Auf der sibirischen Bahn nach China

Mit 36 Illustrationen und einer Karte
Autor: Eugen Zabel (1851-1924) deutscher Schriftsteller, Erscheinungsjahr: 1904

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Themenbereiche
Enthaltene Themen: Sibirien, Russland, Reisen, Bahnreise, St. Petersburg, Luxuszug,
An einem schwülen Juliabend dieses Jahres brachte in Berlin der Verein russischer Studenten in den Hohenzollernsälen, die man in einer der entlegenen Straßen von Moabit suchen muss, Gorkis „Nachtasyl“ in der Ursprache zur Aufführung. Die jungen Leute feierten eine Art Heimatfest und führten den Ertrag der Vorstellung wohltätigen Zwecken zu. In dem Vorraum zu den prächtig eingerichteten Sälen war alles so charakteristisch umgestaltet, dass man glauben konnte, nach einer größeren Stadt im Innern des Zarenreiches versetzt zu sein.

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Schüler der Berliner Universität und des Polytechnikums in Charlottenburg gingen mit dem Ausdruck der geistigen Spannung und Erregung, die ihren Gesichtern bei solcher Gelegenheit eigentümlich ist, und dem behaglichen Gefühl, unter Landsleuten zu sein, lebhaft plaudernd auf und ab. Auf einem langen Tisch, der mit Erfrischungen bedeckt war, brodelte das Wasser in einem riesigen Samowar und aus Hunderten von Zigaretten wirbelte aromatischer Rauch auf. An der Kasse saßen junge Damen im Nationalkostüm und verkauften die Billets und Theaterzettel, während im Publikum Einladungen zur Teilnahme an Unterstützungszwecken verteilt wurden. Durch die geöffneten Türm und Fenster klangen die lustigen Weisen einer Hochzeitsmusik vom ersten Stockwerk herab, während der Vorhang auf der Bühne sich leise hin- und her bewegte und das Zeichen zum Beginn der Aufführung gegeben wurde.

Man weiß, mit welcher furchtbaren Wahrheit in dem Gorkischen Drama das Leben in einem Moskauer Nachtasyl veranschaulicht wird, in einer jener Spelunken, die noch weit armseliger und jammervoller als ähnliche Löcher in den Millionenstädten Westeuropas eingerichtet sind. Es handelt sich um eine Vereinigung von Menschen, die alle einmal bessere Tage gesehen haben und nun auf der untersten Sprosse der menschlichen Existenz angelangt sind. Diebe, Falschspieler, Trunkenbolde, Dirnen, Elende und Kranke aller Art hausen unter der Erde fast wie Tiere und wissen nichts mehr von Leben und Licht, von Sonne und Freiheit. Da kommt ein sogenannter „Pilger“ zu ihnen, ein „Strannik“, der in bald drolliger, bald rührender Weise allen Trost zuspricht und sie zu bessern versucht, indem er sie mit einem Hauch von Mitleid und Menschenliebe berührt. Was wir vor uns sehen, bleibt auch zum Schluss ein übel duftender Sumpf, aber ein solcher, über den einige Sonnenstrahlen glitzernd hinweggehuscht sind. Wir sagen still und erschüttert zum Schluss zu uns: Auch das sind unsere Brüder!

Es war erstaunlich, wie die russischen Studenten sich in diese Figuren aus den „Tiefen des Lebens“ mit Leib und Seele hineinzuversetzen wussten. Sie blieben künstlerisch hinter den Berufsschauspielern des „Kleinen Theaters“ nicht wesentlich zurück und übertrafen sie sogar durch die Echtheit im Spiel und in der Charakteristik. Sie schienen es gar nicht zu wissen, wie sehr sie mit ihrer natürlichen Veranlagung ins Schwarze getroffen hatten. Es war schaudervoll und rührend zugleich, wie diese Menschen in ihren Lumpen die Treppe herunterpolterten und einander mit heiseren Stimmen anschrien, wie sie sich auf den Bänken und Tischen räkelten und kratzten, verspotteten und beschimpften und sich gewissermaßen in ihrem Elend selbstgefällig bespiegelten.

Unter den Zuschauern befanden sich auch mehrere namhafte Persönlichkeiten aus dem „fernen Osten“ Russlands, die ihre Ferien zu einer Reise nach Deutschland benutzt hatten. Die erste Bekanntschaft, die ich unter ihnen machte, war ein Professor aus Tomsk, ein namhafter Gelehrter auf sozialpolitischem Gebiete, dem bei der jetzigen Strömung der Boden unter den Füßen zu heiß geworden war und der sich bei uns einen neuen Wirkungskreis suchte. Ein anderer war Lehrer am orientalischen Seminar in Wladiwostok und ein gründlicher Kenner deutschen Wesens.

Beide hatten die Reise nach Deutschland mit der sibirischen Bahn gemacht und erzählten nur Gutes von der Schnelligkeit, mit der sie die weite Strecke durcheilt hatten, und von der vorzüglichen Einrichtung der Züge. Aber beide irrten sich in Bezug auf die Zeit, die man von Mitteleuropa bis zum Stillen Ozean braucht, oder, richtiger gesagt, die Angaben, die sie machten, stimmten nicht mehr mit dem Fahrplan, wie er mittlerweile tatsächlich eingeführt war.

