I. Dalny

Wer am vierzehnten Tage nach der Abfahrt von Moskau in früher Morgenstunde den Endpunkt der sibirischen Bahn in Dalny erreicht, hat eine Fülle origineller und beständig wechselnder Eindrücke in sich ausgenommen, alle nur denkbaren Unterschiede von Land und Leuten beobachtet und an dem frischen Leben, das aus der Erde sprießt, lebhaftes Interesse gewonnen.

Wie im Traum sind die Berge und Steppen, die Wälder, Flüsse und Seen, die Stationen, Städte, Niederlassungen und Fabriken, Volkstypen, wie Russen, Tungusen, Burjäten und Chinesen, in buntem Durcheinander an ihm vorbeigezogen. Wenn der Zug sich der Ostküste von Asien nähert und auf Dämmen breite Wasserflächen überschreitet, ruft der Gedanke an den Stillen Ozean eine neue Reihe romantischer Vorstellungen hervor, die bis nach Amerika hinüberreichen. Unwillkürlich erwartet man beim Verlassen des Coupés irgendein wirkungsvolles Schlussbild, das die empfangenen Eindrücke zusammenfassen und krönen könnte.


In dieser Beziehung erlebt der Reisende aber zunächst eine schwere Enttäuschung. Gerade der Endpunkt der sibirischen Bahn macht vorläufig einen ganz unfertigen Eindruck. Hätte der Kondukteur uns nicht daran erinnert, dass wir bereits in Dalny sind, so wären wir auf unseren Plätzen ruhig sitzen geblieben. Nirgends war ein Bahnhof oder eine sonstige Einrichtung zu erblicken, die an einen Weltverkehr erinnert.

Unser prächtiger Zug machte in einer breiten Schlucht, die aus dem lehmigen Boden ausgegraben wär, unter einem unansehnlichen Holzschuppen Halt. Mehrere Reihen von Geleisen und Wagen zogen sich zwischen der Böschung hin, hinter der die Stadt zunächst versteckt blieb. Als um die Mittagsstunde ein starker Regenguss hernieder fiel, verwandelte sich die ganze Station in einen Tümpel, und die Räder des Zuges standen bis zu den Achsen im Wasser. Wo die Geleise aufhörten, erblickte man eine hölzerne Brücke, die über die Schlucht hinwegführte.

Wir ließen sie rechts liegen und gingen geradezu über eine hohe Treppe zu der neuen, von den Russen gegründeten Stadt Dalny, die einen wichtigen Stützpunkt ihrer Macht im östlichen Asien bilden soll.

Wir schritten durch eine schmale Straße, die sich bis zum Mittelpunkt der Stadt hinzieht und aus lauter kleinen, massiv gebauten Häusern mit hübschen Dächern, Vorgärten und Umfassungsmauern besteht. Nirgends war ein menschliches Wesen zu sehen oder ein Laut zu hören. Ohne die Kulis, die unser Gepäck trugen, hätten wir glauben müssen, in einer ausgestorbenen Stadt angelangt zu sein. Unser Weg führte uns auf einen großen Platz zum Hotel Dalny, das uns als das beste in der Stadt empfohlen war und mit seiner großen Veranda in der Tat einladend wirkte. Aber trotz der Depesche, die wir am Abend vorher abgeschickt hatten, meldete sich in dem Gasthaus keine Seele, um uns Zimmer anzuweisen. Der Wirt schlief noch und der Portier war irgendwo unterwegs. Wir ließen unsere Sachen im Korridor abladen und harrten der Dinge, die kommen würden. Endlich gelang es uns, einen Boy in der Küche beim Messerputzen abzufassen, der die bestimmte Versicherung gab, dass in dem Hotel kein Zimmer frei sei.

Das wurde uns bald darauf auch von dem Portier bestätigt, der mit seinem langen, weißen Bart und grauem Schlafrock zunächst wie ein Gespenst einherschlich, dann aber, als er sich mit den Kulis herumprügelte, bewies, dass er ein Paar recht gesunde und kräftige Arme besitze. Er begann auf der Veranda die Vögel zu füttern, während wir betrübt berieten, wo wir ein Unterkommen finden könnten, und dabei immer ängstlich nach den Koffern schielten, die ohne Bewachung in einem Winkel des Korridors aufgeschichtet waren. Wo unsere Depesche geblieben war, wusste kein Mensch zu sagen. In gedrückter Stimmung schlürften wir unsern Tee, den wir nach langem Warten erhalten hatten, und blickten auf den Platz hinaus, auf dem ein Kutscher mit seinem Pferdchen angetrabt kam und sich in der Mitte aufstellte, während die Haustüren noch sämtlich verschlossen blieben.

