Stub', wo ich euch diese Maiße (Geschichte) erzähle, hat sie gewohnt und ist da geblieben so lang', bis sie in die Wochen ist gekommen. Sie hat eine Muhm' gehabt, die war die Schwester von ihrer Mutter, die hat ihr immer geschickt zu essen; aber zu ihr ist sie nie gekommen, sie hätt' sich versündigt, hätt' sie nur angerührt an ihr.

Als die Zeit des Gebärens war gekommen hat Hendel große Furcht und Angst bekommen. Man hat sie können schreien hören, über den ganzen Schlossberg, Tag als Nacht. So jämmerlich hat sie geweint und geschrien, dass man geglaubt hat, jetzt ist's aus mit ihr. Am dritten Tag ist es still geworden, sie hat ein Kind geboren gehabt, das war ein Jüngel. Als nun das Kind der Leiden war zur Welt gekommen, hat sie es lang an sich gedrückt und gesagt: Mein toter Vater hat mir geflucht, dass ich ein Spott werde werden für Kind und Kindeskinder, dass ich werde gebaren, mein Kind wird aber durch eine Benemmerin wegkommen! Das soll aber nicht so sein, so soll ich leben! Und hat das Kind treu überwacht und bei sich behalten, drei Tag und drei Nächt', weil sie immer gefürchtet hat, die Benemmerin könnt' kommen und ihr das Kind nehmen. Aber länger hat sie das nicht aushalten können. In der dritten Nacht sind ihr die Augen von selbst zugefallen, so fest, als wären sie mit Riegeln verschlossen. Da kommt es ihr vor, eine weiße Frau, die aussieht wie Eine, die man in Tachrichim (Sterbekleider) gehüllt hat, tritt zu ihrem Bett und nimmt ihr das Kind aus dem Arm. Sie aber kann nicht aufstehen, die Fuß' sind ihr wie von Blei, sie kann nicht schreien, das Wort bleibt ihr in der Kehle. Da schreit sie endlich aus gepresster Brust: Adonai Elohim! und sogleich springen ihr die Augen auf und sie sieht wie die Benemmerin mit dem Kind schon zur Türe hinauswill. Heiliger Gott Iisraels! Da ist sie aus dem Bett gesprungen, so wie sie war, im Hemd und barfüßig und ist der weißen Frau nachgeeilt bis an die Türe. Dort hat sie sie ereilt und hat sich mit ihr geschlagen und gerissen, bis sie das Kind müssen fallen lassen und verschwunden ist. —

Am andern Tag hat man auf dem Schlossberg ein junges Weib gesehen, das ist schreiend auf und abgegangen und hat geschrien: Wo ist mein Kind, mein Kind, mein Kind?! Das war Hendl, Rebb Paltiel Wolfs, die schöne Hendl, die in der Nacht war wahnsinnig geworden. Man hat sie am kalten Boden gefunden, das Kind neben ihr. Sie war wie tot! Als ihr der Doktor hat zur Ader gelassen, ist frisches rotes Blut gekommen, aber die Besinnung nicht wieder. Ihr Kind hat sie nicht wieder erkannt. Seit dem Tag hat sie es überall gesucht und so ist wahr geworden, was der Rebbe in seiner letzten Stund' hat gejagt." —

Das Babele schwieg erschöpft. Man hörte nur ein leises Schluchzen, das von dem Mädchen kam.

Plötzlich stand Golde auf, näherte sich der Großmutter und küsste ihr stürmisch die welken Hände. „Gott der Allmächtige sei davor, sagte sie, ich will nicht werden wie Hendel, gute Nacht, Babele" — und schwankte heftig weinend zur Türe hinaus!

Es war Nacht geworden. Der Knabe lag wieder im wilden Wundfieber und schien von schreckenden Traumen bewegt. Das Babele hatte Licht angezündet und betete bei seinem Scheine still und eifrig in dem Sidur, den sie wieder hervor gesucht. Bete, bete, gutes Babele! Du hast zwiefach zu bitten! für den einen Enkel, dass er am Leibe genese, für den andern, dass sein Leib und seine Seele rein bleiben von den Schrecken eines tiefen Falles! . . . Jetzt nickst du, jetzt schlummerst du! Ich hebe dir nicht einmal die Brille auf, die dir indes entsunken — du könntest aufwachen und zürnen, und du hast den Schlaf nötig!

Bewahre dich Gott' und seine Heerscharen vor allem Unheil, du liebes treues Babele! Es ist nicht das letzte Mal, dass wir von dir sprachen!

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Aus dem Ghetto