Schanghai

Die Fahrstraße auf dem Yangtsekiang nach Schanghai ist verhältnismäßig schmal und wird durch lange Streifen angeschwemmten Landes über und unter dem Wasser begrenzt.

Kriegsschiffe, Passagierdampfer, Segeldschunken und Dampfbarkassen schieben sich durcheinander zu einem majestätischen Panorama, das auf einen Mittelpunkt des Verkehrs für die ganze Welt hinweist.


Uns zur Rechten, aus nordwestlicher Richtung, strömt der Yangtsekiang als breite Fläche uns entgegen. Auf ihm ziehen die Schiffe von und nach Nanking und Wutschung bis weit ins Innere des Landes.

Wir aber müssen, um nach Schanghai zu gelangen, in südlicher Richtung in einen Nebenfluss dieses Stromes, den Wusung, hineinfahren und uns dabei zur Vermeidung der Sandbänke eines Schleppdampfers bedienen.

Bis der Kapitän wegen der Bedingungen einig wird, vergehen wieder ein paar Stunden.

Wir beobachten die Kulis aus unserem Schiff beim Mittagessen, wie sie zwei Holzstäbchen von der Länge und Stärke unserer Bismarckbleistifte zwischen den Fingern der rechten Hand halten und damit aus einem irdenen Topf Klumpen Reis oder Stücke eines zerkleinerten gekochten Huhns geschickt herausholen.

Andere blicken träumerisch oder stumpfsinnig um sich, in jener für China charakteristischen Haltung, die jeden Europäer zuerst stutzig macht, indem sie mit eingeknickten Füßen frei auf dem Boden Hocken und darauf die Ellenbogen stützen. Mit Ausführung dieses Turnerkunststückes erholen sie sich, wenn sie müde sind, und erheben sich erst wieder, wenn sie sich frisch fühlen.

Andere spielen Stein, Papier und Schere, ganz wie unsere Schulknaben, wobei der Gewinner dem Verlierer ein paarmal lächelnd triumphierend kurze Schläge auf die innere Handfläche versetzt.

Der kleine Dampfer, den der Kapitän besorgt hat, und der sich uns ans Steuerbord legt, erweist sich als untauglich und wird mit einem anderen vertauscht, der uns vorsichtig gegen die Strömung des Wusung vorwärts bringt.

Es wird acht Uhr abends, bis wir vor Anker gehen, und die Dämmerung bricht so schnell herein, dass wir nur beim Schein der elektrischen Lampen etwas sehen können.

Ein anderer Dampfer, der für den Verkehr in der Stadt bestimmt ist, nimmt uns auf und bringt uns im Stockfinstern stromaufwärts an schwach erleuchteten Kais vorbei, wo unzählige Schiffe vor gewaltigen Speichern lagern.

An der Haltestelle springen wir ans Land, sehen, dass unsere Koffer beisammen sind, setzen uns in die von Kulis gezogenen Wägelchen und suchen in dem prächtig gelegenen und eingerichteten, hell beleuchteten Hotel Astor unser Logis auf. Es ist mittlerweile so spät geworden, dass man nichts Besseres tun kann, als auf seinem Zimmer zu bleiben.

Der Kuli richtet, ohne dass wir erst einen Wunsch äußern, in dem daneben befindlichen Toilettenraum das Bad an, in dem man sich aber nicht ausstrecken, sondern nur mit zusammengezogenen Knien als Halbchinese sitzen kann.

In dem eleganten, sauberen, mit allem großstädtischen Komfort eingerichteten Zimmer lockt das breite englische Bett, über dem an einem Drehgestell ein faltenreicher Musselinschleier zum Schutz gegen die Moskitos herab wallt. Alles wäre wunderschön ohne die tropische Hitze, die freilich im August nicht wundernehmen kann, da Schanghai ungefähr auf demselben Breitegrade wie Kairo liegt. Des Morgens hatten wir auf dem Schiff fünfundzwanzig, mittags sogar achtundzwanzig Grad Wärme Reaumur, und abends um elf Uhr sind es immer noch vierundzwanzig. Das Nachthemd wird als eine unerträgliche Last empfunden, denn alle fünf Minuten bekommt der Körper von innen einen Ruck, der den Schweiß aus allen Poren heraustreibt.
Ich war vom Endpunkt der sibirischen Bahn über Tschisu nach Schanghai gefahren, wie man sich in Berlin zu einem Ausflug nach Potsdam entschließt, ohne Vorbereitungen und Empfehlungen, nur in der Erwartung, dass auch dort Menschen leben müssen, in deren Gesellschaft man sich zurechtfinden kann.
Zwischen Traum und Wachen klingen durch das offene Fenster aus einem Garten jenseits des Flusses die kraftvollen Klänge des Rienzimarsches an mein Ohr und erfüllen den müden Gast mit der Hoffnung, die sich so oft in weiter Ferne erfüllt hat, freundlich gesinnten und einflussreichen Landsleuten zu begegnen.

Vom Astorhotel führt eine lange Brücke zur Stadt, und schon beim ersten Schritt genießt man einen Auszug von dem in seiner Art einzig zusammengesetzten Leben und der großartigen Lage Schanghais.

Wir sind an einem Hauptpunkt Asiens, der, durch die kaukasische Rasse zu modernem Leben erweckt, dem internationalen Verkehr erschlossen und geschäftlich gewissermaßen elektrisiert worden ist.

Das reine Chinesentum bildet die Bouillon, auf der Engländer und Deutsche, Franzosen und Amerikaner mit ihren weit ausgreifenden Unternehmungen und verfeinerten Lebensgewohnheiten wie Fettkügelchen schwimmen.

Am Zugang zur Brücke steht ein herkulisch gebauter indischer Polizeibeamter, von dessen brauner Hautfarbe sich die gelbe Khakiuniform, die er trägt, und der feuerrote, hochgedrehte Turban, den er sich auf den Kopf gesetzt hat, seltsam abheben. Wie angegossen steht er auf seinem Platz inmitten des unaufhörlichen Gewoges von Menschen, Wagen und Tieren, das ihn umgibt, und lenkt den Verkehr durch bloßes Aufheben der rechten Hand.