Zum Glück wirkte eine von unseren Empfehlungen so unmittelbar, dass wir wenigstens unsere Koffer bei einem guten Freunde meiner Reisebegleiter unterbringen, die Sorge um ein Hotelzimmer hinausschieben und daran denken konnten, uns die Stadt anzusehen, die in Russland gegenwärtig in aller Munde ist und diese Beachtung im Wesentlichen auch wirklich verdient.

Wenn man durch die Straßen von Dalny fährt, wird man lebhaft an die Art erinnert, wie in Amerika Städte gegründet werden. Auch dort überlässt man es nicht dem Zufall, wie und wo Menschen zusammenströmen, um ein Gemeinwesen zu begründen, sondern lockt sie zu bestimmten Punkten hin, deren Wichtigkeit man für das weitere Aufblühen der Gegend erkannt hat. Straßen werden angelegt, Häuser erbaut, alle Vorkehrungen für Beleuchtung und Kanalisation getroffen, nicht für die wenigen Bewohner, die bereits vorhanden sind, sondern für die vielen, die erst kommen sollen.

Als der Plan gebildet war, die sibirische Bahn in südlicher Richtung durch die Mandschurei zu führen, wurde die Bucht im Gelben Meere ins Auge gefasst, um an einem eisfreien Hafen einen neuen Mittelpunkt für Handel und Verkehr zu schaffen, das Erworbene zu sichern und zu mehren. Das Ministerium Witte, das für den Ausbau der sibirischen Bahn bereits tief in den Staatssäckel gegriffen hatte, wendete wiederum Millionen auf, um aus dem Nichts eine Stadt zu schaffen und von Fern und Nah, aus der Heimat und der Fremde Kräfte heranzuziehen, die sie mit den modernen Errungenschaften der Technik versehen konnten.

Wie mit einem scharfen Messerschnitt drang die Eisenbahn in die Küstengegend vor, wo die Bewohner der allen Chinesenstadt sich gleichgültig und feindselig gegen jede Neuerung verhalten hatten.

Dalny.

Wie Kinder aus einem Baukasten Klötze auswählen, sie neben und aufeinandersetzen und im Spiel ihrer Phantasie überlegen, ob nach der Vorlage eine Festungsmauer, ein Turm oder ein Palast herzustellen sei, so wurden am Süllen Ozean im Laufe von drei Jahren ein paar hundert Häuser nach demselben Modell erbaut und zu Wohnungen eingerichtet, die man den Ingenieuren und Beamten zur Verfügung stellte.

Monumentale Regierungsgebäude, Kirchen, Warenhäuser entstanden zu einer Zeit, als noch kein Bedürfnis für sie vorhanden war, nur um den spärlichen Bewohnern das Gefühl beizubringen, dass sie sich in keiner von der Kultur verlassenen Gegend niedergelassen haben. Dalny wurde bei dem chinesischen Dorf Talienwan am Ufer der Viktoria-Bucht angelegt. Der Name der Stadt ist nach dem russischen Eigenschaftswort für „fern“, „weit“ gebildet worden, nachdem die Bezeichnung der „ferne Osten“, „Dalnij Wostok“, für die russischen Niederlassungen am Stillen Ozean bereits zu einer feststehenden Bezeichnung geworden war.

Unser erster Besuch galt den neuen Hafenanlagen, die von fieberhafter Tätigkeit zeugen und im größten Stil ausgeführt werden. Bei der Besichtigung der Elektrizitätswerke, die von der bekannten Firma Ganz & Co. in Budapest eingerichtet worden sind, erwies sich ein Vertreter dieser Firma, Oberingenieur Czuk, als ebenso sachverständiger wie gefälliger Führer.

