II. Port Arthur

Der Dampfer, mit dem wir von Dalny nach Port Arthur fahren, bleibt in geringer Entfernung von der Küste, und die vier Stunden, die wir an Bord zubringen, vergehen uns ebenso schnell wie angenehm. Zunächst trägt der klare, sonnige Vormittag, der alles mit Licht und Farbe umgibt, dazu bei, uns in gute Laune zu versetzen.

Unter den Passagieren tauchen mehrere bekannte Gesichter auf, und es entwickelt sich schnell eine ungezwungene Unterhaltung über die neuen Eindrücke, die wir empfangen haben und alsbald in überraschender Weise vervollständigen sollen. In dem kleinen, aber behaglich eingerichteten Speisesalon hat der Kapitän für ein echt russisches Frühstück Sorge getragen, das sich von der lieblosen Abfütterung in den Hotels und Restaurants von Dalny in angenehmer Weise unterscheidet.


Es gibt eine richtige „Sakuska“ mit Schinken, Hering, Oliven, Salaten und dem unvermeidlichen Schnäpschen sowie eine Anzahl sauber und appetitlich zubereiteter Schüsseln.

Die Küste wird durch eine Reihe von Bergen gebildet, die schwach bewaldet sind und schroff zum Ufer abfallen. Unter ihnen erhebt sich der Samson zu der stattlichen Höhe von zweitausend Fuß. Er bleibt während der Fahrt längere Zeit hindurch sichtbar, verschwindet hierauf eine Weile, taucht dann aber in der Ferne zwischen breiten Felsenspalten als bläulich schimmernder Kegel wieder auf.

Von der Eisenbahn, die beide Städte miteinander verbindet, erblickt man nichts, da sich die Strecke auf der anderen Seite der Berge durchs Land hinzieht. Eine Gruppe russischer Beamter und Kaufleute nimmt mit ihren Damen das Frühstück auf dem Promenadendeck ein. Alles ist fröhlich und redselig wie bei einem Eroberungszuge in fremdes Land, das man bereits in der Tasche zu haben glaubt. Soll sich Dalny zu einem neuen Mittelpunkt des Handels entwickeln, zu einem russischen Schanghai, mit dem man das Weltmeer zu beherrschen hofft, so hat Port Arthur die Aufgabe, als starke Festung die junge Schöpfung zu schützen und im Fall eines Krieges den Feinden die Zähne zu zeigen. So greifen die Interessen der beiden Städte unmittelbar ineinander über, und wer in der einen zu tun hat, muss auch die andere im Auge behalten.

Die Namen von bekannten Offizieren, Beamten, Kaufleuten fliegen im Gespräch hin und her. Man rühmt und verurteilt die Dinge je nach dem Verhältnis, in dem man zu ihnen steht. Allerlei Gerüchte und Klatsch schießen umso üppiger ins Kraut, als die Zeitungen sich nur auf kümmerliche Nachrichten über das, was vorgefallen oder zu erwarten ist, beschränken.

Aber die ruhige Meerfahrt mit den romantischen Küstenbildern, die dabei an den Passagieren vorbeiziehen, nimmt bald ein Ende.
Noch bevor wir Port Arthur erreichen, drängen sich die Bilder rastloser menschlicher Tätigkeit an uns heran. Die ersten Kriegsschiffe werden am Horizont sichtbar und erinnern uns an die Bestimmung, welcher der Hafen dienen soll. Die Höhen an der Küste ragen immer schroffer empor, und wir erkennen schon von weitem, dass sie stark befestigt sind. Immer dickere Rauchwolken wirbeln aus den stählernen Meerkolossen hervor, deren Zahl, je mehr wir an den Hafen herankommen, beständig größer wird. Wir nähern uns noch immer mehr dem Ufer und können bereits jedes Kastell, Waffenlager sowie die Militärposten, die aufgestellt sind, genau unterscheiden. Unser Schiff steuert einem Berg entgegen, der zunächst als eine geschlossene Mauer erscheint, sich aber alsbald teilt und in der Mitte eine schmale Einfahrtstraße zeigt.

Zwischen hohen Bergkegeln, die von Festungswerken bedeckt sind, fahren wir ganz langsam in eine Bucht hinein. Alles greift zu den Operngläsern, um Einzelheiten auf dem Wasser und den Höhen zu unterscheiden. Namentlich die russischen Offiziere werden ganz kribblig vor Begeisterung über die Anlage dieser Küstenfestung, die sie uns auf einer Karte und durch Fingerzeige eingehend Erklären, um uns den Glauben beizubringen, dass hier, im äußersten Osten Asiens, ein uneinnehmbarer Konzentrationspunkt der russischen Macht geschaffen sei.

