Sikawei - Eine meteorologische Station im fernen Osten

Wir sitzen abends in dem hübschen Garten des Astorhotels in Schanghai und atmen nach der unerträglichen Glut der letzten Tage endlich einmal auf. Der „Boy“ hat uns bereits die vierte Flasche Sodawasser auf den Tisch gestellt, und wir mischen das kühlende Getränk aufs Neue mit dem ausgezeichneten Whisky, der ihm belebende Kraft verleiht. Der Schein des elektrischen Bogenlichts lässt eine bunt zusammengesetzte Gesellschaft von Europäern erkennen, die sich hier zum Nachttrunk eingefunden haben. Ganz in unserer Nähe sitzen englische und amerikanische Kaufleute mit ihren Frauen und besprechen die neuesten Tagesereignisse. Nicht weit davon hat ein deutscher Gelehrter, der zu landwirtschaftlichen Studien eine Reise um die Welt unternimmt, seine Brille auf die Stirn geschoben und sich in die „Shanghai Times“ vertieft.

In der Nähe des Büfetts, das im Garten aufgestellt ist, stößt eine größere Gesellschaft mit dem Glase Sekt in der Hand auf das Wohl eines weißbärtigen alten Herrn an, der abends mit dem Schiff nach Dalny abfahren will. Beim Heimweg aus dem Klub sprechen noch ein paar Junggesellen, die sich als unsere Landsleute zu erkennen geben, in dem Gartenrestaurant vor und erzählen sich lustige Geschichten über „Menschliches, allzu Menschliches“, das sich in den Boudoirs von Schanghai ereignet haben soll.


An den Fenstern des stolzen Gebäudes, das dem deutschen Generalkonsulat gehört, sind die letzten Lichter bereits erloschen, und auch die Klänge des Konzerts, das im Public Garden veranstaltet wurde, sind verhallt. Nur am Bund, wo der Verkehr niemals ganz zur Ruhe kommt, zeigt sich noch Leben, und auf der Brücke neben uns hört man lautes Schwatzen und Zanken von Kulis, die mit ihren Rickshaws angefahren kommen.

Der Orkan, der den ganzen Tag durch die Stadt raste, ist noch immer nicht zur Ruhe gekommen. Am Himmel werden dunkle Gewitterwolken wild durcheinander gejagt, und der Wusung lässt seine Wellen am Ufer wie früher hoch aufspritzen. Aber in der geschützten Nische des Gartens, wo wir Platz genommen haben, empfinden wir nur das Wohltuende der Kühlung, die zu uns herüberweht. Während wir die bedeutungsvollen Ereignisse besprechen, die in den letzten Jahren über Schanghai hinweggezogen sind, vergeht die Zeit so schnell, dass wir gar nicht merken, wie es plötzlich 1 Uhr in der Nacht geworden ist und der Garten sich bereits geleert hat. Die Zeche wird von den Einheimischen mit Bons bezahlt, die man ihnen am Ende des Monats zur Honorierung vorlegt. Bevor wir aber noch zu Hut und Stock greifen, fragt mich einer aus der Gesellschaft, ob ich schon in Sikawei, der berühmten meteorologischen Station in der unmittelbaren Nähe von Schanghai, war. Als ich diese Frage verneinte, verspricht mir mein liebenswürdiger Kollege C. Fink, der Herausgeber des „Ostasiatischen Lloyds“, mich am Mittag des nächsten Tages mit seinem Wagen abzuholen und zu den Brüdern hinauszufahren, unter deren Leitung diese wissenschaftliche Anstalt steht, und die ihr zu einer unermesslichen Bedeutung für die Schifffahrt an der ostasiatischen Küste verholfen haben.