Wir betraten die langgestreckten Gebäude und betrachteten die darin aufgestellten Maschinen, die, von Kulis bedient, mit ihren Rädern und Kurbeln in voller Tätigkeit waren. Die Werke liefern sowohl die Beleuchtung für die Stadt wie die Kraft für die Arbeiten in den Docks. Die Anlage der verschiedenen Gebäude und Schuppen wird von einem Schornstein beherrscht, der eine Höhe von sechzig Metern erreicht. Sowohl Witte wie der russische Kriegsminister Kuropatkin waren, als sie sich in diesem Jahre in Dalny aufhielten, von der Vortrefflichkeit der hier geschaffenen Einrichtungen überrascht und drückten den Ingenieuren ihre lebhafte Anerkennung über das aus, was in so kurzer Zeit erreicht worden war. Ein großes Trockendock naht sich seiner Vollendung, und zwei lange Molen ziehen sich weit ins Meer hinaus, auf dem wir in der Ferne mehrere japanische Kriegsschiffe erblickten. Sie hatten in den letzten Tagen eifrig Vermessungen vorgenommen und dadurch allerlei Gerüchte über die kriegerischen Vorbereitungen des Inselvolkes hervorgerufen, dessen Haltung Russland gegenüber von Jahr zu Jahr immer herausfordernder wird. Mächtige eiserne Schuppen waren bereits errichtet, und unaufhörlich wurden Waren hin und hergeschafft. Ein ganzes Heer von Kulis war gedungen, um die Erde auszustechen und die Ufer zu befestigen. Die Bucht wird durch eine Reihe abgestumpfter Bergkegel begrenzt, die mit der Umgebung des Baikalsees eine leichte Ähnlichkeit haben, nur dass sie niedriger erscheinen und weniger schroff zum Wasserspiegel abfallen.

Der Hauptteil der Stadt gruppiert sich um den Nikolaiplatz, von dem zehn Straßen strahlenförmig ausgehen. Durch die Verbindungen, die zwischen ihnen geschaffen sind, erhält der Stadtplan eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Netz einer Spinne. In der Mitte des Platzes erhebt sich an hochgelegener Stelle eine russische Kirche. Von den Gartenanlagen, die sie umgeben, hat man einen hübschen Blick auf einen anderen Teil des Hafens, dessen Bucht wellenförmig gegliedert ist. In der Mitte der Kirche stehen sich das Hotel Dalny, das Stadthaus und die Wohnung des Hauptingenieurs Sacharow gegenüber. Von diesem rührt der ganze Bebauungsplan für Dalny her, und durch seine Hand sind die Mittel gegangen, die für das Entstehen der Stadt aufgewendet wurden.

Sacharow lebt und fühlt sich dort wie ein kleiner Fürst, und seine Wohnung ist wie ein Palais mit allem nur denkbaren Komfort für seine und seiner Familie Bequemlichkeit wie für den Empfang von Gästen eingerichtet. Eine echt russische „breite Natur“, hat er es verstanden, sich nicht nur in seiner amtlichen Stellung, sondern auch durch persönlich empfehlenswerte Eigenschaften zum Mittelpunkt der Gesellschaft in der jungen Stadt zu machen. Die Feste, die er veranstaltet, dauern oft so lange, dass man ihn vor zwölf Uhr vormittags in seiner Ruhe nicht stören darf. Aber dann ist er für jedermann zu sprechen und voll von Ideen für die weitere Entwicklung seiner Schöpfung, auf welche die Augen von ganz Russland gerichtet sind.

Das Gebäude des Polizeimeisters, die Schule, das Krankenhaus, Warenhäuser, wie das von Kunst und Albers, und die Wohnungen der Ingenieure reihen sich daran. Obwohl sich der rote Ziegelbau bei all diesen Villen und Wohnhäusern wiederholt, die von einer mannshohen steinernen Mauer eingefasst sind, lässt sich doch nicht leugnen, dass das Bild der Stadt ein freundliches ist und an vielen Stellen hübsche perspektivische Wirkungen aufweist. Die gepflasterten Straßen, die breiten Bürgersteige und die Durchblicke, die man hat, lassen überall den Sinn für Zweckmäßigkeit und Ordnung erkennen. Während des Tages kann man allerdings minutenlang spazieren gehen, ohne einer Menschenseele zu begegnen. Auch mit der Sicherheit der Straßen ist es in der Nacht trotz der elektrischen Beleuchtung noch nicht sonderlich bestellt.

Die Wächter müssen durch klappernde Geräusche mit zwei Holzpflöcken zu erkennen geben, dass sie nicht eingeschlafen sind. Die böse Welt behauptet dagegen, dass die Diebe dadurch nur auf die Stellen aufmerksam gemacht werden, wo niemand aufpasst und sie ihrem Handwerk ungestört nachgehen können.