Die ausgesuchte Eleganz einer europäischen Millionenstadt mischt sich dabei mit den Sitten und Gebräuchen, die sicherlich mehrere tausend Jahre alt sind.

Ein alter Chinese, der stolz und unzufrieden um sich blickt und dem eine mächtige Hornbrille auf der Nase sitzt, lässt sich in einer Sänfte über die Brücke tragen. Hinter ihm folgen mehrere deutsche Kaufleute in Rickshaws.

Darunter hat man kleine, zweirädrige Wagen zu verstehen, in denen immer nur eine Person Platz nehmen kann, und die von zwei Kulis in Bewegung gesetzt werden.

Der eine dieser Burschen, dem auf seine zerrissene, bunte Jacke rückwärts eine Nummer aufgedrückt ist, spannt sich in die gabelförmige Deichsel und schlägt mit seinen bloßen, braunen Füßen einen schnellen Trab an. Der andere Chinese läuft hinter dem Wagen her, drückt seine rechte Hand an die Stelle, wo sich ein zum Aufklappen eingerichtetes Dach befindet, und schiebt den Wagen in demselben Tempo vorwärts.

Bei dem Europäer, der zum ersten Mal nach China kommt, sträubt sich zunächst das Gefühl, einen Menschen als Zugtier und einen anderen als Schiebewerkzeug benutzt zu sehen. Aber diese Sitte ist so allgemein anerkannt und durchgeführt, dass der Fremde bald keine andere Wahl hat, als sie mitzumachen. Man erblickt diese Rickshaws oft zu Hunderten in einer Reihe, wenn sie an den Hauptstraßen halten oder mit den Fahrgästen darüber Hinwegrollen.

Es gibt aber noch ein anderes nationales Fuhrwerk geringeren Ranges, das nicht weniger dazu beiträgt, das Straßenbild charakteristisch auszumalen. Es besteht in einer ebenfalls von Kulis gezogenen Karre, die auf einem etwa drei Fuß hohen, massiven hölzernen Rade läuft. Über dem Rade schwebt ein bretternes Gestell, das rechts und links davon je einen schmalen Sitz aufweist.

Während der Chinese vorwärts läuft und seine Last zieht, schweben auf der Karre oft höchst seltsame und verschiedene Werte in der Balance, etwa ein gestohlener Sack Mehl mit einem Polizisten oder ein Schwein mit einer alten Chinesin.


Rickscha-Mann.

Daneben gibt es aber auch ganz moderne, elegante Equipagen, hinter deren geschlossenen Fenstern die Frau eines angesehenen Mandarinen in kostbarer Seidentoilette und glitzerndem Haarschmuck thront, um ab und zu verstohlene Blicke auf die Menschenmenge zu werfen. Aus dem Bock sitzen zwei Chinesen, die in ihren glitzernd Hellen Gewändern wie weiße Katzen Hocken, während ihre schwarzen Zöpfe lang über den Rücken hängen. Der eine lenkt die Pferde, während der andere die Aufgabe hat, bei einer scharfen Biegung oder wenn es bergauf und bergab geht, während der Fahrt herunterzuspringen, die Pferde am Zaum eine Strecke zu führen und sich dann blitzschnell wieder auf den Bock hinaufzuschwingen. Hierzu kommen die Modedamen, die sich mit ihren Equipagen und Grooms, ihren Toiletten bis auf Hut und Sonnenschirm nach der letzten Pariser und Londoner Mode richten.

In diesem Gewimmel internationalen Lebens und Treibens findet man aber auch chinesische Arbeiter und Bettler, die kaum noch einen Fetzen am Leibe haben und das Bild der äußersten Armut und Verkommenheit darstellen.

Während hier alles Glanz, Lust und Reichtum atmet, wird dort ein Trupp chinesischer Verbrecher mit zusammen gebundenen Händen transportiert. Hinter jedem von ihnen geht einer der vorher beschriebenen indischen Polizisten. Er hat den Zopf des Arrestanten sich zweimal um die Finger der erhobenen reckten Hand geschlungen und folgt ihm in dieser Haltung über die Brücke.

Zu beiden Seiten ziehen sich Wasserstraßen hin, zur Linken eine breite, gewundene, der Wusung, der Schanghai mit einem mächtigen, langgestreckten Bogen berührt und den Schauplatz des gewaltigen Schiffsverkehrs bildet, und der schmalere Sutschau, der sich unterhalb der Brücke in jenen ergießt und für das Auge des Spaziergängers mit dem Neubau des internationalen Krankenhauses schließt.

Von der Brücke zieht sich am Ufer des Wufung entlang die Hauptstraße Schanghais, der „Bund“, ein Name, der persischen Ursprungs sein soll und für den besuchtesten Verkehrs und Promenadenweg in den modernen Ansiedelungen Chinas häufig angewendet wird.

Alles, was an Intelligenz und Besitz sich in der Stadt niedergelassen hat, wohnt an dieser prächtigen Uferstraße oder in ihrer unmittelbaren Umgebung. Hier haben sich die großen Bankhäuser, welche ihre geschäftlichen Verbindungen über den ganzen Erdball spinnen, in palastähnlichen Gebäuden niedergelassen. Dazwischen erblicken wir den englischen Gerichtshof, mehrere Konsulate und das Freimaurerhaus.

In Bezug auf monumentalen Stil und heiter anmutende Durchführung der Formen werden sie sämtlich von dem Haus der Ostasiatischen Bank übertroffen, deren Front, Treppenhaus und innere Raumverteilung den Sinn für praktische Bedürfnisse mit einem sicher ausgebildeten Geschmack verbinden. Dass der Erbauer dieses Palais, Herr Becker, ein Deutscher ist, und dass dabei deutsches Material in großem Umfange verwendet wurde, musste ein Berliner Herz besonders froh stimmen. Neben den Bankhäusern fallen die Gebäude der großen Schifffahrtsgesellschaften wirkungsvoll in die Augen.

Gehen wir den Bund zu Ende, so sehen wir auf einem stattlichen Hause die deutsche Fahne flattern, während davor auf einer hohen Stange sowie in einer Halle die Sturmsignale, das Einlaufen sowie die Termine für das Auslaufen der Schiffe verzeichnet sind.

„Bund“ in Schanghai mit Yangtse-Dampfer „Peking“.