Die Bucht von Port Arthur, in die unser Schiff hineinfährt, hat ungefähr die Form eines Eies und ist, seitdem Russland von diesem Gebiete Besitz ergriffen hat, zum Schauplatz für eine kaum zu entwirrende und auf das Äußerste angespannte Tätigkeit und Unternehmungslust geworden.

Von den Höhen der Berge, die Böschungen hinunter bis zum Ufer des Hafens, und vor allem auf dem Wasser selbst erblickt man ein ameisenartiges Gewimmel von Menschen, Fuhrwerken, Maschinen, Schuppen, Lagerräumen und Schiffen, hört man das Rasseln von Ketten, das Dröhnen von Lasten, das Geschrei von unzähligen Menschen, die sich vorwärts und durcheinander drängen. Die Luft ist aus Nebel, Ruß und Wasserdampf zusammengeballt und verschmilzt mit der Umgebung zu einer einzigen schmutzigen Masse. Langsam arbeitet sich unser Dampfer zwischen den übrigen Schiffen bis zur Haltestelle vorwärts, während unzählige Kulis sich, laut rufend und mit den Armen um sich schlagend, auf Booten und Flößen um uns gruppieren.

Am Ufer sind mächtige Kohlenlager aufgeschüttet, neben denen sich Buden für die Arbeiter mit eingefallenen Dächern und zerbrochenen Fenstern erhebend Aus dem Schlamm und der Verfallenheit des Chinesentums sucht sich modernes Leben überall unter großen Anstrengungen emporzuarbeiten. Altes und Neues hängt vorläufig noch unorganisch miteinander zusammen. Man gewinnt keinen klaren Überblick, wie sich die Kräfte im Einzelnen verteilen und einsetzen, sondern ahnt nur das vorwärtsdrängende Werden, das die toten Schalen abwirft, um den lebendigen Kern herauszufinden.
Über die Landungsbrücke kommt man zu einer ungepflasterten Straße, wo man vor Staub und Schmutz nur schwer vorwärts gelangt und sich niemand findet, der Rede und Antwort stehen kann. Die Droschken sind alle besetzt, und auch die letzten Rickshaws jagen mit den braunen Jungen, die sie ziehen und schieben, an uns vorbei. Nachdem wir zwischen Wagen und Lastträgern, neben Löchern und Abstürzen eine Weile mehr gestolpert als gegangen sind, erkennen wir, dass sich in dieser Richtung die Chinesenstadt befindet. Wir aber wollen die neue Gründung der Russen kennen lernen und gehen, vor Hitze keuchend, den Weg wieder zurück. An der Landungsbrücke finden wir endlich eine mitleidige Seele, die uns auf die rechte Spur verhilft.

Wir kommen zu einer langen, hölzernen Brücke und werden dabei fast von einer eleganten Equipage überfahren, in welcher ein mit Orden geschmückter Offizier mit einer Dame sitzt, während zwei Kosaken ihm voransprengen. Wir lassen den Bahnhof, von dem die Züge nach Dalny abgehen, rechts liegen und schieben uns ermattet vorwärts, bis es uns endlich gelingt, einer unbesetzten Droschke habhaft zu werden. Wir lassen uns nach dem Hotel Nikobadze fahren, geben dort Handtasche und Überrock ab und erteilen dem Kutscher die Weisung, uns die Stadt zu zeigen.

Port Arthur sieht man auf einem schräg abfallenden Terrain, das an drei Seiten voll Bergen eingeschlossen ist und an der vierten mit einer langgestreckten Uferstraße die Bucht berührt, an zahllosen Stellen als Stadt aus der Erde herauswachsen.