Unser Gefährt bewegt sich in westlicher Richtung von Schanghai auf einer gut gehaltenen Landstraße neben einem ausgetrockneten Kanal. Wir sehen hübsche Villen und Gartenanlagen an uns vorbeiziehen. An einzelnen Stellen ragen aus der Erde einsame Gräber empor, die der Ahnenkultus der Chinesen pietätvoll erhalten hat und die nun auf dem Wege stehen, die sich der moderne Verkehr gebahnt hat. Nach acht Kilometer kommen wir zu einem Dorf, dessen Bewohner sich trotz der Bescheidenheit ihrer Existenz rühmen, von einem Minister abzustammen, der sich zu Anfang des siebzehnten Jahrhunderts zum Christentum bekehren ließ und bei der Ausbreitung der neuen Heilslehre selbst eifrig tätig war. Er trat von seinem Amt zurück, entsagte dem Glanz des Hoflebens in Peking und kehrte nach seiner Vaterstadt Schanghai zurück, um dem Glauben, den er von den Jesuiten angenommen hatte, treu zu bleiben und einen Mittelpunkt für deren Missionsbestrebungen zu bilden.

Das Kühne und Erfolgreiche seines Unternehmens muss uns mit umso größerer Bewunderung erfüllen, als China zu jener Zeit von der Außenwelt noch völlig abgesperrt war und die Missionare bei ihren Bekehrungsversuchen nirgends Unterstützung und Schutz fanden. Ein großer Teil von ihnen musste in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts ihren Glaubenseifer mit dem Tode bezahlen, und die christlichen Ansiedelungen wurden gewaltsam beseitigt. Nur in dem Dorf Sikawei erhielt sich eine von ihnen und blühte im Verborgenen weiter. Mit der Erschließung Chinas in der Mitte des vorigen Jahrhunderts kam eine neue Entwicklungsperiode über diese christliche Kolonie, die sich nun mit unbeugsamer Energie wissenschaftlichen und pädagogischen Zielen zuwendete, um aus beiden Gebieten in kurzer Zeit Bewunderungswürdiges zu leisten.

Verbinden wir sonst mit dem Wesen der Jesuitenlehre die Vorstellung eines finstern Glaubensfanatismus, der sich vom Leben abwendet und die Natur des Menschen einer engherzigen, religiösen Weltanschauung zuliebe unterdrücken will, so finden wir die Patres in Sikawei durchaus auf der Höhe des modernen Geistes, der keine Schranken duldet, sondern sich bei der Bewältigung neuer Aufgaben immer wieder verjüngt. So wurde an der Ostküste Chinas eine Musteranstalt begründet, die, nach europäischem Vorbild eingerichtet, allmählich eine außerordentliche Wichtigkeit erlangt hat. Wird in ihr die Jugend zu wissenschaftlicher Tätigkeit herangebildet, so breitet sie gleichzeitig ihren schützenden Einfluss über weite Gebiete des Stillen Ozeans aus.

Meteorologische Stationen finden wir gegenwärtig auf der ganzen Welt. Sie dienen dazu, die Natur und den Charakter der Winde, die Beschaffenheit der Luft nach Druck, Temperatur und Feuchtigkeitsgehalt sowie das ganze Gebiet der Wetterkunde mit Blitz und Donner, Regen und Nebel zu erforschen und dadurch die Gesetze festzustellen, nach denen sich diese Naturerscheinungen entwickeln. Wir finden dergleichen Stationen, die mit Instrumenten in verschiedenartigster Ausführung und Verfeinerung ausgerüstet sind, in den großen Städten, an Küstenplätzen und auf den Spitzen der Hochgebirge. Ihre Leitung erfolgt von den Zentralstellen, welche die täglich einlaufenden Beobachtungen sammeln, sie wissenschaftlich verarbeiten und praktisch verwerten. Für Deutschland hat diese Aufgabe die Seewarte in Hamburg übernommen, die ihre Angaben von ganz Europa empfängt. Ihre Mitteilungen lesen wir allabendlich in der Tagespresse, und ihre Sturmsignale gehen zur Sicherung der Schifffahrt unserem gesamten Küstengebiete zu. In ihr besitzen wir die wissenschaftliche Summe dessen, was durch jahrhundertlange Forschungen auf dem Gebiet der Meteorologie überhaupt zutage gefördert ist.

