Von chinesischer Schauspielkunst und Literatur

Wer über dreißig Jahre lang allen modernen Bühnenerscheinungen mit Aufmerksamkeit gefolgt ist, über ein Vierteljahrhundert in einem Mittelpunkt des Theaterlebens wie Berlin das kritische Richtschwert geschwungen und daneben in allen größeren Städten Europas dramatische Eindrücke gesammelt hat, *) konnte unmöglich der Versuchung widerstehen, sich auch in China die Bretter anzusehen, welche die Welt bedeuten.

*) Vergl. Des Verfassers „Zur modernen Dramaturgie. Studien und Kritiken.“ Drei Bände. Oldenburg und Leipzig 1898-1903


Japanische Schauspieler waren mir seit der letzten Pariser Weltausstellung und dem Auftreten von Frau Sada Yacco in Berlin nicht unbekannt. Wenn diese Künstlerin auch ohne triftigen Grund als ostasiatische Dufe gefeiert wurde, so hatte die Beobachtung ihrer Spielweise doch insofern manches Interessante, als sich darin nationale Empfindungen, Sitten und Geschmacksrichtungen ausdrückten. Nun sollten die Söhne aus dem Reich der Mitte an die Reihe kommen und zeigen, ob sie der Aufgabe jener echten Schauspielkunst gewachsen seien, der Natur, wie Shakespeare seinen Hamlet sagen lässt, den Spiegel, der Tugend ihre eigenen Züge und der Schmach ihr eigenes Bild zu zeigen. Das eine Mal war ich in Dalny, das andere Mal in Schanghai Zeuge einer solchen Aufführung. Ich will es versuchen, die Eindrücke, die ich an diesen beiden Abenden empfangen habe, wiederzugeben.

Wir hatten im Jachtklub in Dalny lange genug geplaudert, als wir beschlossen, dem dortigen chinesischen Theater einen Besuch abzustatten. Es war bereits zehn Uhr abends, aber immer noch zeitig genug, da die Aufführungen sich meist bis nach Mitternacht hinziehen. Ein paar Freunde machten ebenfalls ihre Rechnung und waren gern bereit, uns dorthin zu begleiten, denn das Lustspiel „Der Bär“ von Tschechow, das an diesem Abend im russischen Theater, gegeben wurde, kannten sie bereits. ,
Wir schwingen uns in ein Wägelchen, und fort geht es durch die sauberen, elektrisch beleuchteten Straßen von Dalny über die hölzerne Brücke, unter welcher die Lokomotiven des sibirischen Zuges beim Rangieren der Wagen keuchen, in die alte Niederlassung der Zopfträger. Uns zur Rechten schimmert in der Dunkelheit ein langgestrecktes weißes Gebäude, das zum Teil noch mit Gerüsten bedeckt ist. Dort soll den himmlischen Söhnen alsbald ein neuer massiver Musentempel errichtet werden, der mit allen modernen Einrichtungen versehen ist. Wir verfolgen aber die Hauptstraße der Chinesenstadt und biegen in eine Nebengasse ein, wo der Boden lehmartig aufgeweicht ist und die Räder des Wagens im Schmutz stecken bleiben. Zum Glück erfahren wir, dass das Theater, von dem wir angelockt werden, sich nur wenige Schritte davon befinde. Aber wo? Die Buden reihen sich gleichmäßig aneinander, und nichts deutet darauf hin, dass hier irgendwo eine Bühne aufgeschlagen sei.

Endlich werden wir auf einen ganz schmalen Seitenweg hingewiesen, den wir nur mit Zögern betreten, da wir jeden Augenblick in einen Tümpel hineinzufallen fürchten. Dem Laden eines Verkäufers gegenüber, der uns durchaus ein Päckchen schlechter Zigaretten aufschwatzen will, erblicken wir ein Gebäude in schmutzig roter Farbe und einen Eingang, wo eine Anzahl Chinesen herumlungern und uns neugierig betrachten. An den Wänden sind mehrere feuerrote Zettel angeklebt, die etwa die Länge unserer Zirkusplakate haben. In der Mitte des Zettels laufen von oben nach unten goldene Buchstaben, während sich am Rande des Zettels schwarze Schriftzüge hinziehen. Jene heben die Namen der Hauptdarsteller hervor, diese geben den Namen des Stücks und seines Verfassers an.

Theaterbillets werden nicht ausgegeben. Wir legen je einen Rubel auf einen Tisch und erhalten dadurch das Recht auf die besten Plätze im Hause. Sie befinden sich auf der mittleren Galerie, von wo wir nicht nur die Bühne, sondern auch den Zuschauerraum in allen Teilen bequem übersehen können. Man sitzt dort unten nicht wie bei uns in langen Reihen hintereinander, sondern zu vier oder fünf an viereckigen, braun polierten Tischen, auf denen sich für die Teetrinker kleine Tassen befinden. Die Boys kommen mit Kannen heißen Wassers herbei und brühen den Tee vor den Augen der Zuschauer auf. Auch allerlei Backwaren und Süßigkeiten stehen auf den Tischen, an denen das Publikum mit unerschütterlich feierlicher Miene Platz genommen hat. Das Haus ist auf den besseren Plätzen nur schwach besucht, und die einzelnen Gruppen machen einen wunderlichen Eindruck. Man hat, wenn man die Rücken dieser von oben bis unten weißgekleideten Männer sieht, über welche der lange, pechschwarze, dünne Zopf fast bis auf die Erde herabbaumelt, das Gefühl, sich in einer Gesellschaft riesiger Ratten zu befinden, die sich plötzlich aufgerichtet haben.