Umso zuverlässiger erwies sich unser Reichs-Kursbuch, das bei den Angaben für die russischen Bahnen in seiner Frühjahrsausgabe eine neue Rubrik eingeführt hatte. „Mandschuria-Dalny“ lautete verheißungsvoll die Überschrift, die auch noch die Namen Wladiwostok und Port Arthur enthielt und unter der in Klammern der Vorsicht halber zu lesen war: „Vom Tage der Betriebseröffnung an, voraussichtlich am 14. Juni 1903.“ Die Wirkung dieser Zeilen glich einer scharfen Beleuchtung, in welcher die gesamte Strecke der sibirischen Bahn bis zum Stillen Ozean plötzlich vor mir erschien. Der regelmäßige Verkehr stand also auf einem Gebiet fest, auf dem noch vor kurzem die Kriegsfurie getobt hatte und die Völker in wilder Leidenschaft aufeinandergeprallt waren. Bis auf Stunde und Minute war der Fahrplan für Stationen angegeben, die bisher entweder gar keine oder eine phantastisch verschwommene Vorstellung ergaben.

Das alte Reisefieber, das sich immer einzustellen pflegt, wenn es draußen grünt und sprießt, machte sich heftiger als jemals bei mir bemerkbar. Schon sah ich im Geist die lange Schlange der eisernen Waggons, wie sie, von der qualmenden Lokomotive gezogen, an den Hütten der Russen, Tungusen, Burjäten und Chinesen über reißende Ströme und einsame Steppen hinwegrollten. Schon glaubte ich die wackelnden Zöpfe der chinesischen Kulis zu erblicken, die das Wunder des elektrisch beleuchteten Eisenbahnzuges anstarrten, wenn er bei Nacht und Nebel auf wenige Minuten bei ihnen anhält, um dann mit den Passagieren, die neugierig auf die armseligen Lappen und bloßen Füße der gelben Burschen herabblicken, weiter und immer weiter zu rollen. Etwas, das so lange unfassbar war, schien damit in greifbare Nähe gerückt zu sein, und die Versuchung, in die plötzlich geschaffene Situation hineinzuspringen, ließ sich nicht länger zurückweisen.

Einen Sommerurlaub von zwei Monaten zu einer Reise an den Stillen Ozean zu benutzen, war allerdings ein Unternehmen, über das sich reden ließ. Ich hütete mich zunächst, mit der Sprache herauszurücken, weil ich an die glatte Ausführung der Idee zunächst selbst nicht glaubte. Offiziell wurde Irkutsk, höchstens der Baikalsee, als Ziel der Fahrt angegeben, und der übrige, natürlich noch interessantere Teil des Programms vorläufig in der Tiefe des Busens vergraben. Dreiunddreißig Tage auf der Eisenbahn und, wenn ich bis Tschifu und Schanghai wollte, noch fünf Tage auf dem Dampfschiff konnte man leichter zu erleben versprechen, als wirklich erleben, denn es stand fest, dass auch die Rückreise auf der sibirischen Bahn ausgeführt werden sollte. Aber das Thema, in wenigen Wochen durch zwei Drittel Europas sowie ganz Asien zu rollen und die riesige Verkehrseinrichtung gerade in dem Augenblick zu studieren, in dem sie bis zum vollen Betrieb fertiggestellt war, hatte auch für andere, wie ich mich überzeugen konnte, etwas Hypnotisierendes und phantastisch Aufregendes. Jeder musste sich sagen, dass für den Weltverkehr nunmehr eine neue Stunde geschlagen habe.

Sibirien 36 Karte auf der Sibirischen Bahn nach China

Sibirien 36 Karte auf der Sibirischen Bahn nach China

Sibirien 00 Auswanderer bei der unentgeltlich gelieferten Mahlzeit auf dem Bahnhof Kurgau

Sibirien 00 Auswanderer bei der unentgeltlich gelieferten Mahlzeit auf dem Bahnhof Kurgau

Sibirien 01 St. Petersbur. Winterpalais. Nevaseite

Sibirien 01 St. Petersbur. Winterpalais. Nevaseite

Sibirien 02 Eisbrecher Baikal

Sibirien 02 Eisbrecher Baikal

Sibirien 03 Jermak, der Eroberer Sibiriens - Nach dem Denkmal von Ankokolski

Sibirien 03 Jermak, der Eroberer Sibiriens - Nach dem Denkmal von Ankokolski

Sibirien 04 Lokomotive der sibirischen Bahn

Sibirien 04 Lokomotive der sibirischen Bahn

Sibirien 05 Unser Zug

Sibirien 05 Unser Zug

Sibirien 06 Ufa

Sibirien 06 Ufa

Sibirien 07 Kleine Station

Sibirien 07 Kleine Station

Sibirien 08 Brücke über den Jenissei

Sibirien 08 Brücke über den Jenissei

Sibirien 09 Brücke über den Tobol

Sibirien 09 Brücke über den Tobol

Sibirien 10 Stadt Kurgan

Sibirien 10 Stadt Kurgan

Sibirien 11 Tomsk

Sibirien 11 Tomsk

Sibirien 12 Tomsk. Universität

Sibirien 12 Tomsk. Universität

Sibirien 13 Das Ufer der Angara auf dem Weg zum Baikalsee

Sibirien 13 Das Ufer der Angara auf dem Weg zum Baikalsee

Sibirien 14 Am Angarafluss

Sibirien 14 Am Angarafluss

Sibirien 15 Station Baikal

Sibirien 15 Station Baikal

Sibirien 16 Auswanderer in  Baikal

Sibirien 16 Auswanderer in Baikal

Sibirien 17 Baikal am Baikalsee

Sibirien 17 Baikal am Baikalsee

Sibirien 18 Auf dem Baikalsee

Sibirien 18 Auf dem Baikalsee

Sibirien 19 Mukden

Sibirien 19 Mukden

Sibirien 20 Bei Mukden

Sibirien 20 Bei Mukden