Mit gerechter Bewunderung muss es uns daher erfüllen, auch innerhalb des chinesischen Reichs und in der Nähe des Stillen Ozeans einer Schöpfung zu begegnen, die sich auf gleicher Höhe der Erkenntnis hält und dieselben Ziele wie unsere deutsche Musteranstalt verfolgt. Am ersten Januar 1901 wurde in dem Dorf Sikawei das von den Jesuiten begründete Observatorium eröffnet, das mit Recht für eine der größten Sehenswürdigkeiten in und um Schanghai gilt. Mag der Laie auch nur ein Unvollkommenes Verständnis für die stille und geheimnisvolle Tätigkeit besitzen, die hier bei der Beobachtung der Luft und Witterungsverhältnisse entfaltet wird, so nimmt er von dem Besuch dieser Anstalt doch einen unauslöschlichen Eindruck mit, wenn er erfährt, von welcher Wichtigkeit für Handel und Schifffahrt die Forschungen sind, die an dieser Stelle angestellt werden.

Die ungeheure Strecke von der Mündung des Amur bis nach Saigon und Tausende von Kilometern in östlicher Richtung unterliegen den Beobachtungen dieses Observatoriums. Täglich laufen etwa fünfzig telegraphische Mitteilungen ein, die mit ihren Zahlen in die Register eingetragen werden und aus denen sich praktische Schlussfolgerungen ziehen lassen. Kein Dampfer läuft von den Häfen des Stillen Ozeans aus, ohne sich vorher nach den Meldungen des Observatoriums von Sikawei gerichtet zu haben. Die Signale, die von dort ausgehen, werden auf dem Bund in Schanghai mit Ungeduld erwartet, denn sie bedeuten für Reedereien unter Umständen die Verhütung großer Verluste.

Observatorium in Sibawei.

Nie werde ich den Eindruck vergessen, den das Observatorium auf mich machte, als wir bei der Fahrt durch das Dorf das schöne Gebäude, von allen vier Seiten von einer Mauer umgeben, vor uns liegen sahen. Es besteht aus zwei Stockwerken, deren Front den Charakter eines Schlosses zeigt. Aber der Mittelbau wird durch einen viereckigen Turm gebildet, der es in mehr als doppelter Höhe überragt, ohne deshalb die wohltuenden, architektonischen Linien des Bauwerks aus ihrer Harmonie zu bringen. Vor dem Hauptportal ist eine Doppeltreppe angebaut, und auf ihrer Plattform spielte sich ein Schauspiel ab, das mit der Umgebung dieses Tempels der Wissenschaft wundervoll abgestimmt war. Ich erblickte dort die Gestalt eines der Väter, die sich mit der täglichen Beobachtung des Himmels beschäftigen. Er stand, als wäre er in sich erstarrt, ohne auch nur eine Spur von Bewegung zu verraten, auf der Treppe und blickte zu den Wolken empor, die sich als schwärzliche, zerrissene Masse über ihm austürmten. Den Kopf hatte er weit zurückgelehnt und die Arme schlaff an den Hüften herunterhängen lassen. Das schmale, bleiche, knochige, bartlose Gesicht verriet keinerlei Leben. Nur die Augen glühten und sogen alles in sich auf, was sie in dem rätselhaften Spiel der Himmelserscheinungen zu erkennen glaubten.
Der Pater hatte uns nicht bemerkt, und wir warteten an der Treppe etwa fünf Minuten, ohne diese geheimnisvolle Stille mit einem Wort zu unterbrechen. Wir hatten das Gefühl, einer heiligen Handlung beizuwohnen, die von den Zuschauern Andacht verlangt. Endlich wendete der Geistliche, dessen schwarze Kleidung sich von den schimmernd hellen Mauern des Gebäudes als tiefer Schatten scharf abhob, sich einen Augenblick nach rechts und links, um den ganzen Horizont zu überblicken, drückte auf den Knopf eines Apparats, der in der Mauer befestigt war, und ging eiligen Schritts durch das Portal in das Innere des Gebäudes. Was hatte er am Himmel Wichtiges erkannt? Bedeuteten die Bewegungen der Wolken ein Nachlassen des Taifuns, der am Tage vorher gemeldet war, oder ein erneutes Losstürmen seiner elementaren Gewalt? Wir wussten es nicht, fühlten aber, dass der Telegraph in diesem Augenblick eine wichtige Nachricht den entlegenen Häfen der sibirischen Küste und den Wetterstationen auf den Inseln des Stillen Ozeans zublitzen würde. Für zahllose Schiffe musste es sich in der nächsten Stunde entscheiden, ob sie ihre Anker lichten dürfen oder im Hafen zurückbleiben müssen.