Während wir im Hotel Dalny unser zweites Frühstück einnahmen, strömte der Regen in solchen Massen hernieder, dass die weitere Besichtigung der Stadt vorläufig eingestellt werden musste.

Umso größer erschien uns die Sorge, wo unsere Reisegesellschaft mit ihren Koffern die Nacht zubringen sollte, da nirgends, soweit wir auch Umfrage hielten, ein Zimmer frei war. Unsere letzte Hoffnung, in einem Privathotel unterzukommen, das für durchreisende Beamte eingerichtet worden ist, scheiterte ebenfalls, da alle Räume darin besetzt waren. Es wurden nun die verschiedensten Pläne aufgeworfen, umgestoßen und wieder ausgenommen.

Drei von unseren Freunden erklärten, dass sie unter solchen Umständen sofort nach Port Arthur weiterfahren wollten. Aber sie erfuhren, dass die Hotelverhältnisse dort noch viel ungünstiger als in Dalny beschaffen seien. Außerdem wurde uns mitgeteilt, dass die Eisenbahnverbindung zwischen den beiden Städten auf mehrere Tage unterbrochen sei. Infolge des heftigen Regens hätten die steigenden Fluten einen Brückenpfeiler eingerissen, der erst wieder ausgebessert werden müsse.

Nun besteht allerdings an den meisten Wochentagen auch eine Dampferverbindung zwischen Dalny und Port Arthur, aber weder durch telefonische Anfrage noch auf andere Weise ließ es sich feststellen, ob und wann ein Schiff dorthin abgeht. Deutsche und russische Kaufleute gesellten sich zu uns und trösteten uns damit, dass man sich in solchen Fällen mit Geduld wappnen und dem Zufall vertrauen müsse.

Nach zwei Stunden klärte sich das Wetter auf und wir konnten die Besichtigung der Stadt fortsetzen. Wir kamen durch einen hübschen Park, der ebenfalls erst vor kurzem angelegt war und auf hügeligem Terrain eine Reihe angenehmer Spaziergänge sowie die Anfänge eines zoologischen Gartens enthält. Wir begaben uns dann über eine Holzbrücke zur Chinesenstadt und blickten in die Schlucht hinab, wo unser sibirischer Zug von mehreren Reihen Güterwaggons umgeben war.

In der unmittelbaren Nähe der Brücke soll ein großer Bahnhof errichtet werden, der schon längst ein unentbehrliches Bedürfnis ist. Das Modell, das wir zu sehen bekamen, lässt darauf schließen, dass man an die Ausführung eines Gebäudes mit großen Einfahrtshallen, Wartesälen und Gepäckräumen gehen will, wie man es sonst nur in größeren Städten findet. Auch daraus lässt sich erkennen, dass man eine gewaltige Steigerung im Verkehr auf dieser Strecke erwartet und ihr in jeder Weise rechtzeitig Rechnung tragen will.

Die Chinesenstadt machte uns mit einer Häufung von Unsauberkeit bekannt, wie wir sie kaum für möglich gehalten haben. Alle Buden waren geöffnet, und man konnte die Leute überall bei ihrer Arbeit und beim geschäftlichen Verkehr beobachten.

Der Barbier übte sein Handwerk sogar auf der Straße aus, indem er den Kopf seines langzöpfigen Kunden in die Waschschüssel tauchte und ihn mit Seife und Wasser, dann mit Kamm und Bürste tüchtig bearbeitete. Eine originelle Szene konnten wir im Laden einer Pfandleiherin beobachten, wo eine Chinesin eine keineswegs einwandfreie Bettdecke nach langen Unterhandlungen für fünfundsiebzig Kopeken versetzte.

Der Schmutz, der überall herrschte, hatte namentlich in den Bäckerläden und Garküchen, an denen wir vorbeikamen, etwas Abschreckendes, und der Geruch von angebranntem Fett stieg uns so widerwärtig in die Nase, dass wir die Zigarette im Munde überhaupt nicht mehr ausgehen ließen.