Die Lage entfaltet einen nicht gewöhnlichen, malerischen Reiz, denn auf der gegenüberliegenden Seite der Bucht erheben sich aus breiten Taleinschnitten die Berge ebenfalls zu ansehnlicher Höhe. Soweit man um sich blicken kann, sind all diese Bergspitzen mit Forts und befestigten Lagern bedeckt. Der Kutscher macht uns mit unverkennbarem Selbstgefühl darauf aufmerksam, dass an einzelnen dieser Punkte bis zu elfhundert Mann zusammengezogen seien. Ob diese Angaben im Einzelnen stimmen, lässt sich natürlich nicht entscheiden. Sicher ist aber, dass bei dieser Gründung von Port Arthur alles in Waffen starrt, als ob eine große kriegerische Entscheidung bereits vor der Tür stehe. Innerhalb dieses Rahmens von Befestigungen, der sich in weitem Umkreis über die Berge hinzieht, gehen die Arbeiten zum Ausbau der Stadt in einem Tempo vor sich, bei dem man das Gefühl hat, als ob jeder ungenützte Tag einen schwer einzubringenden Verlust bedeute.

Was nicht befestigt werden konnte, wird abgetragen, um Platz und Material für Neubauten zu gewinnen. Ganze Straßenzüge bestehen nur aus Gerüsten, und neben den bereits fertiggestellten Häusern schießen die noch im Bau begriffenen wie Pilze aus der Erde. Neben einem Palais ziehen sich Gräben und Pfützen hin. Gefällig tritt aus diesem wüsten Durcheinander von Neugeschaffenem und Halbfertigem das Gebäude der Militärverwaltung hervor. Nicht weit davon hat sich ein Baumeister eine Villa im modernsten Sezessionsstil errichtet.

In imponierender Weise hat sich auch das Warenhaus von Kunst und Albers zur Geltung zu bringen gewusst.

Jeder, der sich im Osten von Sibirien aufgehalten hat, weiß, welchen guten Klang diese Firma für Einheimische und Fremde besitzt, und wieviel Anerkennung der Unternehmungsgeist verdient, aus dem sie vor vier Jahrzehnten hervorgegangen ist, um sich seitdem zu immer größerer Bedeutung zu entwickeln.

In Gegenden, wo die europäische Kultur die ersten Furchen zu ziehen begann, gelang es zwei Hamburger Kaufleuten, an der ostasiatischen Küste ein Geschäft zu begründen, das sich nicht damit begnügte, einzelne Bedarfsartikel zu führen, sondern alles zum Leben Notwendige zu einem Basar zusammenstellte und zum Verkauf anbot. Bei Kunst und Albers findet man schlechterdings alles, was man in der Häuslichkeit täglich braucht oder was zum unentbehrlichen Luxus gehört, und die feilgebotenen Artikel entsprechen vom einfachsten bis zum besten Gegenstände jeder nur denkbaren Preislage.

Die Firma übernimmt aber auch die Lieferung von Maschinen, den Transport von Waren in entfernte Gegenden, den Verkauf von Billets für die Dampfer sowie Bankgeschäfte und Versicherungen verschiedener Art. Die Firma unterhält ihre Zentrale in Wladiwostok, hat aber ihre Tätigkeit derartig erweitert, dass sie gegenwärtig Filialen in allen größeren. Städten Sibiriens und der Mandschurei besitzt.

Wir finden sie in Blagowjeschtschensk, Chabarowsk, Nikolajewsk am Amur, Dalny und nun auch in Port Arthur, wo sie gleichzeitig zwei mächtige Gebäude hat entstehen lassen.

Während das eine als Warenhaus dient, enthält das andere Wohnungen und Erholungsräume für die Angestellten der Firma, die darin volle Verpflegung sowie in einem Klub gesellschaftlichen Anschluss finden. Die frische Jugend, die sich in Sibirien eine Existenz schaffen will, besitzt in sich nicht immer den nötigen Halt, um nach getaner Arbeit öden und wüsten Vergnügungen fern zu bleiben, an denen sich viele aus Mangel an geistiger Anregung nur zu leicht betäuben. Umso rühmenswerter ist es, dass bei Kunst und Albers für die Angestellten auch in dieser Beziehung zweckmäßig gesorgt wird. Die Firma hält außerdem darauf, dass Fremde, selbst wenn sie ohne Empfehlungen nach Sibirien kommen, von ihren Filialen niemals vergeblich Rat und Unterstützung erbitten. Der jetzige Chef des Hauses, A. Datton, der russischer Kommerzienrat und deutscher Konsularagent ist, erfreut sich wegen seiner umsichtigen Geschäftsführung und seines liebenswürdigen persönlichen Auftretens allgemeiner Beliebtheit, selbst in den Kreisen, wo man es versucht hat, Geschäfte nach ähnlichen Grundsätzen ins Leben zu rufen.