Schon lange bevor dies neue Gebäude mit seinen kostbaren Instrumenten und Tabellen, seinen Büchern und Sammlungen aller Art eingeweiht war, haben diese Männer, die ihr Leben in klösterlicher Abgeschiedenheit der Wissenschaft widmen, die Lösung ihrer Aufgaben mit einem Ernst in die Hand genommen, der an die Weihe gottesdienstlicher Handlungen erinnert. Sie fühlen sich als Werkzeuge der Vorsehung, die es in ihre Hand gelegt hat, auf die Gefahren von Wind und Wellen aufmerksam zu machen und die Seeschifffahrt dadurch vor unermesslichem Schaden zu bewahren.

Auch die schreckliche Katastrophe, welcher das deutsche Kanonenboot „Iltis“ im Juli 1896 zum Opfer fiel, sollte durch ihre Fürsorge verhütet werden. Das Observatorium hatte das Herannahen des Taifuns richtig erkannt und sofort eine warnende Depesche abgehen lassen. Bevor sie aber veröffentlicht werden konnte, hatte der „Iltis“ bereits seine Anker gelichtet, um bald daraus von dem Orkan an die Klippen geworfen und zerschellt zu werden.

Die Väter des Observatoriums sind ungemein seine, ruhige Leute, denen man den Ernst ihres Berufs, ihre angespannte, geistige Arbeit sofort anmerkt. Alles Kleinliche und Gewöhnliche scheint von ihnen abzufallen, während sie die geheimnisvollen Veränderungen beobachten, die unaufhörlich am Himmel vor sich gehen. Sie fühlen, dass sich mit uns Laien über so schwierige und erhabene Dinge nicht viel reden lässt, freuen sich aber doch über das aufrichtige Interesse, das wir ihren Arbeiten entgegenbringen. Vornehm zurückhaltend und doch freundlich lächelnd führen sie uns durch die Gänge und über die Treppen des Observatoriums, wo es so still und feierlich wie in einer Kirche zugeht.

Wir kommen zunächst in ein Zimmer, wo an der Wand zwischen den beiden Fenstern ein Apparat zur Registrierung der Winde aufgestellt ist. Er besteht aus einem System von äußerst empfindlichen Hebeln und Zeigern, das bis zum Dach des Turms hinausführt. Der seine Druck, den die Bewegung der Luft dort oben hervorruft, verwandelt sich vor unseren Augen in eine vielzackige Linie, die durch den Apparat auf ein Blatt Papier gezeichnet wird. Die graphische Darstellung, die sich hierbei entwickelte, verriet uns, wie der Taifun von Süden, von der Insel Formosa, herauskam und sich nach Japan zu wenden schien. Unterscheidet der Laie gewöhnlich nur acht Windrichtungen, so rechnet die Wissenschaft mit viermal so vielen Nuancen und kennt für die Seefahrt alle zweiunddreißig Punkte der Windrose. Während der Zeiger auf dem Papier zittert und die Linie sich in größeren und kleineren Krümmungen fortsetzt, verrät sich in der Stille dieses Gemachs vor den Augen des Beobachters alles, was sich draußen auf dem Ozean beim Toben der Elemente abspielt.

Wir kommen in ein anderes Zimmer, wo sich auf einem Tisch unter einer Glaskuppel ein senkrecht aufgestellter Apparat in Form eines Fernrohrs befindet. Hier wird täglich eine genaue Bestimmung der Zeit vorgenommen. Der Pater betritt das Zimmer einige Minuten, bevor die Sonne den höchsten Stand erreicht hat, und verfolgt den Zeiger der daneben befindlichen Uhr, bis er aus zwölf hinüberspringt. In diesem Augenblick drückt er auf den Knopf der elektrischen Leitung, die nur für diesen Zweck von Sikawei nach Schanghai gelegt ist.

In derselben Sekunde fällt auf einem Platz des Hafens an einer Stelle, die sich von allen Schissen genau beobachten lässt, ein großer Ball hernieder. Genauso, wie in Paris im Garten des Palais royal und in St. Petersburg in der Peter und Paulfestung die Kanone abgefeuert wird, um die Bewohner daran zu erinnern, dass die Hälfte des Tages vorbei ist, gibt dieser Ball in Schanghai das Zeichen, nach ihm die Uhren zu stellen.