Von der köstlichen Naivität, mit welcher in diesen Räumen die Kunst ausgeübt wird, erhielten wir beim ersten Blick eine ungemein charakteristische Vorstellung. Durch den ganzen Zuschauerraum waren nämlich ein paar kräftige Stricke gezogen, auf denen allerlei Wäschestücke in jeglicher Gestalt bis zum Unaussprechlichen zum Trocknen aufgehängt waren. Wurden die Türen während der Vorstellung geöffnet, so brächte die eindringende Zugluft die feuchten und nichts weniger als appetitlichen Lappen in eine schwankende Bewegung. Niemand schien an dieser Bereinigung von Bühne und Trockenboden auch nur den geringsten Anstoß zu nehmen. Während das Publikum, das sich in der Nähe der Bühne aufhielt, mit einer gewissen Sorgfalt gekleidet war, zeigte sich auf den Stehplätzen das gewöhnliche Volk unter unserer Galerie in sehr naturwüchsiger Bekleidung, indem die Leute nur ein Stück Sackleinwand um die Hüften geschlungen hatten, im Übrigen aber so, wie sie Gott geschaffen hatte, erschienen waren. Sie blieben übrigens die einzigen, die eine wirkliche Teilnahme an den Vorgängen auf der Bühne verrieten, denn auf ihren Gesichtern drückte sich eine gewisse Spannung im Erstaunen oder Grinsen aus. Die übrigen saßen stumm und unbeweglich wie die Figuren eines Wachsfigurenkabinetts da.
An den Wänden sind große Anschläge mit Angaben über die Preise der Plätze angebracht. Der Qualm der Zigarren und Tabakspfeifen steigt überall aus und vermischt sich mit dem Duft des heißen Tees und der trocknenden Wäsche zu einem Parfüm, das einen äußerst charakteristischen Geruch erzeugt, sich aber mit Worten kaum wiedergeben lässt. Vor der Galerie, auf der wir sitzen, zieht sich noch ein schmaler Gang hin für die bedienenden Boys, die uns auf diese Weise jedes Mal, wenn sie an uns vorbeikommen, für einige Augenblicke die Bühne verdecken. Sie bringen uns japanisches Bier und Zigaretten. Neben uns erblicken wir zwei chinesische Großkaufleute, die sich auf ihre mit Elfenbein verzierten Spazierstöcke stützen, keine Miene im Gesicht verziehen und auch kein Wort miteinander reden, sondern nur unablässig aus die Bühne starren. Ab und zu kommt ein Boy mit einer Schale kochenden Wassers und einem Schweißtuch, das sie eintauchen und sich damit Stirn, Wangen und Hände abwischen.

Das Stück, das wir sahen, behandelte eine Gerichtsverhandlung und hatte insofern auch für den Fremden besonderes Interesse, als es ein treues Bild nationaler Sitten gab. Vor allem spielte darin der vielbesprochene Kotau eine große Rolle. Schon bei Cornelius Nepos findet sich an einer Stelle, wo von dem athenischen Gesandten Konon und dessen Gesuch um eine Audienz bei Artaxerxes Mnemon die Rede ist, die Forderung des „proskynein“ erwähnt. Sie entspricht genau dem asiatischen Gebrauch, vor der Obrigkeit niederzuknien und dreimal mit dem Kopf auf die Erde zu schlagen. Die Griechen sowie alle Völker des Abendlandes erklärten sich mit Entschiedenheit gegen diese Sitte, in deren Befolgung sie etwas Menschenunwürdiges sahen. Von Alexander dem Großen wurde dies Zeremoniell am persischen Hofe jedoch eingesetzt und die Proskynese gerade im Hinblick auf die besiegten, asiatischen Völker verlangt, weil sich darin das Zugeständnis der unbedingten Unterwerfung ausdrückte. Das Verhältnis von Mensch zu Menschen verwandelte sich dabei in die Erniedrigung des einen zu einem Sklaven und in die Erhöhung des anderen zu einem Gott.

Aus nicht ganz aufgeklärte Weise verpflanzte sich der Kotau nach China, wo der Hof bis zur Mitte des vergangenen Jahrhunderts an diesem Sich Niederwerfen nicht nur bei den eigenen Beamten, sondern auch bei fremden Gesandten mit großer Strenge festhielt. Erst nach 1860, als China aus seiner bisherigen Abgeschlossenheit heraustreten musste, erklärten die Vertreter der europäischen Großmächte, dass sie sich dieser Zeremonie nicht mehr unterwerfen, sondern sich auf die in Europa übliche tiefe Verbeugung beschränken würden, wobei es denn auch blieb.