Hier ist die Firma Melchers u. Co. als Vertreterin des Norddeutschen Lloyds und der Hamburg-Amerika Linie tätig, und ihr Leiter, Herr Korff, besitzt das Verdienst, dem Ansehen des Deutschtums im fernen Osten nicht nur durch seine kaufmännische Erfahrung und Tüchtigkeit, sondern auch durch das Freundliche und Entgegenkommende seiner Persönlichkeit wichtige Dienste geleistet zu haben.

Wenige Schritte davon, und nur durch eine kurze Brücke getrennt, liegt der „Englische Klub“ mit seiner schönen, nach dem Bund zuführenden offenen Terrasse und seinen vortrefflichen Einrichtungen für die Unterhaltung seiner Mitglieder. Um die Frühstückszeit trifft man dort vor allem in dem Bar-Room mit einem Glas Cocktail oder Whisky mit Soda in der Hand eine aus allen Nationalitäten gemischte Gesellschaft, bei der es sich schwer bestimmen lässt, wo die Gemütlichkeit aufhört und das Geschäft anfängt.

Einer besonders herzlichen Aufnahme darf man im Deutschen Klub in Kanton Road sicher sein, wo sich für mich im Lauf einer Viertelstunde, völlig unerwartet und desto willkommener, anscheinend verlorene Beziehungen wieder befestigten und neu anknüpften.

Während die chinesischen Kellner im Speisesaal ein paar Flaschen köstlichen Moselwein auf den Tisch stellten und die Unterhaltung sich um die neuesten Vorgänge in Deutschland drehte, war das Gefühl des Fremdseins völlig überwunden und eine feste Grundlage für alles gefunden, was in Schanghai als sehens- und bewundernswert galt. Dem Deutschen Klub genügen übrigens seine bisherigen Räume nicht mehr, und er ist im Begriff, sich ein neues, noch viel großartiger eingerichtetes Heim zu schaffen, wozu die erforderlichen Kapitalien bereits aufgebracht sind.

Vor dem Bund zieht sich ein mit Bäumen bepflanzter, breiter, grüner Promenadenweg bis zur Uferstraße am Wusung, und wer ihn bis zu den „Public Gardens“ ausdehnt, wird durch ein Denkmal, das sich in geringer Entfernung von ihm erhebt, unwillkürlich gebannt und ernst gestimmt.

Auf einem Unterbau von schwedischem Granit erblicken wir einen zersplitterten und abgebrochenen Mast aus Bronzeguss. Darunter liegen Flagge und Segeltuch, während der Flaggenstock mit dem deutschen Adler geschmückt und von einem Lorbeerkranz umwunden ist. Die Bronzetafeln auf den vier Seiten des Sockels enthalten ein Bild des „Iltis“, der mit seiner Besatzung an der Küste von Schantung ein Opfer des Taifuns wurde, eine darauf bezügliche Inschrift und die Namen der untergegangenen Seehelden, Offiziere mit ihren Mannschaften.

Wir gedenken beim Anblick dieses Denkmals, das von dem Kapitän zur See Müller zuerst angeregt, dann von Reinhold Vegas meisterlich ausgeführt wurde, wehmutsvoll und ergriffen der treuen, tapferen Söhne unseres Vaterlandes, die, den Wellen und Klippen des Stillen Ozeans preisgegeben, doch bis zum letzten Augenblicke dem Tode unverzagt ins Auge sahen.

Dann wenden wir uns dem erwähnten „öffentlichen Garten“ zu, der nach dem Bund und der alten Brücke zu von einem eisernen Gitter umgeben ist. Damit bezweckt man nicht nur, die schmucken Palmengruppen und Blumenbeete, die Kioske und Lauben, die Grotten und Statuen von der Berührung mit dem lebhaften Straßenverkehr abzuschließen. Man will an den beiden schmalen Zugängen darüber wachen, dass der Garten von keinem Chinesen betreten wird, denn ihnen ist die Benutzung des kleinen Parks grundsätzlich untersagt. Die Bänke tragen außerdem die Inschrift „Only for foreigners“. Mehrmals in der Woche finden hier im Sommer Konzerte statt, bei denen man die elegante Welt von Schanghai, die Damen in reizendem seidenen Sommerkostüm mit den chinesischen Dienern zur Seite sowie die Herren im schneeweißen Leinenanzug mit weißer Jacke, Evening-Dress oder Frack in lebhaftem Gespräch sitzend oder lustwandelnd beobachten kann.

Innerhalb des europäischen Viertels von Schanghai hat sich mit den „Public Gardens“ noch ein besonderes, gegen die gelbe Rasse abgeschlossenes Eiland gebildet, wo die gute Gesellschaft, oder was man darunter versteht, ganz unter sich ist und Intimitäten lauter als gewöhnlich aussprechen darf, da die Musik alles übertönt, was andere nicht hören sollen. Hier lässt es sich auch am Vormittag in der Einsamkeit angenehm weilen, wenn in der vielbeschäftigten Stadt niemand Zeit zum Spazierengehen hat. Der Garten liegt unmittelbar am Wusung, und zwar gerade an der Stelle, wo der Fluss die Biegung macht, die für das Bild der Stadt so entscheidend mitspricht.

Unvergesslich wird mir der Tag in Schanghai sein, als der Taifun, dem ich entgangen war, nun wirklich zur Entfaltung kam und vom Stillen Ozean durch die Mündung des Yangtsekiang und den Lauf des Wusung die Wellen bis nach Schanghai in wilden Aufruhr versetzte. Der Orkan tobte so gewaltig, dass die eisernen Stühle und Bänke umgeworfen wurden und es nicht leicht war, sich auf den Beinen zu halten. Aber gerade deshalb war es unwiderstehlich verlockend, die großen und kleinen Dampfer, Dschunken und Boote zu sehen, die sich trotz alledem den Weg durch die Fluten bahnen wollten.

Während die Wellen immer höher ans Ufer schlugen, und auf dem zügellosen Element alles auf und nieder tanzte, der Stürm am Hut und Rockkragen zerrte und so toll blies, dass man alle halbe Minute die Augen schließen musste, entstand bei dem Zuschauer die Empfindung, an Bord eines unruhig schwankenden und stampfenden Schiffes zu weilen.