Bei der Rückkehr ins Hotel wurden wir durch die frohe Botschaft überrascht, dass infolge der plötzlichen Abreise eines Gastes nun doch ein Zimmer frei geworden sei. Gute Menschen, die von unserer Not gehört hatten, waren übrigens in ihrem Eifer zu weit gegangen und in der ganzen Stadt herumgelaufen, um uns zu helfen. Dabei wurden schließlich so viel Zimmer, wenn auch wenig empfehlenswerter Art, aufgetrieben, dass manche von uns drei zur Verfügung hatten und in Verlegenheit gerieten, wie sie den plötzlichen Überfluss nun wieder abschieben sollten. Ich entschloss mich, im Hotel Dalny zu bleiben, das keineswegs ein Ideal von Reinlichkeit darstellt, aber von seiner offenen Terrasse einen Ausblick auf den schönsten Teil der Stadt bietet und namentlich am Abend die Offiziere, Kaufleute und Ingenieure, die auf der sibirischen Bahn oder nach Port Arthur reisen wollen, bis in die späte Nacht zu fröhlicher Geselligkeit vereinigt.

Der folgende Tag war ein Sonntag. Wir hatten vor dem zweiten Frühstück ein Zusammentreffen im Jachtklub verabredet. Darunter ist ein kleines, freundliches Lokal zu verstehen, das unmittelbar hinter dem Hotel Dalny liegt und von diesem nur durch einen Garten getrennt ist. Es besteht aus einer großen Veranda, die sich, hinter Blumen versteckt, sehr einladend und lauschig ausnimmt, einem Saal, in dem sich ein Büfett befindet, und einem höher gelegenen Raum, der sich als Bühne benutzen lässt, für gewöhnlich aber als Lesezimmer verwendet wird. Die Mitglieder des Klubs bestehen aus den verschiedensten Elementen, aber es scheint, dass die Deutschen oder wenigstens die deutsch Sprechenden und Verstehenden darin überwiegen. Man trifft sich dort täglich an der von Chinesen bedienten Bar, nimmt eine Erfrischung zu sich und unterhält sich über die Tagesereignisse von fern und nah. Gleichzeitig dient der Klub aber auch als eine Art Börse, wo sich Angebot und Nachfrage begegnen, die Kreditverhältnisse erörtert und geschäftliche Fragen aller Art besprochen werden.

Nach Tisch trifft man sich dann wieder und vereinigt sich zu einzelnen Gruppen, um eine Partie Karten oder Billard zu spielen. Der Fremde trifft hier Persönlichkeiten aus allen Teilen Deutschlands, meistens jüngere Leute, die von einem romantischen Trieb nach Russland gelockt wurden, nach Sibirien und immer weiter nach dem Osten kamen, um endlich am Stillen Ozean ihr Glück zu versuchen.

Einige von ihnen sind voll Vertrauen, dass es ihnen im Lauf der Zeit gelingen werde, sich eine Lebensstellung zu schaffen und mit dem, was sie erworben und erfahren haben, weiter zu betätigen. Andere betrachten ihr Los als eine Verbannung und werden schon melancholisch, wenn man sie an die Heimat erinnert oder gar das Wort „Berlin“ ausspricht.

Dennoch herrscht in diesen Kreisen ein unverkennbar frischer Geist und wer Kraft und Geschick besitzt, mit seinem Lebensschiff auf den Wellen dieser jugendlich unruhigen, aber verheißungsvollen Entwicklung zu schwimmen, braucht nicht zu verzagen. Der schöne Sonntag hatte auch die holde Weiblichkeit aus den Häusern gelockt, und die Damen zeigten sich in ihren leichten Sommertoiletten zu Wagen und Pferd, auch wenn sie auf dem Zweirad an der Veranda vorbeieilten, von einer so liebenswürdigen Seite, dass man in keiner Weise den Eindruck kleinstädtischer Verhältnisse empfing. Neben dem Stadtpark existiert in Dalny auch noch ein Stadtgarten, der aus frisch gepflanzten Bäumen und Beeten nur eben erst angelegt ist. In dem Musikpavillon spielt am Nachmittag eine Kapelle, und was sehen oder gesehen werden will, findet sich hier zum Spaziergang ein.

Welche Rolle das deutsche Element in Dalny spielt, habe ich mehr als einmal erfahren, niemals aber deutlicher als in dem gemütlichen Heim des Ingenieurs Czerwinski, dessen Frau sich als eine geborene Magdeburgern zu erkennen gab und ihre Wohnung, soweit es möglich war, ganz und gär im deutschen Geschmack eingerichtet hatte. Dies Haus zeichnete sich auch dadurch vor allen anderen Wohnungen aus, dass es eine richtige deutsche Laube besaß, in der man, durch die Mauer gegen Staub und durch die herabhängenden Zweige gegen Hitze geschützt, bei einem erfrischenden Labetrunk ganz vergessen konnte, eine so unendliche Strecke von der Heimat entfernt zu sein.