Bei der Aufführung des Stückes, das auf dem chinesischen Theater in Dalny in Szene ging, wurde der Kotau jedoch mit aller Ursprünglichkeit und Umständlichkeit ausgeführt. Der Richter saß mit einem Bambusstab in der Mitte der Bühne in einem kleinen, zeltartigen Aufbau, durch den er von seiner Umgebung abgesondert wurde. Die Angeklagten wurden von links hereingeführt, machten mit dem Rücken zum Publikum den Kniefall und ließen den Kopf dreimal auf die Erde schlagen. Dann wurde die Anklage erhoben, wobei der Richter vielfach nickend oder kopfschüttelnd zuhörte. Hieraus erfolgte die Verteidigung des Angeklagten unter Anwendung allerlei entschuldigender und erklärender Gesten. Endlich fällte der Richter seinen Spruch, und die Gefangenen, denen die Freiheit wiedergegeben wurde, gingen fröhlich von dannen, während die andern wehklagend ins Gefängnis abgeführt wurden.

Dazwischen wurde ein grässliches Duett zwischen einem alten Mann mit rabenheiserem Organ und einer, jüngeren Dame ausgeführt, die mit kreischender Fistelstimme immer lauter und schneller schrie. Ihr Vortrag sollte offenbar Gesang sein, aber es ließ sich darin weder eine bestimmte Melodie noch ein Rhythmus erkennen. Die Gesichter der beiden „Künstler“ waren mit dicker, roter Schminke und breiten, schwarzen Strichen gräulich verschmiert, so dass von mimischem Ausdruck in unserem Sinne gar keine Rede sein konnte. Die Bewegungen erschienen zum Teil nichtssagend, zum Teil roh. In einem besonders leidenschaftlichen Moment gab der Alte seiner Partnerin beim Singen und Springen sogar einen sanften Fußtritt in die Hüften.

Die Sache wäre, trotzdem alles fratzenhaft verzerrt war, noch zu ertragen gewesen. Das Schlimme bei dieser Vorstellung bestand aber darin, dass sie unter unaufhörlicher Begleitung von lärmenden Musikinstrumenten zur Ausführung kam. Im Hintergrund der Bühne hatten sich an einem Tisch sechs oder acht Musikanten niedergelassen, die einen Gong schlugen, eine Holzharmonika mit Klöppeln bearbeiteten und auf mehreren Blas und Streichinstrumenten wie toll herumwirtschafteten. Je mehr sich die Situation spannend und leidenschaftlich zuspitzte, desto furchtbarer tobten diese Leute. Immer wilder wurde die metallene Scheibe bearbeitet, und die Holzklöppel sausten auf das Brett in einem so verrückten Accelerando hernieder, dass wir uns vor diesen spitzen, schrillen, gellenden Tönen alsbald die Ohren zuhalten mussten, weil der physische Schmerz, den sie verursachten, tatsächlich nicht zu ertragen war. Mochte man das Stück als Bild nationaler Gebräuche allenfalls noch gelten lassen, so bildeten diese schauspielerischen Leistungen jedenfalls den Tiefstand dessen, was man unter darstellender Kunst versteht.

Vergeblich wartete ich auf die Aufführung eines berühmten chinesischen Dramas, in dem ebenfalls eine Gerichtsverhandlung vorkommt: „Der Kreidezirkel“, worin sich zwei Frauen um den Besitz eines Kindes streiten. Der Richter befiehlt, dass zur Entscheidung dieser Frage auf dem Fußboden mit Kreide ein Kreis gezogen werde, und meint, dass nur die richtige Mutter ihr Kind daraus werde emporheben können. Nun reißt die falsche es mit roher Gewalt an sich, während die rechte daran erkannt wird, dass sie ruhig bleibt und nur die zarten Glieder des Kindes schildert, die eine so lieblose Behandlung nicht vertragen.

Eine Stufe höher stand das chinesische Theater, das ich in Schanghai besuchte. Es befand sich in einer Querstraße von Futschau Road, wo sich alles zusammendrängt, was abends Unterhaltung und Zerstreuung sucht. Wir hatten uns im Gewühl dieser Straße, beim Betrachten der Kaufläden, beim Besuch der Cafés mit ihren Singsong Girls und Opiumrauchern ein wenig ermüdet und machten bei einem Bekannten unseres chinesischen Führers Station, um die Eindrücke des Abends auszutauschen. Der freundliche alte Herr, der uns eben sosehr gefiel, wie wir ihm willkommen zu sein schienen, drückte uns beim Abschied einen hübschen, bemalten Fächer in die Hand, damit wir uns an dem schwülen Augustabend in dem geschlossenen Raum des Theaters Kühlung zufächeln konnten.