Für die seltsamen Zustände, die gegenwärtig in Port Arthur herrschen, während der Hafen ausgebaut und die Stadt aus der Erde gestampft wird, ist es schwer, ein charakteristisches Bild zu finden. Neben moderner Eleganz, die gern an die Gewohnheiten großer Städte erinnern möchte, entdeckt man grenzenlos barbarische Zustände, wie in einer Wildnis. Auf dem Boulevard am Hafen erblickt man vornehme Equipagen, und in die Kissen des Coupés lehnen sich Damen zurück, die sich in ihrer Toilette und dem Schick ihres Auftretens nach dem Leben in europäischen Millionenstädten richten.

Wird man in die Klubs eingeführt, so würde es gegen den guten Ton verstoßen, wenn man bei einer Einladung zum Diner anders als im Frack erscheinen wollte.

Die Offiziere, Beamte und Kaufleute legen Wert darauf, auch in Äußerlichkeiten zu zeigen, dass sie leben und leben lassen. Das schnell Erworbene muss mit vollen Händen wieder ausgegeben werden, wenn man sich im gesellschaftlichen Leben behaupten und weiterkommen will.

Dabei müssen unternehmende Leute, die Geschäfte im großen Stil abschließen, sich oft mit elenden und schmutzigen Löchern begnügen, weil es überall ungeeigneten Wohnungen fehlt. Ein Fremder, der nicht mit Empfehlungen nach Port Arthur kommt, ist ernstlich von der Gefahr bedroht, sein Nachtquartier in einem unbeschreiblichen Loch aufzuschlagen, wenn er nicht auf der Straße liegen will.

Meine Freunde, die einen Tag vor mir dorthin gefahren waren und zum Unglück erst spät abends ankamen, wussten davon ein Lied zu erzählen. Sie hatten sich die Adresse eines Herrn ausgeschrieben, der ihnen ein Unterkommen besorgen wollte, waren aber der russischen Sprache nicht mächtig und daher außerstande, sich mit dem Kutscher zu verständigen. Einer von ihnen hatte sich außerdem bei der Reise auf der sibirischen Bahn zu einem wahren Pechvogel entwickelt und war infolgedessen beständig von der Sorge erfüllt, dass er von einer neuen unangenehmen Überraschung verfolgt werden könnte.

Er hatte unvorsichtigerweise seinen großen Reisekoffer nicht nach Moskau mitgenommen, sondern ihn als Eilgut, wie er meinte, frühzeitig genug, dorthin vorausgeschickt. Zum Unglück war die Sendung jedoch in seiner Heimat Ungarn infolge einer Verkehrsstockung auf der Eisenbahn aufgehalten worden und in Moskau noch nicht eingetroffen, als der sibirische Zug abging. Unterwegs war es trotz mehrere Eildepeschen nicht möglich festzustellen, wo sich der Koffer befand, ob er irgendwo liegen geblieben oder von dem darauf folgenden Expresszuge mitgenommen war. Weder in Irkutsk noch in Mandschurin, weder in Charbin noch auch in Dalny war eine Antwort eingetroffen, die unseren Freund aus dem quälenden Gefühl der Ungewissheit über den Verbleib seiner Habe hätte befreien können.

Auf einer Station allein zurückbleiben, um näheres abzuwarten, wollte er ebenfalls nicht, da er mit seinen Reisegefährten eine Fahrt um die Welt verabredet hatte. So tröstete er sich mit der Hoffnung, dass der Koffer hinter ihm herjagen und ihn vielleicht in Tientsin erreichen würde, wo der erste längere Aufenthalt genommen werden sollte. Inzwischen waren ihm während der sibirischen Reise allerlei Gegenstände, die man unterwegs ungern entbehrt, wie der Wiener sagt, „in Verstoß geraten“. Den Anfang machten sein Bädeker und seine Füllfeder, die schon vor dem Baikalsee auf Nimmerwiedersehen verschwanden. Als wir durch die Mandschurei fuhren und in später Abendstunde einen Spaziergang auf der Station machten, verlor er beim Bücken aus dem Reisejackett seine Brieftasche mit dreihundert Rubeln.

Das Schlimmste sollte ihm aber in Port Arthur begegnen, als er in der Nacht auf dem spärlich beleuchteten Dampfer seine Sachen zusammensuchte und die Kulis sich um ihn drängten, um sie ans Land zu schaffen. Bei dieser Gelegenheit kam er sogar um seine Handtasche, in denen wichtige Schriftstücke enthalten waren. Die Polizei wurde sofort in Bewegung gesetzt, aber natürlich ohne den geringsten Erfolg.