Die chinesische Amme unterschied sich in ihrem Äußern freilich wesentlich von ihren europäischen Genossinnen, aber an Geduld und Zärtlichkeit, die sie dem erst vor kurzem eingetroffenen Liebling des Hauses zuteilwerden ließ, blieb sie hinter ihnen in keiner Weise zurück. Der Koch aus dem Reich der Mitte rückte allerdings mit einer unangenehmen Nachricht für die Hausfrau heraus, indem er erklärte, dass er morgen den Dienst verlassen müsse. Er wiederholte unter Tränen in dem Kauderwelsch, das sich die dortigen Dienstboten im Verkehr mit den Europäern angewöhnt haben, dass „Vater kaput“, d. h. gestorben und „Mutter ganz futsch“, d. h. verzweifelt sei, weshalb er durchaus nach Hause zurückkehren müsse.

Umso anmutiger und gemütlicher erschien uns dieses Heim, als die Hausfrau sich, dadurch in keiner Weise um ihren guten Humor bringen ließ, sich eine Schürze vorband und im Handumdrehen selbst für die Gaben der Küche und des Kellers sorgte. Die Zeit verging uns in der Laube so schnell, dass bereits alle Sterne am Himmel funkelten und der Wächter seine klappernde Musik ausführte, als wir uns auf den Heimweg machten.

Ein Teil unserer Gesellschaft war bereits am vorausgegangenen Tage bei Sturm und Regen in einem unansehnlichen Schiff nach Port Arthur abgefahren. Nun beschlossen wir, diesem Beispiel ebenfalls zu folgen und uns zu diesem Zweck an Bord des russischen Dampfers „Rowik“ zu begeben.

Aber es war wiederum unmöglich, bestimmte Angaben über die Abfahrtzeit zu erhalten. Auf gut Glück fuhren wir in einer Droschke auf holprigem Wege und durch aufgeweichtes Erdreich dem Hafen entgegen. Unterwegs konnte man wieder beobachten, welche Massen chinesischer Arbeiter in Dalny überall angestellt sind, um die Bauten in der Stadt und im Hafen so schnell als möglich zu vollenden. Wir erblickten sie dort in ganzen Scharen, wie sie unter lautem Geschrei, um ihre Kräfte gegenseitig anzuspornen, einen Wagen beladen, Lasten an Stricken herbeischleppten, Winden zogen oder bei den Erdarbeiten beschäftigt waren.

Wie in der Mandschurei bei dem Bau der sibirischen Eisenbahn, lassen sich auch bei Städtegründungen wie in Dalny und Port Arthur die chinesischen Kulis gar nicht entbehren. Sie sind kräftig gebaut, willig und so anspruchslos, dass sie außer dem Topf Reis, den sie erhalten, von den Unternehmern kaum höher als mit zwanzig oder fünfundzwanzig Pfennigen nach unserem Gelde für den Tag bezahlt werden.

Handelt es sich um andere Hilfeleistungen, so können die Dienstfertigkeit und Unwissenheit dieser Burschen die Reisenden allerdings zuweilen zur Verzweiflung bringen. Als wir etwa zehn Minuten vor der Anlegestelle des Dampfers unsere Droschke verließen und zu Fuß weitergingen, um die Pferde auf dem schlechten Wege nicht zu schinden, stürzte sich gleichzeitig ein volles Dutzend dieser braunen Kerle auf unsere Koffer. Wie die Besessenen packten immer zwei bis drei dasselbe Gepäckstück an den Handgriffen, um es sich gegenseitig zu entreißen, so dass wir fürchteten, unsere Reiseausrüstung in lauter Fetzen verwandelt zu sehen. Kräftige Zurufe, Ermahnungen und Drohungen nützten nicht das mindeste, und das Geraufe nahm einen immer tolleren Charakter an, bis der Kutscher mit der Peitsche wie in einen Haufen bissiger Hunde hineinschlug und uns auf diese Weise vor weiteren Zudringlichkeiten und Belästigungen schützte.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Auf der sibirischen Bahn nach China