Dann rollte unser Zug von Rikschas um die nächste Ecke, und nach etwa fünf Minuten waren wir an unserm Ziel angelangt. War die Temperatur des Abends schon auf der Straße erdrückend, so schlug uns beim Betreten des Zuschauerraums geradezu die Luft eines Backofens entgegen. Hier bekamen wir für unser Geld auch richtige Eintrittskarten zur Vorstellung, schmale feuerrote Zettel, in deren Mitte schwarze Buchstaben hineingemalt waren. Wir hatten schon am Vormittag gehört, dass die Vorstellung, die jetzt auf dem Spielplan stand, sich großen Zuspruchs zu erfreuen habe, und uns rechtzeitig Plätze gesichert. Wie erstaunt waren wir aber, in dem riesigen Raum, den wir betraten, soweit wir es erkennen konnten, auch nicht ein Plätzchen unbesetzt zu finden. Es mochten ungefähr achtzehnhundert bis zweitausend Personen anwesend sein, die in drangvoll fürchterlicher Enge eingepfercht nebeneinander saßen. Nirgends war außer uns ein europäisches Gesicht zu entdecken, und wir glaubten schon wieder umkehren zu müssen, als unser Führer sich unter seinen Landsleuten eine schmale Gasse bahnte, in welcher wir uns seitlich mit vieler Mühe vorwärts schoben, bis wir in die Nähe der Bühne kamen.

Dort war ein kleiner Tisch für uns bestellt und in ähnlicher Weise wie in Dalny mit Erfrischungen und Näschereien besetzt. Vor uns zogen sich drei Sitzreihen hin, und man erkannte es aus den ersten Blick, dass sich auf ihnen ein vornehmes Publikum eingefunden hatte. Die Männer zeigten eine nicht ungewöhnliche Intelligenz in ihrem Gesichtsausdruck. Sie beobachteten scharf und tauschten ab und zu mit überlegen lächelnder Miene eine Bemerkung aus. Ihre weiße Kleidung war von vollendeter Sauberkeit, und ihre Manieren verrieten in jedem Augenblick die gute Erziehung. Sie beachteten uns wenig, aber wenn sie es taten, ohne Voreingenommenheit gegen uns als Fremde und Europäer, geschweige denn mit Abneigung.

Titel und Inhalt lasse ich mir von unserem Führer angeben. Das Drama heißt eine „Traurige Geschichte“ und seine Handlung geht im Jahre 1062 nach Christi Geburt unter der Sung Dynastie und der Herrschaft des Kaisers Chen Tsung vor sich, als in der Mandschurei ein großer Aufstand ausgebrochen war. Zu seiner Unterdrückung hatte der Kaiser von China eine Menge Soldaten ausgeschickt, und unter diesen befindet sich auch ein guter und tapferer Mann namens Wang-Wen-Lung. Leider ist er aber so arm, dass er kaum Brot für sich schaffen kann. Sein Vater, seine Frau und seine Kinder sind in die größte Not geraten.

Als er nun in den Krieg zieht, bricht gerade in seiner Vaterstadt eine Hungersnot aus, und die Seinigen müssen, um nicht völlig unterzugehen, nach einer anderen Stadt übersiedeln. Dort geht es aber dem alten Vater des Soldaten so erbärmlich, dass er sich vor Hunger kaum noch auf den Füßen halten kann und nicht weiß, wo er sein Haupt niederlegen soll. Er hat seine Schwiegertochter ausgeschickt, ihm irgendwo ein Quartier für die Nacht zu suchen. Ein solches findet sie endlich in einer kleinen Wirtschaft, aber der alte Mann kommt dort so entkräftet an, dass er plötzlich umfällt und tot liegen bleibt.

Seine Schwiegertochter besitzt nicht die Mittel, die Leiche zu beerdigen, und beschließt daher, sie zu verbrennen. Die Asche schüttet sie in einen Krug und erwartet die Rückkehr ihres Mannes. Dieser hatte sich bei der Bekämpfung der Rebellen in der Mandschurei durch seine Tapferkeit so sehr ausgezeichnet, dass er zum Rang eines Leutnants befördert wurde. In der Hoffnung, nunmehr für seine Familie sorgen zu können, kehrt er nach Beendigung des Krieges in seine Vaterstadt zurück und erfährt dort, dass mittlerweile sein Vater gestorben sei.

Diese rührsame Geschichte war mit verschiedenen humoristischen Episoden durchsetzt, die zur Erheiterung des Publikums das ihrige beitrugen. In Schanghai waren die Zuschauer ganz anders bei der Sache als in Dalny. Sie weinten bei sentimentalen Stellen und lachten bei den komischen. Die Armseligkeit der Verwicklung in dieser „Traurigen Geschichte“ schien indessen niemandem zum Bewusstsein zu kommen oder langweilig zu wirken. Alles, was sich um das Wohl und Wehe der Familie dreht, sich auf das Verhältnis der Eltern zu ihren Kindern bezieht, findet, wenn nur irgendwelche Gefühlssaiten angeschlagen werden, in China überall ein unmittelbares und starkes Echo. Dort ist der ganze Staat nur eine einzige Familie, und die Grundlagen, auf denen sie aufgebaut ist, bilden zugleich die Stützen des gesamten öffentlichen Lebens.