Hierzu kam, dass er mit seiner Reisegesellschaft erst nach langem Hin und Herfahren, als die Uhr bereits Mitternacht schlug, die Wohnung seines Gastfreundes erreichte. Sie bestand in nichts anderem als einem Schuppen, und die Stelle von Betten nahmen ein paar Matratzen ein. Diese mussten erst zusammengesucht werden, nachdem der Hauswirt seinen eigenen Sohn von seinem Lager aufgescheucht und ihn gebeten hatte, den fremden Gästen Platz zu machen. Sie schilderten später in komischer Verzweiflung, wie sie vor Hunger kaum Schlaf finden konnten, da sie als Mundvorrat weiter nichts als ein paar Stücke Schokolade bei sich führten.

Man könnte die Frage aufwerfen, weshalb die Russen in der Mandschurei unter so gewaltigen Opfern zwei Städte wie Dalny und Port Arthur gründen, während sie in Wladiwostok am Stillen Ozean bereits einen Kriegs- und Handelshafen besitzen und bis vor kurzem alles getan haben, um ihn zu lebenskräftiger Entwicklung zu bringen

Die „Beherrscherin des Ostens“, wie diese Stadt von den Russen mit so großem Stolz genannt wird, erstreckt sich über sieben Kilometer lang an den Abhängen von Bergen hin, die von der Nord und Westseite eine Bucht des japanischen Meeres, das „goldene Horn“, malerisch umgeben. Man hat nicht umsonst diese Bezeichnung für den Meerbusen gewählt, an dem die Stadt vor dreiundvierzig Jahren begründet wurde. Russland suchte aus seinem ungeheuren Ländergebiet einen Weg zum Weltverkehr auf dem Wasser und schuf sich, neuntausend Kilometer von Petersburg, an den Ufern des Stillen Ozeans einen Ersatz für den Weg zum Mittelmeer, der durch Konstantinopel versperrt ist.

Denkmal des Admirals Newelski in Wladiwostok.

Der Hafen von Wladiwostok ist über sechs Kilometer lang und über einen Kilometer breit. Er ist so tief und ruhig, dass auch die größten Schiffe dort einfahren und vor Anker gehen können. Erwartete man hier einerseits eine lebhafte Ein und Ausfuhr von Waren aller Nationen, so wurden anderseits die Höhen der Bucht mit Forts und Batterien befestigt, um bei kriegerischen Verwicklungen diesen Besitzstand verteidigen zu können.

Wie großen Hoffnungen man sich noch vor wenigen Jahren hingab, beweist das in Form einer Pyramide ausgeführte Denkmal, das dem Admiral Newelskij, dem Begründer der russischen Macht im östlichen Asien, 1897 errichtet wurde. Auf dem Monument liest man die Worte, die einst Kaiser Nikolai im Hinblick auf die Entwicklung der Dinge in Asien gebrauchte: „Wo einmal die russische Flagge aufgezogen ist, da soll sie nicht wieder sinken.“ In Wladiwostok sollte auch wissenschaftliches Leben erblühen. Im Jahre 1898 wurde das orientalische Seminar für das Erlernen der Sprachen, die in jenen Gegenden verbreitet sind, errichtet, während das Museum als Sammelstätte für alles dient, was im Gebiet des Amur erforscht und gefunden worden ist. Fünfunddreißig Jahre hindurch blieb die Stadt, die gegenwärtig 29.000 Einwohner, darunter viele Deutsche, zählt, Freihafen, und der Gedanke, der ihrer Begründung zugrunde lag, schien sich als ein in jeder Beziehung glücklicher zu erweisen.

Seitdem ist aber Wladiwostok in seiner das Meer beherrschenden Stellung immer mehr bedroht worden und in seiner Bedeutung zurückgegangen. Man erkannte, dass die klimatischen Verhältnisse, die dort bestehen, den Interessen des Friedens wie des Krieges keinen geringen Widerstand entgegensetzen. Die Stadt liegt, wie man sich auf der Landkarte leicht überzeugen kann, auf demselben Breitegrad wie Venedig. Trotzdem ist das Wetter dort rau und der Winter lang und streng. Vom Anfang Dezember bis Ende März ist die ganze Bucht mit Eis bedeckt.