Zwischen den Dschunken, die auf andere Weise nicht vorwärts geschafft werden konnten, standen die braunen, nackten Gestalten der Kulis an seichten Stellen mitten im Wasser. Sie schleppten die Fahrzeuge mühselig an Stricken herüber, bekamen dabei beständig Sturzwellen über den Kopf und benahmen sich mit ihrem Geschrei und ihren aufgeregten Gebärden genauso wie Ertrinkende bei einem Schiffbruch.

Alle Naturereignisse scheinen in Schanghai mit besonderer Heftigkeit aufzutreten. Die Hitze, die mehrere Tage bis zur Unerträglichkeit anhielt, konnte nur durch die leichtesten, weißen Sommeranzüge und zur Vermeidung des Sonnenstichs durch Benutzung des Tropenhelms erträglich gemacht werden. Die eiskalten Getränke, nach denen man beständig Verlangen trug, um die trockene Zunge anzufeuchten, brachten nur vorübergehende Linderung und hatten bald darauf heftige Transpirationen zur Folge. Dann aber trat plötzlich in der Temperatur eine Abkühlung um zehn bis zwölf Grad ein, als ein tropischer Regenguss herniederfiel, der alle Vorräume und Veranden überschwemmte und die Straßen in eine Reihe von Pfützen verwandelte, so dass selbst die Rickshaws, auch wenn man sich das Verdeck aufschlagen ließ und den Regenschirm aufspannte, keinen Schutz boten.

Von den „Public Gardens“ erblickt man auf der anderen Seite der Brücke ein sich lang hinziehendes, vornehmes Gebäude mit Säulenportalen, die weit sichtbar sind und von denen man einen entzückenden Ausblick auf das Stromgebiet und die Gliederung der Stadt genießt.

Hier befindet sich das deutsche Generalkonsulat, dessen Leiter seit Lührsens Zeiten sich durch kluges Eingehen auf die Verhältnisse in Ostasien und ebenso vorsichtige wie energische Förderung unserer vaterländischen Interessen ausgezeichnet haben.

Wie früher Dr. Stübel, ist auch der jetzige Generalkonsul Dr. Knappe in jeder Beziehung geeignet, diese guten Überlieferungen weiter zu Pflegen und den immer größer werdenden Ansprüchen an Sachkenntnis und Arbeitskraft Rechnung zu tragen.

Auch die Vertreter Knappes, die Herren Boyé und Busse, verstehen in rühmenswerter Weise weitgehende Verbindungen zu pflegen und dadurch unseren Interessen im Auslande die Wege zu ebnen.
Wer ein erschöpfendes Bild von Handel und Schifffahrt in Schanghai gewinnen will, muss mit einem kleinen Dampfer, wie er uns von der Hamburg-Amerika-Linie zur Verfügung gestellt wurde, den Wusung eine Strecke aufwärts fahren und sich davon überzeugen, ein wie fieberhaftes Leben auf dem Wasser sich hier zu allen Tageszeiten entwickelt.

Bis zum Arsenal liegen die chinesischen Dschunken in vier und fünffacher Reihe zu Tausenden aneinandergekettet am Ufer und glotzen uns mit ihren Augen, die ihnen auf den Burgspriet gemalt sind, halb drollig, halb geheimnisvoll an, während davor alte chinesische Kriegsschiffe, die vor Schmutz starren, verankert sind, und Hausboote in langer Reihe von Schleppdampfern stromaufwärts befördert werden.

Unser Dampfer trug uns auch stromabwärts am deutschen Generalkonsulat vorbei, wo wir ein deutsches Kriegsschiff, den „Geyer“, antrafen und zu unserer Freude vernahmen, dass sein Kommandant, Korvettenkapitän Guthmann, sich an Bord befand. Er saß allein auf dem Promenadendeck und war in die Lektüre eines eben erschienenen militärischen Werkes vertieft, als er uns erblickte, vom Stuhl aufsprang und uns freundlich zu sich einlud. Der militärische Dienst hat ihn nicht gehindert, in seinem Temperament viel von dem jovialen Sinn und der Gastfreundlichkeit seines Schwiegervaters, unseres Konsuls Mohr in Bergen, zu offenbaren, wo unser Kaiser Wilhelm so oft Erholung und fröhliche Anregung während seiner norwegischen Sommerfrische gefunden hat.

Das Ansehen, zu dem es Schanghai im Weltverkehr gebracht hat, ist das Ergebnis von wenigen Jahrzehnten. Erst seitdem die Engländer im sogenannten Opiumkrieg, Sommer 1842, die Stadt besetzt und die Öffnung des Hafens erzwungen hatten, ist sie den Europäern zugänglich geworden.

Damals wurde den Siegern unterhalb Schanghais ein sogenanntes „Settlement“, wie der englische Ausdruck lautet, angewiesen, für das eine geringe Pachtsumme für alle Zeit zu entrichten war. An die englische Ansiedlung wuchs eine französische und eine amerikanische heran, mit der unsere deutsche in Verbindung steht.

In dieser europäischen Niederlassung, die etwa zehn Quadratkilometer umfasst, sind alle Straßen, die von Osten nach Westen, also dem Bund und der Uferstraße am Wusung zustreben, nach Städten benannt.
Die wichtigste ist Nanking Road, wo sich die elegantesten, europäischen Verkauksläden mit allem, was zum verfeinerten Bedürfnis des Lebens in der Gesellschaft gehört, aneinanderreihen.

Deutschland begrüßt uns hier nicht nur mit vielen leistungsfähigen und angesehenen Firmen, sondern auch mit der Redaktion und dem Verlag des „Ostasiatischen Lloyd“, einer Wochenschrift, die bereits im Jahre 1885 begründet wurde, aber erst unter ihrem jetzigen Leiter, C. Fink, durch ihren vielseitigen und sorgfältig ausgewählten Inhalt, ihre entschiedene, dabei immer gerechte und taktvolle Betonung deutscher Interessen ihren großen Einfluss erlangt hat.

Durch sein gründliches Studium von Land und Leuten und seine persönliche Beliebtheit ist es Herrn Fink gelungen, seinen Wirkungskreis immer mehr zu erweitern und daneben auch noch eine illustrierte Monatsschrift „Der ferne Osten“ ins Leben zu rufen, die eine wertvolle Ergänzung zu jener bildet.