So dürftig diese beiden Aufführungen in Dalny und Schanghai an künstlerischem Gehalt auch waren, zeichneten sie sich doch durch den Glanz der Kostüme in hervorragender Weise aus. Die Hauptdarsteller trugen die prachtvollsten seidenen Gewänder, die man sich denken kann. Die Schöpfer der in gold, silber und anderen Farben ausgeführten Stickereien schwelgten förmlich in allen nur möglichen Figuren, die dem Naturleben, der Tier und Pflanzenwelt, allem, was durch die Luft fliegt und auf der Erde kriecht, entnommen war. Aber auch die Schauspieler, die nur zweite Rollen innehatten, trugen einen ebenso großen Glanz der Kostümierung zur Schau, und sogar die Musikanten blieben hinter ihnen nicht zurück. Der Abschluss der Bühne wurde durch einen langen Vorhang gebildet, der in ähnlicher Weise mit Stickereien auf seidenem Grunde geschmückt war und bei den verschiedenen Auftritten rechts und links zurückgeschlagen wurde. Wenn dieser Vorhang sich bewegte und die schweren seidenen Gewänder rauschten, ertönte wiederholt aus dem Zuschauerraum der Ruf „Hao! Hao!“ (Gut! gut!), und man musste sich manchmal fragen, ob bei dem Entwurf und der Ausführung dieser Stücke die Phantasie des Theaterschneiders nicht ebenso großen Anteil habe wie die des Dichters.

Aber selbstverständlich darf man nach einem so flüchtigen Besuch kein Urteil über die dramatische Kunst der Chinesen im allgemeinen fällen. Seitdem mit der „Waise aus dem Hause Tschao“ in Europa das erste chinesische Drama bekannt wurde, nach dem Voltaire sein Trauerspiel „L‘ orphelin de la Chine“ schrieb, ist eine größere Anzahl von Stücken aus dem Reich der Mitte durch Übersetzungen und ausführliche Inhaltsangaben zu unserer Kenntnis gelangt.

Wir wissen seitdem, dass auf der chinesischen Bühne dieselben Gattungen des Dramas gepflegt werden wie bei uns, von den Historien, welche die Großen des Reichs mit allem Pomp und Pathos aufmarschieren lassen, durch die verschiedenen Abstufungen des Zauberdramas bis zum modernen Charakter und Intrigenlustspiel, für das die Chinesen eine besondere Begabung besitzen, und dass es auch in dieser Beziehung nichts Neues unter der Sonne gibt.

Merkwürdig, dass wir erst jetzt zu einem vollständigen Überblick über die chinesische Literatur gelangt sind, nachdem schon jahrelang so viele berufene und unberufene Federn mit dem Studium der kriegerischen und politischen Vorgänge des Landes beschäftigt waren! Professor Wilhelm Grube in Berlin hat mit seiner „Geschichte der chinesischen Literatur“, die mich auf meiner Reise nach dem Osten begleitete, ein sehr verdienstliches Werk geschaffen und unseren geistigen Horizont nach dieser Richtung wesentlich erweitert.
Chinas Literatur setzt sich ein halbes Jahrtausend vor Christi Geburt bis auf die Gegenwart ununterbrochen fort. Vom Eindringen des Buddhismus abgesehen, hat sie sich mit einer Selbständigkeit wie kaum eine zweite entwickelt. Die Chinesen sind geborene Büchermenschen, und die Zahl der dort vorhandenen Werke geht in das völlig Unberechenbare. Die poetischen Erzeugnisse des Landes umfassen alle Gattungen der Dichtkunst und lassen sich nur mit der Mannigfaltigkeit der Formen vergleichen, die sich in der Malerei und dem Kunstgewerbe herausgebildet haben. Auch in ihrer Literatur gibt es niedliche Elfenbeinschnitzereien und Porzellanfiguren neben fratzenhaften Darstellungen von Göttern und Geistern. Die einseitige Betonung des Familienlebens und die Anwendung seiner Grundsätze aus staatliche Einrichtungen, das Borwiegen des Beamtentums, der Sinn für das Nächstliegende und Erreichbare, für Stellung und Erfolg, das sklavische Hängen am Vergangenen und der Ahnenkultus zeigen sich in der Literatur des Reichs wie in einem treuen Spiegelbilde.

China erscheint uns, namentlich in der Beleuchtung durch die jüngsten Vorgänge, wie ein Koloss, dessen Regungen wir mit scharfem Misstrauen beobachten, und der uns mit unheimlich lauernden Augen anblickt. Das Studium der Literatur, wie sie sich in der Geschichte dieses Volkes entwickelt hat, gewährt aber neben vielen fremdartigen Zügen auch manchen freundlich ansprechenden Eindruck und beweist, dass zwischen den Völkern, mögen sie durch Rasse, Raum und Kultur noch so sehr voneinander getrennt sein, doch stets eine Fülle von Bindegliedern rein menschlicher Empfindungen vorhanden ist.