Seit ungefähr zehn Jahren hat man sich allerdings mit Eisbrechern zu helfen gewusst, die wenigstens auf dem Wege vom japanischen Meer zur Stadt eine Fahrstraße für die Schiffe beständig offenhalten. Aber schon die Aufhebung des Freihafens beim Beginn des Jahres 1901 bedeutete für Wladiwostok einen schweren Schlag, und als die Fortsetzung der sibirischen Bahn durch die Mandschurei gebaut wurde, schien das Schicksal der Stadt besiegelt zu sein. Der Endpunkt des gewaltigen Schienenstranges, der Asien durchschneidet, wurde nicht dorthin, sondern plötzlich nach den Küsten des Gelben Meeres verlegt, und die Rolle, welche die Stadt so lange im Osten Asiens gespielt hatte, an Dalny und Port Arthur verteilt.

Der ganze Verkehr wurde vom Norden gewaltsam nach dem Süden abgelenkt, und damit ging Hand in Hand die Begründung der beiden Städte, die man für die Fortführung der erfolgreichen Politik Russlands für unentbehrlich hielt.

Den Abend bringen wir in Port Arthur auf der schönen großen Terrasse zu, in welche das Dach des Hotel Nikobadze umgewandelt ist. Man sitzt an kleinen Tischen unter aufgespannten Zelten, die gegen die vom Hafen herüberwehende Brise schützen, während wir uns gleichzeitig nach dem heißen Augusttage an der wohltuenden Kühlung in freier Luft erquicken. Von allen Seiten hört man den Ruf „Tschelowjäk!“ (Kellner) und die sich gleichbleibende Antwort „Sjeitschaß!“ (Sogleich!), was aber nicht hindert, dass man auf Speisen und Getränke unter Umständen eine halbe Stunde warten muss. Man sitzt in völlig internationaler Gesellschaft, und je später es wird, desto lustiger knallen die Pfropfen aus den Champagnerflaschen.

Vor uns liegen Stadt und Hafen in tiefem Dunkel, aus dem nur einzelne Lichter aufblitzen, aber der klare Himmel spendet uns mit seinem Sternenglanz die wirkungsvollste Beleuchtung. Allmählich gewöhnt sich das Auge daran, in der Umgebung bestimmte Umrisse zu erkennen, die im ersten Augenblick undeutlich verschwammen. Uns zur Linken, dort, wo die großen Kriegs- und Handelsschiffe liegen, qualmen dicke Rauchwolken empor. Auf der gegenüberliegenden Seite der Bucht, am Fuße der Berge, huschen elektrische Lichter hin und her. Wir hören lautes Hurrarufen und Kanonenschüsse von Nachtmanövern, die dort abgehalten werden. Außerdem soll soeben eine größere Abteilung Soldaten in das Innere des Landes abgeschickt worden sein, um mit chinesischen Arbeitern, die Hacke und Spaten weggeworfen und sich zusammengerottet hatten, ein deutliches Wort zu reden.

Jetzt erkennen wir auch auf den Höhen der Berge die Lichter von den Forts und können weit besser als am Tage unterscheiden, welcher gewaltige kriegerische Apparat hier überall, wohin auch das Auge schweift, aufgeboten worden ist. Man hat das Gefühl, in einem Feldlager zu sein, wo jeden Augenblick ein Alarmsignal ertönen und alles zu den Waffen rufen kann. Immer neue Gäste kommen vor das Hotel vorgefahren, zum Teil in Begleitung von Halbdamen, die den Ton der Unterhaltung noch leichter stimmen und die allgemeine Lustigkeit weiter steigern.

In die köstliche Sommernacht, die uns umgibt, tragen die Menschen eine seltsame gemischte Atmosphäre von Kultur und Barbarei, von Parfüm und Schmutz hinein. Man könnte meinen, nacheinander Champagner und Kwas zu trinken. Aber sowohl Port Arthur wie Dalny sind neugeborene Kinder, über welche ihre Väter mit sorgender Liebe wachen, von denen aber niemand mit Bestimmtheit sagen kann, wie sie sich in Zukunft entwickeln werden. Unbestreitbar bleibt nur, dass sich an beiden Punkten neues Leben mit fieberhaft schnellen Pulsschlägen bemerkbar macht, und dass von hier in kurzem alles zu einer Entscheidung darüber drängen dürfte, wem im Kampf um das ostasiatische Küstengebiet der Sieg zufallen soll.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Auf der sibirischen Bahn nach China