Das Europäertum, das dem Fremden auf der prächtigen Uferpromenade am Wufung in die Augen fällt und ihn überall gastlich empfängt, behauptet noch eine Weile seine Kraft, wenn er in Nanking Road einbiegt. Er trifft dort eine deutsche Buchhandlung, französische Kunsthändler und englische Modegeschäfte. Dann werden aber die modernen, massiven Häuser unterbrochen von bunten chinesischen Buden und Läden, und schließlich bekommt die Straße den Charakter des himmlischen Reichs.

Auf einen großen Teil der Zopfträger hat die europäische Ansiedlung bereits eine so große Anziehungskraft ausgeübt, dass sie ihre alte Stadt mit den engen, schmutzigen Gassen und der verfallenen Mauer verlassen und den modernen Lebensansprüchen Rechnung getragen haben.

Ein großer Renn- und Spielplatz zur Linken und ein umfangreiches Hotel zur Rechten deuten wohl noch auf internationales Leben hin. Aber das Eigenartige der Bevölkerung, die unter den Europäern ein neues Leben beginnt, tritt uns doch mit voller Unmittelbarkeit entgegen.

In den Salons unserer Freunde und im Gespräch mit klugen Frauen hatten wir fast vergessen, dass wir in China sind. Nun aber erblicken wir an der Ecke von Nanking Road in Begleitung eines Polizisten einen armseligen Burschen, der einen großen, viereckigen Halskragen aus Holz trägt. Auf dem Brett ist sein Name und die Tatsache verzeichnet, dass er eines Diebstahls überführt worden ist.

Wir fahren hinaus ins Freie nach einem chinesischen Dorf, das aus einer einzigen, langen Straße besteht und gerade so ordentlich und sauber ist, wie die alten chinesischen Städte schmutzig zu sein pflegen. Wir kommen an reizenden Villen und alten Tempeln vorbei und lassen den Wagen in einem chinesischen Teehaus, den „Yun-Yuen-Gardens“, halten, um uns zu erfrischen.

Teehaus in Schanghai.

Was uns hier beim ersten flüchtigen Blick umfängt, dann beim Betrachten der Anlagen auf Schritt und Tritt unser Interesse erregt und uns endlich mit stummem Schauen und Staunen erfüllt, ist ein vollendetes Märchen aus einer Welt, die wir bisher immer ins Land der Träume verwiesen haben.
Wir schreiten durch das absichtlich schief gebaute Eingangstor über den Hof zu kleinen Häuschen mit bunten, überhängenden Dächern, verschnörkelten Fenstern, zu einsamen Teichen, die von Lotosblumen überragt und so dicht bewachsen sind, dass sie wie eine feste, grüne Masse aus Malachit vor uns schimmern. Wir lassen uns an Marmortischen mit eingelegten Arbeiten nieder und verlangen Tee. Ohne hörbar zu gehen oder ein Wort zu sagen, stellt der Chinese lächelnd die Kanne auf den Tisch, bereitet den Tee für jeden Gast besonders und gießt ihn dann aus einer größeren Tasse in eine kleinere.

Unbeweglich hängen farbige Lampions aus Papier über unseren Köpfen, und wir lauschen, ob nicht irgendwo in der Luft ein Glockenspiel ertöne. Aber es bewegt sich nicht ein Blättchen, es erklingt nicht der leiseste Laut.

Uns gegenüber sitzt in der Laube eine chinesische Familie. Der Alte hat sich rückwärts in einen Stuhl gelehnt, mit einer Pfeife im Mund, mit zusammengelegten Händen im Schoß und Blicken, die ins Unbestimmte und Weite gerichtet sind. Die Mutter scheint zu schlafen, und nur das Mädchen rührt sich ein wenig, indem es einem großen braunen Affen, der auf dem Geländer sitzt, seine Rechte träge zum Spielen überlässt.

Der heiße Tee löscht unsern Durst, und die Leinwandlappen, die wir in fast kochendes Wasser tauchen und mit denen wir uns Stirn, Schläfe und Hände abwischen, wirken kühlend wie ein frischer Luftzug.

Wir erheben uns wieder und gehen noch weiter durch die engen, gewundenen Gänge des Gartens, über schmale Brücken und unter herabhängenden Zweigen, an Götzenbildern aus Stein und Bronze vorbei, blicken in die Nischen des Teehauses, in die sich immer mehr verengenden Winkel, und kommen in eine völlige Weltabgeschiedenheit hinein, als ob hier Buddha selbst träume.

Aus dieser geheimnisvollen Stille, bei welcher man jeden Atemzug zu hören glaubt, diesem leisen, farbigen Spiel, das ein unerklärliches Rätsel zu umschließen scheint, diesen stummen Menschen, die unter Blumen und Blättern verschwinden, diesen seltsamen Torbogen, Terrassen, Nischen und Lauben, wo nur Licht und Schatten miteinander plaudern, werden wir plötzlich in das bunteste Leben, das wirrste Durcheinander von allen nur möglichen Eindrücken auf Auge und Ohr versetzt, wenn wir uns während der Abendstunden nach Futschau Road begeben.

Diese Straße liegt ebenfalls innerhalb der europäischen Ansiedlung und bildet den Schauplatz für alles, was man sich unter Eleganz und Zerstreuung für eine endlose, durcheinanderkribbelnde Menschenmenge vorzustellen vermag. In den ersten fünf Minuten wird man von dem farbigen Lichtschimmer, der in den Läden und auf den Balkons vor unseren Augen tanzt, geradezu geblendet und durch die verschiedenen Tausende Stimmen der Händler, Ausrufer, Lastträger, Fuhrleute, Musikanten und Sängerinnen betäubt. Man fürchtet, im Gedränge die Freunde mit ihrem Führer zu verlieren, in dem Gewirr zu verschwinden, überlaufen oder überfahren zu werden.

Aber in diesem Ameisenhaufen weiß jeder sein Plätzchen zu finden und geschickt auszuweichen, wenn er dem anderen in den Weg kommt. Alles ist lustig und beweglich, harmlos und liebenswürdig wie bei einem Volksfest in Italien.