Schon im siebenten Jahrhundert unserer Zeitrechnung begegnen wir einem Dichter, der mit seinem Ruhm alle seine Zeitgenossen verdunkelte und auch in der Gegenwart von seiner Bedeutung nichts eingebüßt hat. Li Tai-poh gehörte zu den originellen Erscheinungen, deren Züge sich dem Bewusstsein der Menge unverlöschlich einprägen, und vereinigte künstlerische Gaben mit Gepflogenheiten, die mit bürgerlichen Sitten in argem Widerspruch standen. Den Philistern, die sich an die hergebrachte Ordnung hielten, war er ein Dorn im Auge, aber selbst die Großen im Reich sehnten sich nach seiner Gesellschaft. Er kam an den Hof des Kaisers Ming-Hoang und wurde dessen Günstling und Freund. Der Monarch überschüttete ihn mit Beweisen seiner Gnade, und es wird sogar erzählt, dass er ihm einmal selbst das Mahl aufgetragen habe.

Li Tai-poh führte einen lockern Lebenswandel und war nicht nur dichterischer Begeisterung, sondern oft auch des süßen Weines dermaßen voll, dass er auf vielen Bildern, die sich von ihm erhalten haben, im Zustande seliger Trunkenheit dargestellt wird. Seine Stellung bei Hof stieg ihm allmählich derartig zu Kopf, dass er sich zu den tollsten Unbesonnenheiten hinreißen ließ. Eines Tages stellte er, wie Grube in seinem Werk erzählt, in Gegenwart des Kaisers an einen der einflussreichsten Palasteunuchen das Ansinnen, ihm die Stiefel auszuziehen. Der Eunuch führte diese Dienstleistung zwar aus, entwickelte sich aber gegen den Poeten zu einem gefährlichen Intriganten, indem er der Geliebten des Kaisers einredete, dass jener sie in einem seiner Gedichte verspottet habe.

Die Folge davon war, dass Li Tai-poh den Palast verlassen musste, worauf er ein unstetes Wanderleben begann und sogar in eine Verschwörung verwickelt wurde, die ihn leicht hätte den Kopf kosten können. Man sagt, dass er ertrank, als er sich in einem Boot befand und in angeheitertem Zustande nach dem Spiegelbild des Mondes im Wasser greisen wollte.

Unter seinen Gedichten finden sich wirkliche Perlen lyrischer Empfindung und Formschönheit, die nicht selten einen Goetheschen Zug verraten und uns in die Welt des „Westöstlichen Divans“ versetzen.

Er preist den Wein als Sorgenbrecher, in dem etwas Heiliges enthalten sei, und der die Seele klar- und freimache. Die Erinnerung an die Vergänglichkeit aller Dinge macht es ihm zum höchsten Evangelium, die Süßigkeit des Augenblicks zu genießen. Ebenso reizend wie originell ist ein anderes Trinklied, in dem er aus anmutige Weise schildert, wie er mit einer Kanne Wein in einem Blütenhain sitzt und vergeblich einen Zechkumpan herbeisehnt. Aber die Gesellschaft findet sich trotzdem, denn er ladet sich den Mond ein, und da mit ihm auch sein Schatten hervorkommt, sind auf einmal drei lustige Gesellen beisammen. Während der Dichter fingt, scheint sich der Mond hin und her zu wiegen, wenn er sich auch nur wenig aufs Trinken versteht.
Umso eifriger ist aber sein Schatten dabei, der ihm alles nachmacht und ebenfalls hüpft, wenn er zu tanzen anfängt. „Wir halten zusammen fröhliche Zech'“ klingt das Gedicht reizend aus, „so lang wir noch nüchtern sind. Doch geht ein jeder den eigenen Weg, sobald erst sein Rausch beginnt. Wir können nicht immer beisammen sein, möcht' wandern nicht früh noch spät. Drum sei unser nächstes Stelldichein, wenn der Mond der Milchstraße naht.“

So harmlos fröhlich dies Gedicht ist, so rührend und ergreifend kommt uns ein Klagelied eines modernen chinesischen Dichters Jüan Tszetsai vor, der im Besitz hoher Ämter und Würden am Ende des achtzehnten Jahrhunderts starb. In Nanking besaß er ein kleines Gartenhaus, wo er gleichgesinnte Freunde und Freundinnen zu einer Art freier Akademie um sich versammelte. Unter anderem schrieb er auf den Tod seiner dritten Tochter eine Elegie, die uns das Zarte und Innige des chinesischen Familienlebens offenbart. Liest man diese Strophen auch nur in der Übersetzung, so fühlt man, dass die Söhne des himmlischen Reichs innerhalb ihrer vier Wände eine Unendlichkeit holder Empfindungen im Verkehr zwischen Eltern und Kindern kennen, wie sie inniger und echter im Abendlande nicht zu finden sind. Freilich handelt es sich dabei um das Gebiet der Häuslichkeit, zu dem Fremde nur in den seltensten Fällen Zutritt erlangen und selbst dann die Dinge nicht in ihrer vollen Unmittelbarkeit beobachten können.