Interessant ist auch ein Besuch der Bibliothek mit ihren reichen Schätzen an geographischen und naturwissenschaftlichen Werken, an Karten und Zeitschriften aller Art. Die Einrichtung der Kataloge, die Spuren emsiger Tätigkeit, die wir beim Sammeln der eben eingelaufenen Notizen verfolgen können, die Ordnung und Übersichtlichkeit, die überall herrschen, machen den wohltuendsten Eindruck. Eben soll ein Stoß deutscher meteorologischer Zeitschriften, die sichtlich fleißig studiert worden sind, zum Buchbinder getragen und der Bibliothek eingereiht werden.

Welchen Aufschwung die wissenschaftlichen Arbeiten in diesem Observatorium genommen haben, erkennt man an dem bescheidenen Heim, auf das sie sich früher beschränken mussten. Und doch bildete dieser Bau für das Jahr 1871, in dem er erstand, eine bedeutsame Leistung, und auf dem, was hier geschaffen war, konnte man weiter bauen und das Ziel der Erkenntnis immer höher richten. Gegenwärtig werden in diesem Haus ausschließlich photographische Aufnahmen hergestellt, die weite Verbreitung gesunden und den Ruhm dieser Anstalt in allen Landen verkündet haben. Noch schlichter nimmt sich äußerlich die erdmagnetische Station aus, in welcher die Arbeit zu keiner Tages- und Nachtstunde ruht, und h?ufig von auswärts Anfragen über die jüngsten Ergebnisse der Beobachtungen einlaufen.

Kollege Fink macht mich auf ein zweistöckiges Gebäude in Form einer Villa aufmerksam, dass ich sonst wahrscheinlich übersehen hätte. Darin befindet sich das Museum des Klosters mit seiner reichen Sammlung an ausgestopften Tieren, Skeletten sowie seinem Herbarium, das für die Flora in Ostasien von maßgebender Bedeutung ist. Der Begründer dieser Anstalt war der vor kurzem gestorbene Pater Pierre Heude. Mein Führer hat ihn gut gekannt und schildert ihn als einen Greis, der zwar an seinen Rollstuhl gefesselt war, aber nicht müde wurde, sich an dem Leben in der Natur zu erfreuen und für das weitere Gedeihen seiner Lieblingsschöpfung zu sorgen. Wenn die Mittagsglut gar zu empfindlich brannte, saß er mit einem mächtigen Sonnenhut, der ihm das Aussehen eines Pilzes gab, in seinem Garten und erzählte den fremden Besuchern von seinen ausgedehnten Reisen in das Innere von China und Japan, von seinen Ausflügen nach den Sundainseln und den Philippinen. So klein der Raum war, innerhalb dessen er sich als müder, gebrochener Mann bewegen konnte, so groß war das Gebiet, das er geistig beherrschte und immer noch zu erweitern dachte, als der Tod ihm die Augen zudrückte.

Man kann über das Wesen der Mission, wie sie in China ausgeübt wird, sehr verschiedener Meinung sein. Ich selbst fühle mich nicht berufen, ihre Licht und Schattenseiten auseinander zu halten, und beschränke mich nur darauf, den Eindruck wiederzugeben, den ich von ihrer Tätigkeit in Sikawei empfangen habe. Was ihre wissenschaftlichen Leistungen bei der Leitung des Observatoriums betrifft, so werden sie von der ganzen Welt anerkannt und besitzen, wie gesagt, für den Schiffsverkehr auf den ostasiatischen Gewässern eine tief einschneidende, praktische Bedeutung.

Nicht weniger beachtenswert sind aber auch ihre Leistungen auf pädagogischem Gebiete. Unter der Leitung der Mission steht auch ein Waisenhaus, in welchem nicht weniger als zweihundert Knaben, denen die liebende Fürsorge der Eltern fehlt, zu tüchtigen Mitgliedern der menschlichen Gesellschaft nach dem Wahlspruch: Bete und arbeite! erzogen werden. Bei der Besichtigung dieser Anstalt war es ebenso überraschend wie wohltuend, im „fernen Osten“ auch auf diesem Gebiet den Spuren deutschen Geistes zu begegnen, wie er sich in fremde Verhältnisse eingelebt und unter schwierigen Verhältnissen Treffliches geleistet hat. Als wir das Waisenhaus besichtigen wollten, stellte sich uns ein Pater Beck zur Verfügung, der uns als Landsmann begrüßte und an dessen Aussprache die bayerische Herkunft unschwer zu erkennen war. In der Tat stammte er aus Ulm her und verriet alle Kennzeichen eines gesunden, tüchtigen Menschenschlages, der sein Ziel mit zäher Kraft und Geschicklichkeit verfolgt.