Der vornehme Chinese schämt sich nicht des Bettlers und der Europäer wird nirgends belästigt, mag er sich noch so neugierig in den Kaufläden umsehen und hundert Sachen betrachten und berühren, ohne etwas zu erstehen. Fächer, Malereien, Schmucksachen, kostbare Seidengewebe, Spielzeuge, Konditorwaren sind in den offenen Läden aufgeschichtet. Alles, wonach wir fragen, wird uns bereitwillig gezeigt und mit Hilfe des Dolmetschers freundlich erklärt.

Über einen Balkon hinweg blicken wir in einen festlich erleuchteten Saal, in dem das Licht aus bunt bemalten Gaslaternen oder Lampions auf Säulen mit Segenssprüchen, blühende Bäume, farbige Tapeten und ein Bild Buddhas, das von rotbrennenden Kerzen umgeben ist, herabfällt. Wir treten in das Haus ein, in dem sich eines der feinsten chinesischen Restaurants befindet, geben den dickbäuchigen, klug schmunzelnden Herren, mit denen wir bekannt gemacht werden, die Hand und setzen uns an einen der runden Tische, die mit weißer Leinwand gedeckt sind.

Es beginnt ein niedliches Knabbern aus den Schälchen und Schüsseln, die entweder bereits auf dem Tisch stehen, oder alsbald aufgetragen werden und aus denen man sich mit elfenbeinernen Stäbchen die verschiedensten Sachen, Mandeln und Nüsse, Eierstücke, gebratenes Huhn, Käse und Früchte, herausangelt.

Nach diesem Hors d'oeuvre sollten eine Vogelnester suppe, Haifischflossen und ähnliche Leckerbissen an die Reihe kommen. Aber wir entsagten, um von dem originellen Schauspiel aus der Straße nichts zu verlieren.

Inzwischen hatte das lärmende und dabei doch so interessante Treiben in Futschau Road noch zugenommen. Die Verkäufer liefen wie toll hinter uns her, ohne uns jedoch lästig zu werden, denn schon bei der ersten abweisenden Handbewegung zogen sie sich lächelnd und bescheiden wieder zurück.

Die Neugierde lockte, immer weiter in die Lokale einzudringen, wo getrunken und geraucht, gesungen und gespielt wurde.

Aus dem unaufhörlichen Gewühl traten die Gestalten jugendlich hübscher, reich geputzter und geschminkter Mädchen hervor, die entweder in Rickshaws gefahren oder von Kulis auf den Schultern getragen wurden, so dass man sie schon von weitem über den Köpfen der übrigen erblicken konnte, wie sie sich in der Straße auf und ab bewegten. Diese niedlichen Erscheinungen, die wie Blumen dahinschwebten, waren die Singsong-Girls, deren musikalische Vorträge bei einer chinesischen Abendunterhaltung unentbehrlich sind. Die Mädchen sind nicht einem bestimmten Konzertlokal verpflichtet, sondern treten im Laufe des Abends an verschiedenen Stellen auf und zeigen ihre Kunst auch sonst überall, wohin man sie einladet.

Die Singspielhallen bilden große, niedrige Säle, die um diese Stunde so besucht sind, dass wir nur mit Mühe noch ein paar freie Plätze entdecken. Aber der chinesische Kellner macht für uns geschickt eine Gasse frei. Die Chinesen rücken auf der Bank zusammen, und wir können durch zwei Pfeiler gerade den Blick auf die Bühne richten, wo sich in raucherfüllter Atmosphäre ein ganzes Dutzend dieser Volkssängerinnen niedergelassen hat und eine jede von ihnen wartet, bis die Reihe an sie kommt.

Immer neue Gäste treten in den Saal, immer qualmiger wird die Lust und immer lästiger strömt uns der Schweiß von der Stirn, während der bezopfte Kellner uns Tee und Zigaretten bringt. Der chinesische Nachbar bietet uns höflich Feuer an, und wir versuchen nach Kräften, die Luft qualmend noch mehr zu verschlechtern.

Straße in Schanghai.

Da dringt ein Kreischen und Quietschen an unser Ohr, als ob jemand, dem man die Fußsohle mit Stecknadeln bearbeitet, seinen Schmerzen Ausdruck verleihe, während gleichzeitig die Saiten einer Gitarre gerissen werden. Dies seltsame Konzert muss von dem Fräulein herrühren, das sich aus dem Kreise ihrer Genossinnen soeben erhoben hat und schon nach den ersten Tönen von den Zuhörern mit lebhaftem Beifall begrüßt wird. Von Rhythmus und Melodie in unserem Sinne lässt sich beim besten Willen nichts unterscheiden, und die Worte, die gesungen werden, verstehen wir natürlich auch nicht.

Die Sing-song-Girls machen mit ihren bunten Kleidern, ihren geschminkten Gesichtern, ihren pechschwarzen Haaren, deren Frisur ein kleines Kunstwerk bildet und aus denen goldene Nadeln hervorglitzern, den Armbändern an den Handgelenken und den Ringen an den Fingern den Eindruck von geschickt ausgeführten Wachsfiguren.

Wenn sie lächelnd um sich blicken, die Tasse Tee zum Munde führen oder aufstehen, um eine Gesangsnummer vorzutragen, glaubt man, dass nicht Fleisch und Blut, sondern ein feiner Mechanismus all diese Bewegungen und seltsamen Töne, die wir zu hören bekommen, hervorbringe. Hitze und Rauch treiben uns nach einer halben Stunde aus diesen Räumen wieder hinaus.

Wir betrachten uns nur noch die Parterreräumlichkeiten näher, die wir vorher hastig durchschritten hatten, und verfolgen dabei einen schmalen Gang, in dem zu beiden Seiten Nischen angebracht sind. Das Holzgetäfel ist schwarz. Auf den Bänken und an den Wänden liegen seidene Kissen. Von oben fällt aus einer halbverhüllten Ampel ein matter, rötlicher Schein in die stillen Gemächer, in denen wir zunächst nur Schatten und Umrisse erkennen. Allmählich treten aber aus dem Halbdunkel menschliche Gestalten und Glieder hervor, aber in so seltsamen Stellungen und Verrenkungen, wie man sie sonst nur von Kautschukmännern ausgeführt sieht.