Der Dichter gibt unter Tränen eine umständliche Beschreibung seiner Tochter, ihrer Charaktereigenschaften und ihres Aussehens, dessen, was sie gelernt und womit sie gespielt hat, ihrer Wünsche, Neigungen und Schwächen, so dass aus diesen Erinnerungen ein erschöpfendes Bild der Verstorbenen vor unseren Blicken lebendig wird. Ein solcher Ton ungekünstelter Empfindung gehört allerdings zu den Ausnahmen in der chinesischen Poesie, denn oft wird die Stimmung, mag sie anfänglich noch so fein angeschlagen sein, durch triviale Vergleiche verdorben. Man darf aber nicht vergessen, dass die Chinesen in vielen Dingen anders wie wir empfinden und das Hervorheben der Beamtenlaufbahn als des höchsten Glücks auf Erden für sie durchaus nichts Ernüchterndes oder Pedantisches hat.

Oft ist die Ähnlichkeit zwischen westeuropäischer und ostasiatischer Poesie eine so überraschende, dass man glauben könnte, es handle sich um eine direkte Entlehnung bestimmter Bilder und Gefühlsäußerungen.

In einem seiner Sprüche sagt Konfuzius: „Der rechte Herrscher gleicht dem Polarstern, er steht fest und alle Gestirne umkreisen ihn.“ Wem fällt dabei nicht das ähnliche Bild ein, dass Shakespeare seinen Julius Caesar von sich und seinem Herrscherwillen gebrauchen lässt, während die Bittsteller vor seiner Ermordung aus dem Kapitol sich an ihn herandrängen? Aus der mystischen Schule des Laot-se, dessen moralisches Traktat Tao-teh-king in China bereits der Vergessenheit anheimgefallen ist, während es in Europa geradezu das populärste Buch aus der chinesischen Literatur wurde, ist ein anderer ebenso tiefsinniger Denker und glänzender Schriftsteller Chuang-tsze hervorgegangen.

An einer Stelle seines Hauptwerks wird von der Tochter eines Grenzwächters gesprochen, die unter Tränen die Frau eines Fürsten wurde, aber fröhlich nach der Hochzeit erwachte und nachträglich bereute, geweint zu haben. „Wie soll ich nun wissen,“ meinte sie, „ob nicht auch die Toten bereuen, dass sie einst das Leben erstrebt? Die von Essen und Trinken träumten, mögen am Morgen weinen und schluchzen, und die von Weinen und Schluchzen träumten, mögen am Morgen sich an der Jagd vergnügen. Während sie träumen, wissen sie nicht, dass sie träumen — ja sie mögen sogar im Traume einen Traum auslegen; wenn sie jedoch erwacht sind, wird ihnen bewusst, dass sie geträumt haben.“

Man braucht kaum daran zu erinnern, dass der berühmte Monolog Sigismunds im „Leben ein Traum“ von Calderon diesen Gedanken fast wörtlich wiederholt: „Was ist des Lebens hohler Schaum! Ein Gedicht, ein Schatten kaum! Wenig kann das Glück uns geben, denn ein Traum ist alles Leben — und die Träume selbst ein Traum!“

Professor Grube betont dann noch eine andere, ebenso überraschende Analogie zwischen Shakespeares „Hamlet“ in der Totengräberszene und dem erwähnten Mystiker Chuang-tsze, während er mit einem Totenschädel in ebenso grausig humoristischer Weise ein Zwiegespräch hält. Der Philosoph berührt den Schädel mit seiner Reitgerte und fragt ihn nach feinem Schicksal, ob der Verstorbene als Verderber des Reichs hingerichtet worden sei oder durch Übeln Wandel Schimpf und Schande über seine Familie gebracht habe. Der Philosoph benutzt den Schädel als Rückenstütze, während er einschläft, aber im Traum fängt jener zu sprechen an, und nun setzt sich die Unterhaltung über Tod und Leben, über die Freuden und Plagen des menschlichen Daseins, über den Wunsch, wiederzukehren oder der Vergessenheit anzugehören, noch eine Weile fort.

Man kann dergleichen Spuren von Ähnlichkeit soweit und genau verfolgen, dass sie bis zur deutschen Volks und Minnepoesie sowie zu den Tageliedern der Troubadoure hinüberführen. In den Liedern des „Shiking“, die das ganze Gebiet der Lyrik vom schlichten Naturlaut der Empfindung bis zu politischen Oden und Satiren umfassen, findet sich im Chinesischen eins, das uns wie ein holder Gruß aus dem deutschen Mittelalter, wie eine Blume süß begehrender Romantik erscheint. Das Gedicht heißt „Der Jäger“ und schildert genau denselben Hergang, dem Walter von der Vogelweide mit den Versen: „Under der linden“ einen so reizend sinnfälligen Ausdruck verliehen hat. Auch in China spielt sich die Liebesseligkeit im Wald und auf dem Riedgras ab zwischen einem Mägdelein, das Lenzesfreuden genießt, und einem schönen Jüngling. Nur die Rolle des Vögleins, „daz mac wol getriuwe sin,“ ist auf den kleinen treuen Wächter und Begleiter übergegangen, und das Mädchen flüstert nach der Übersetzung von Viktor von Strauß: „Gelassen! Und nur sachte, o! Nicht an mein Tuch zu rühren trachte, o! Und mache ja nicht, dass mein Hündlein belle.“