Pater Beck ist Architekt, Maler und Bildschnitzer und verbindet mit dieser dreifachen künstlerischen Tätigkeit das Lehramt in der Knabenschule. Von ihm rühren die Entwürfe für das große Gotteshaus her, dessen Mauern aus dem Boden wachsen, nachdem die alte, vor fünfzig Jahren geschaffene Kirche sich als zu klein erwiesen hat. Er beaufsichtigt alles, was aus den Händen der Waisenkinder an künstlerischen und kunstgewerblichen Leistungen hervorgeht. Es war eine ausgedehnte Wanderung, zu der er uns einlud, als wir die beiden langgestreckten, zweistöckigen Flügel der Anstalt vor uns liegen sahen. Die chinesischen Burschen waren nicht nur damit beschäftigt, Heiligenbilder aller Art anzufertigen und Schnitzereien für Kirchen auszuführen, sondern erwiesen sich auch für die Herstellung von Dingen, die zum praktischen Leben gehören, als äußerst gewandt. Andere wurden für die Buchbinderei und Druckerei ausgebildet, um auf diesem Gebiet später einmal ihr Brot selbständig verdienen zu können.
Die besten Proben ihrer Arbeiten sind in einem Museum ausgestellt, das Hunderte von Gegenständen enthält und zeigt, wie sich der Jugendunterricht von aller Einseitigkeit freihält, wenn auch naturgemäß der kirchliche Charakter der Arbeiten immer in erster Linie betont wird. Während meines Besuches wurde gerade für den König Leopold von Belgien ein Kiosk mit wertvollen Reliefs aus der Geschichte Chinas angefertigt, in deren Mitte wir die großen Religionsstifter Confucius, Laotse und Mentse erblickten.

Was in dieser Anstalt für die Knaben geschieht, wird den elternlosen Mädchen in dem Nonnenkloster zu teil, wo sie eine Ausbildung für häusliche Arbeiten erhalten, um auf diese Weise den Anforderungen des Lebens gewachsen zu sein. Viele von ihnen haben sich hierbei zu gewandten Stickerinnen entwickelt, und man weiß, wie viele graziöse und farbenprächtige Arbeiten wir dem chinesischen Kunsthandwerk verdanken.

Man wird, wenn man alles genau betrachten will, was es in Sikawei zu sehen, zu fragen und zu bewundern gibt, in einem Tage kaum fertig. Wer genügend Zeit hat, sollte es auch nicht versäumen, der Sternwarte von Zofe, die etwa sechzig Kilometer von hier entfernt liegt, einen Besuch abzustatten und durch das Fernrohr, das dort aufgestellt ist, einen Blick zu den Sternen zu tun. Die Sternwarte liegt aus hügeligem Terrain inmitten freundlicher Waldungen, und auch hier spricht uns einer der Patres, die im Dienst der Wissenschaft tätig sind, namens Weckbacher, in unserer Muttersprache an.

Sikawei ist ein reizendes Idyll, das mit seinem Gottesfrieden, seinen humanen Einrichtungen zum Wohl der Jugend und seiner hochgespannten, geistigen Atmosphäre den schärfsten Gegensatz bildet zu der vorwärts stürmenden Erwerbslust, Unruhe und Lebendigkeit Schanghais.

Auch Prinz Heinrich hat es bei seinem Aufenthalt in China nicht unterlassen, dem Observatorium in Sikawei mehrfach einen Besuch abzustatten.

Noch lange gedenkt man der frommen Brüder, die dort im Buch des Himmels zu lesen versuchen, um den Männern, die draußen auf dem Ozean mit Wind und Wellen kämpfen müssen, ihre Warnungen zukommen zu lassen.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Auf der sibirischen Bahn nach China