Wir sind bei den Opiumrauchern angelangt. Einzelne liegen auf dem Rücken, haben die Beine nach oben an die Wand gestreckt und lassen den Kopf nach unten sinken, indem sie sich mit einer Hand auf die Erde stützen. Andere hocken mit zusammengezogenen Füßen klumpenartig in einer Ecke der Nische oder liegen wie tot platt auf dem Boden. Überall erblickt man ein Flämmchen, und hier und dort streckt sich ein schlaffer Arm aus, um die erloschene Pfeife mit dem Kügelchen Opium wieder in Brand zu setzen. Die Augen der Menschen, die in dieser Atmosphäre atmen, sich betäuben und seligen Phantasien nachjagen, sind entweder ganz geschlossen oder blicken uns mit immer mehr zufallenden Lidern matt und starr wie aus gläsernen Kugeln an, während um die Lippen ein verzerrtes Lächeln spielt. Die völlige Abgestumpftheit der Außenwelt gegenüber, die an ihnen gleichgültig vorbeischwebt, und die Einkehr in wild durcheinanderjagende Träume von Lust bilden für wenige Stunden eine Seligkeit, die diese Unglücklichen teuer bezahlen müssen.

Wer sich nur ein halbes Jahr lang dem Opiumgenuss in solcher Weise hingibt, kann sich ihm nicht wieder entreißen und geht daran allmählich zugrunde. Der wonnigen Betäubung folgt ein trauriges, ödes Erwachen, und immer stärkere Mengen müssen angewendet werden, um den ersehnten Rausch herbeizuführen, bis schließlich der Organismus völlig zerstört ist.

In Schanghai behauptet das Hotel Astor noch immer seinen ersten Rang wegen der eleganten und zweckmäßigen Einrichtungen, die dem Fremden dort sowohl für kürzeren wie längeren Aufenthalt geboten werden.

Obwohl das Hotel des Colonies am Bund, namentlich was Küche und Keller betrifft, ihm kaum nachsteht, ist jenes doch der Sammelpunkt der verwöhnten internationalen Gesellschaft geblieben, die auch in der Nähe des Yangtsekiang auf die Annehmlichkeiten eines Hotels und Restaurants ersten Ranges, wie man es im westlichen Europa antrifft, nur ungern Verzicht leistet.

Im Sommer ist dort für alles gesorgt, was man beanspruchen kann, um die Schwüle des Tages erträglich zu machen. Die schweren Teppiche und Vorhänge, welche die Räume im Winter schmücken, sind beseitigt, und durch die geöffneten Fenster und Türen weht beständig eine Brise, die sich bis zu den Lese-, Musik-, Spiel- und Konversationsräumen wohltuend bemerkbar macht.

Der Speisesaal ist von imponierender Ausdehnung und in vier bis fünf Längsreihen mit kleinen runden Tischen besetzt, die für die Hotelgäste mit besonderen Nummern belegt sind, so dass man bei den Mahlzeiten sich nicht erst nach einem Platz umzusehen braucht, sondern sofort weiß, wohin man gehört. In dem Preis, den man für das Zimmer bezahlt, ist immer auch der Betrag für erstes und zweites Frühstück sowie Diner einbegriffen.

Die Speisekarte besteht aus einer Fülle von Gerichten, unter denen man nach Belieben und in unbeschränkter Anzahl wählen kann. Sie werden nach den Nummern bestellt, und die Hauptmahlzeit enthält deren nicht weniger als achtzehn bis zwanzig, die in kleinen, den Appetit reizenden Portionen aufgetragen werden.

Die chinesischen Diener sind von vollendeter Aufmerksamkeit und Geschicklichkeit und dabei, was in einem großen Speisesaal und bei vielen Gästen von Wichtigkeit ist, beim geschäftigen Hin und Hereilen, bei der Hantierung mit Flaschen, Gläsern und Tellern von solcher Geräuschlosigkeit, dass man sie kaum bemerkt. Sie lesen den Gästen die Wünsche gewissermaßen vom Gesicht ab und sind immer da, wenn man sie braucht. Ihr Diensteifer wird außerdem in keiner Weise durch Trinkgelder bestimmt, denn dergleichen klingende Ermunterungen sind in China unbekannt. Glaubt ein Fremder, sie dennoch austeilen zu müssen, so macht der Bursche mit dem tadellosen, weißen Anzug und dem sauber geflochtenen, lang herunterhängenden Zopf ein gerade so erstauntes Gesicht wie ein europäischer Kellner, wenn man ihm bei solchen Gelegenheiten nichts gibt.

Von der Decke hängen in zwei Reihen sogenannte Punkas herab, lange, viereckige Gestelle, die mit Stoff bezogen und mit Fransen verziert sind. Sie werden vom Korridor aus durch Kulis, die an Stricken ziehen, in regelmäßig schwingende Bewegungen gesetzt und erzeugen dadurch einen erfrischenden Luftzug. Im Winter werden diese Punkas, die man auch in jedem besseren Privathause über dem Speisetisch findet, von der Decke heruntergenommen und die Zimmer genauso wie bei uns mit Teppichen, Decken und Vorhängen warm und wohlig ausgestattet.

Die schönste Jahreszeit für Schanghai ist der Herbst, der vom September bis Mitte oder Ende November einen fast beständig klaren Himmel und köstliche Frische mit sich bringt.

Der Winter unterscheidet sich trotz der südlichen Lage nur wenig von dem unsrigen, denn er verlangt ebenfalls regelmäßig geheizte Ofen, und die Damen können ihre Pelzsachen gerade so gut verwerten wie in Berlin.

Eine so große Lebenskraft Schanghai atmet, so mächtig die Entwicklung dieser Stadt unter dem Einfluss der Europäer geworden ist, darf man doch als sicher annehmen, dass sie mit ihrer Bedeutung als gewaltiges Bindeglied zwischen China und Europa ihren Höhepunkt noch lange nicht erreicht hat. Sie ist durch ihre Lage von Natur aus dazu bestimmt, Mittelpunkt eines unermesslichen Weltverkehrs zu werden, der die im Innern verschlossenen Schätze Chinas allen Kulturvölkern mitteilt.

Schon Marco Polo, der kühne, venetianische Reisende, der im dreizehnten Jahrhundert mit so beispiellosem Mut und scharfer Beobachtung nach Asien vordrang, war von dem Yangtsekiang und dem Verkehr, der sich auf ihm bereits zu jener Zeit abspielte, entzückt.