In derselben Sammlung finden wir die Beschreibung eines verfehlten Stelldicheins, von dem Grube meint, dass es durch die Zartheit der Empfindung nicht weniger als durch die poetische Anmut des Ausdrucks fast an Goethesche Lyrik gemahne. Die „kleinen Festlieder“ versetzen uns in das gesellige Leben, die Sitten und Gebräuche jener Zeit, aus welcher die altchinesische Literatur hervorgegangen ist. Da wird ein fröhliches Zechgelage geschildert, das mit einem Wettschießen beginnt. Die Bogenschützen treten paarweise auf, und wer verloren hat, muss einen Becher Wein pro poena trinken. Die Getränke erzeugen in den Zechern eine Ausgelassenheit, die immer höher steigt. Endlich muss ein ordentlicher Trinkkomment beobachtet werden, damit das Gelage nicht in Zügellosigkeit umschlage.

Eine chinesische Prinzessin, die widerwillig einem Kaiser als Gattin folgen musste, beklagt ihr hartes Los in einem Gedicht, dessen letzte Strophe sich nach Wort und Sinn an unser „Wenn ich ein Vöglein wär'“ anzulehnen scheint.

Dergleichen Ähnlichkeiten ergeben sich aus der glücklichen Anordnung und Durcharbeitung des Stoffs, wie er in dieser „Geschichte der chinesischen Literatur“ erreicht ist, ganz von selbst und wiederholen sich zum Teil auch bei der Behandlung der epischen und dramatischen Literatur. Die Novellen und Romane führen uns in das Wesen des Volkscharakters ein, auch wenn die Erfindung dürftig ist und nur das Interesse am Stofflichen überwiegt. Bekannt sind die Beschreibungen des jungen Herrn beim Examen, des Punschgelages, der Besuche und Gespräche beim Tee in der Geschichte „Die beiden Cousinen“, die A. Rémusat übersetzte. Daneben finden wir ein spannendes Durcheinander in ähnlichen Erzählungen und in historischen Romanen, bei denen ein Kern geschichtlicher Wahrheit in wilder Romantik und Phantasterei aufgelöst wird.

Eine epische Poesie im großen Stil haben die Chinesen dagegen ebensowenig wie die Franzosen, und nicht nur aus diesem Grunde hat der geistreich barocke Geschichtsschreiber des Dramas, I. L. Klein, lange vor Björnstjerne Björnson eine Verwandtschaft zwischen beiden Böllern bei der Besprechung des chinesischen Theaters im dritten Bande seines riesigen Werkes herausfinden wollen. Klein meint, dass die Hauptfigur in der Komödie „Das vollkommene Kammermädchen“ eine richtige, moderne Soubrette sei und im Reich des Zopfes ein Talent für das feine Intrigenspiel verrate, das eine geistige Verwandtschaft mit den Franzosen unzweifelhaft mache. Man denkt dabei naturgemäß an das boshafte Wort des norwegischen Dichters von den „Chinesen Europas“, welche die Grenzen ihres nationalen Empfindens nicht zu erweitern verstehen. Aber auch hier sehen wir wieder, dass die menschlichen Tugenden und Laster sich in großen Zügen auf dem ganzen Erdkreis wiederholen.

Die Figur des Geizigen, die sich aus dem klassischen Altertum bis zu Molière hinzieht und immer weitere charakteristische Ausbildungen erfahren hat, erscheint in China noch um vieles verschärft, denn der Alte, der die Kosten für einen Sarg scheut und sich mit einem Stalltrog begnügen will, sagt seinem Sohn, er möge ihm, wenn der Trog zu kurz sei, ein Stück von seinen Beinen abschlagen, aber nicht mit dem eigenen Beil, sondern mit der Axt des Nachbarn, weil seine Knochen hart seien.

Aus der fesselnd geschriebenen Arbeit Grubes über das chinesische Schrifttum haben wir nur wenige Punkte hervorheben können und müssen im Übrigen für den tieferen Zusammenhang der einzelnen Perioden und die Charakteristik der namhaftesten Dichter auf das Werk selbst verweisen. Auch auf diesem Gebiet zeigt es sich, dass China wie bei der Erfindung des Schießpulvers und der Buchdruckerkunst zunächst den übrigen Völkern voraus war, dass aber die Entwicklung von Volk und Staat auf der einmal erreichten Kulturhöhe stehen geblieben ist. Der Prozess innerer Vertrocknung und gewaltsamer Abschließung gegen die übrige Welt wird klar beleuchtet durch die Betrachtung der neuen Zeit.

„Dass Keime nicht zum Blühen kommen — ach, das kommt vor! — Dass Blüten nicht zu Früchten werden — ach, das kommt vor!“ Mit diesem Ausspruch des Konfuzius schließt Wilhelm Grube sein Werk, in dem wir eine wertvolle Bereicherung unseres literarhistorischen Wissens erhalten haben, und das jedem, der sich mit der Eigenart Chinas und seiner Bevölkerung vertraut machen will, fortan unentbehrlich sein wird.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Auf der sibirischen Bahn nach China