Die Mündung des Flusses befindet sich etwa in der Mitte der chinesischen Ostküste, und seine Strömung ist eine so starke, dass er das ganze Jahr hindurch der Schifffahrt zugänglich bleibt. Die größten Dampfer können bis nach Nanking fahren, und für kleinere Schiffe ist diese Wasserstraße auf eine Entfernung von sechshundert Seemeilen, bis nach Hankau, dem Hauptsitz des chinesischen Teehandels, frei.
Treffend bemerkt Georg Wegener in seinem gehaltvollen Buche „Zur Kriegszeit durch China 1900/1901“, dass die Grenze der Dampfschifffahrt auch bei Hankau noch nicht erreicht ist, und dass kleinere Flussdampfer seit mehreren Jahren bis zu dem noch 350 englische Meilen weiter aufwärts gelegenen Vertragshafen Itschang vordringen, der von der Küste so weit entfernt ist wie die Luftlinie von Berlin nach Tunis oder Sewastopol.

Der Yangtsekiang wird außerdem sowohl nach Norden wie nach Süden von einem ganzen Netz von Nebenflüssen gespeist, so dass es sich, wenn von ihm die Rede ist, um ein ganzes Stromgebiet handelt, das den Weltverkehr mit kräftigen Armen in das Innere Chinas lockt.

Seitdem vor sechzig Jahren durch die englische Eroberung die Einkapselung der Stadt gebrochen wurde, hat sich das Europäertum als ruhelos vorwärts-treibende Kraft bewährt und auch auf die Eingeborenen belebend und verjüngend zurückgewirkt.

Wer die Chinesen in ihrer alten Stadt in dem Schmutz ihrer Gassen und verfallenen Häuser beobachtet hat, mag glauben, dass sie die ausgetretenen und zerrissenen Schuhe ihrer Geschichte überhaupt nicht mehr abstreifen können. Aber ihre Brüder, die in der europäischen Niederlassung wohnen, sind schon jetzt an Bevölkerung dreimal so stark als jene und lernen unaufhörlich von den siebentausend Europäern, die ihnen zuerst als Fremde und Feinde erschienen, dann aber zu geistigen Führern und nachahmenswerten Vorbildern wurden.
Von Schanghai gehen große, elegant eingerichtete Dampfer deutscher, englischer, österreichischer und japanischer Gesellschaften nach Vorderindien und Hongkong, nach Tientsin, also in die Nähe von Peking, und nach Japan. Die Russen haben außerdem seit wenigen Monaten im Anschluss an die sibirische Bahn eine neue vortreffliche Schiffsverbindung zwischen Dalny und Schanghai hergestellt. Die beiden Doppelschraubendampfer „Mongolia“ und „Mandschuria“, die auf dem Stabilimento tecnico in Triest gebaut sind und in der Stunde bis siebzehn Knoten laufen, bewerkstelligen die Überfahrt von früh morgens um vier Uhr bis zum Abend des nächsten Tages, also in ungefähr vierzig Stunden.

So erweist es sich immer mehr, dass die Behauptung, Schanghai bilde gegenwärtig das Herz Chinas, in der Tat zutreffend und für das Europäertum dort ein Schauplatz geschaffen sei, wie er sich zum zweiten Mal nicht so leicht wiederfindet.

Seit der Zeit, als Prinz Heinrich während seines ostasiatischen Kommandos und Graf Waldersee während des chinesischen Feldzuges mit ihren Truppen in Schanghai erschienen, hat auch der deutsche Einfluss seine gebührende Bedeutung erlangt. Am Yangtsekiang ist unser Handel zu erfreulicher Blüte gelangt, und die deutsche Niederlassung in Hankau beweist, dass unsere Regierung auch nach dieser Richtung vorwärtsschreiten will.

Trotzdem lässt es sich nicht leugnen, dass bei den Unternehmungen unserer Kaufleute, denen niemand Mut und Verständnis absprechen kann, gerade jetzt eine gewisse Stockung eingetreten ist, weil unsere Finanzkräfte mit der Entwicklung der Dinge in China nicht gleichen Schritt halten.

Die Deutsch-Asiatische Bank, die aus der Vereinigung unserer stärksten Finanzquellen hervorgegangen ist, hat in der Provinz Schantung mit Eisenbahn und Bergbauunternehmungen Treffliches geleistet, scheint sich aber für andere Teile Chinas, die sich von Schanghai beherrschen lassen, kaum zu interessieren. Es liegt die Gefahr nahe, dass sich Deutschland in dieser Beziehung von anderen Nationen den Rang ablaufen lasse.

Frankreich sorgt unaufhörlich für seine Kolonie Tonkin, um sie zu einem Einfalltor für China zu gestalten, und wird durch seine im Bau begriffene Eisenbahn von Hanoi nach Yünnan in eine der reichsten Provinzen des Landes eindringen.

Japan schickt seine Agenten über das ganze chinesische Reich und übt namentlich auf die Schifffahrtslinien einen bedeutenden Einfluss aus.

England hat kürzlich die Konzession für die Bahn von Schanghai nach Nanking erhalten, die ein sehr aussichtsreiches Unternehmen zu werden verspricht, ferner im Norden eine Eisenbahn von Tientfin nach Paotingfu, im Süden eine solche von Hankau nach Kanton begonnen und bewirbt sich gegenwärtig um eine Konzession für eine Bahnlinie, die von Schanghai den Yangtsekiang entlang bis zur Hauptstadt der Provinz Szechuan führen soll.

Überall treffen wir französische, englische, belgische und amerikanische Ingenieure in maßgebenden Stellen. Nur in Deutschland scheint man augenblicklich, wie der Ausdruck lautet, „chinamüde“ geworden zu sein. Es ist unsere Hoffnung und unser Wunsch, dass der deutsche Unternehmungsgeist, frei von kleinlichen Bedenken und unfruchtbarer Zaghaftigkeit, in dem Wettbewerb der übrigen Nationen nicht zurückbleiben, sondern vielmehr danach streben werde, dereinst auch in Schanghai eine führende Rolle zu übernehmen.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Auf der sibirischen Bahn nach China