Tschifu

Fast täglich gehen Dampfer von Port Arthur in südlicher Richtung nach der europäischen Niederlassung Tschifu am Eingang des Golfes von Petschili ab. Die Fahrt dauert nur eine Nacht, und wer gleich beim Betreten des Schiffes sich in seine Kajüte zurückzieht, wacht am nächsten Morgen wie in einer anderen Welt auf. Interessanter ist es jedoch, nicht zu zeitig schlafen zu gehen und möglichst früh wieder aufzustehen, damit sich dieser Übergang allmählich vollzieht. Das Schiff ist im Zwischendeck mit Kulis vollgepackt, die sich in allen Ecken und in den seltsamsten Stellungen ihr Lager zurechtmachen, während die Maschine zu arbeiten anfängt.

Port Arthur verschwindet mit seinem Lärm und Schmutz als dunkle Masse, aus der am Ufer und auf den Höhen nur vereinzelte Lichter aufflimmern, unseren Blicken. Die Nacht ist warm, aber nicht schwül, und lockt, noch ein paar Stunden auf Deck zuzubringen und das Spiel der Wellen zu beobachten, über welche der Mond einen breiten Lichtstreifen ausgeworfen hat.


Über uns tanzen die Sterne und scheinen uns zu necken, wenn sich aus dem Schwärm der Meteoriten, der sich im August der Erde nähert, ein Funken löst und durch die Luft fliegt. Während wir uns um einen Tisch gruppieren, fängt ein Kenner Italiens an, von Neapel zu schwärmen und den Eindruck dieser Nacht mit dem zu vergleichen, was er an der Küste des Mittelländischen Meeres empfunden hat. Wie gerufen gesellt sich der erste Offizier des Schiffes zu uns, ergreift von der Bank eine Mandoline und singt, indem er die Saiten berührt, ein italienisches Volkslied mit frischer Stimme und ungekünsteltem Vortrag. Der Zauber des Landes, wo die Goldorangen glühen, wird auch in Ostasien mit unwiderstehlicher Kraft empfunden.

Am nächsten Morgen liegt noch alles auf dem Deck, zwischen Schiffsgerätschaften, neben den Treppen und wo sonst gerade Platz ist, in tiefem Schlaf. Auch die chinesischen Stewards haben sich von ihrem Lager noch nicht erhoben, und wir müssen lange warten, bis der Frühstückstisch gedeckt wird.

Inzwischen hat sich der Dampfer bereits der Küste genähert, und wir sind von einer Reihe von „Sampans“, chinesischen Ruderbooten, umgeben, die uns ans Land bringen sollen. Es ist nicht leicht, vom Fallreep in diese Fahrzeuge einzusteigen, die zwar fest, aber unglaublich klobig und schwerfällig gebaut sind. Man muss sich an einem der Kulis festhalten, um zwischen den Sitzbrettern nicht gleich in die Tiefe zu stürzen, und ihm beim Aussteigen womöglich auf den Rücken klettern.

Auf einer Mauer lesen wir den Namen des „Hotel Beach“, beladen ein paar Jungen, die außer einem Schurzfell nichts anhaben, mit unseren Sachen und verlangen von ihnen, dass sie uns dorthin bringen. Natürlich wissen die Bengel nicht Bescheid oder haben uns nicht verstanden. Wir fragen also lieber noch einmal auf sauberen Straßen, zwischen freundlichen Villen und Häusern nach dem Weg zu dem Hotel, das schmuck und einladend aussieht und mit einer langen Gartenterrasse sich zum Meer erstreckt.

Im Fremdenbuch begegnen wir Gasten aus Deutschland, Frankreich, England und Amerika, und aus unserem Zimmer sowie im Speisesaal, wo wir unser Frühstück einnehmen, fühlen wir uns schnell wie zu Hause.

Tschifu hat eine bevorzugte Lage vor anderen „Settlements“, denn eine Landzunge, die sich im Westen und Norden schützend um den Ort ausbreitet, sowie eine Inselgruppe bilden einen vortrefflichen Hafen, der das ganze Jahr hindurch offenbleibt. Baumwollwaren, Zucker, Papier, Metalle bilden wichtige Artikel für die Einfuhr, Seidenwaren und Strohgeflechte solche für die Ausfuhr.

Gleich nach dem Frühstück meldet sich im Hotel ein Schneider und fragt an, ob wir uns nicht bei ihm einen Tropenanzug bestellen wollen, den er innerhalb weniger Stunden liefern könne. Alles läuft in leichten, weißen Stoffen umher. Die Damen lassen den aufgespannten Sonnenschirm nicht mehr aus der Hand und suchen für ihre Spaziergänge jeden Streifen Schatten auszunützen. Die Herren schützen sich gegen die sengende Glut durch den breitkrämpigen, gewölbten Hut, der im Innern eine doppelte Form hat und mit dem hohlen Luftraum die Sonnenstrahlen aufsaugt und dadurch unschädlich macht. Nicht jeder von uns konnte in Tschifu einen passenden Hut dieser Art finden, so dass man sich in solchen Fällen mit dem aufgespannten Regenschirm begnügen musste.

Mit der Hitze im Hochsommer lässt sich jedoch in solchen Gegenden wie Tschifu nicht spaßen, und wer es dennoch tut, muss für den Leichtsinn oft schwer büßen. Man merkt es vielleicht im ersten Augenblick gar nicht. wie die Glut den Kopf benimmt, bis sich Plötzlich ein Ohnmachtsanfall und alle Kennzeichen des Hitzschlages einstellen.

Einem solchen fiel das vierjährige Töchterchen des russischen Postmeisters, das ohne Kopfbedeckung am Strande gespielt hatte, trotz liebevoller Pflege durch die Eltern bei sich beständig steigerndem Fieber zum Opfer. Wir hatten die Kleine noch kurz vorher in ihrer reizenden Fröhlichkeit beobachtet und waren umso trauriger, als wir hörten, wie grausam schnell ihr der Tod das so munter brennende Lebenslicht ausgeblasen habe.

Wir ziehen daraus die Lehre, alle größeren Anstrengungen zu vermeiden und vor allem im Essen und Trinken vorsichtig zu sein. Selbst um die American Bar, wo eine ganze Batterie kühlender Getränke aufgestellt ist, gehen wir lieber vorsichtig herum.

Können wir trotzdem der Versuchung nicht widerstehen, so prüft der „Boy“ unseren mexikanischen Silberdollar erst durch drei oder viermaliges Aufschlagen auf den Marmortisch, bevor er sich als befriedigt erklärt. Die beste Kühlung bringt das Bad, das unmittelbar vor der Terrasse des Hotels liegt und dessen Gästen zur freien Benutzung zur Verfügung steht. Aber bei denen, die auf der sibirischen Bahn über Dalny und Port Arthur hierher gelangt sind, macht sich die Reaktion des Körpers und der Seele in einer Ermüdung geltend, die zwar nicht unangenehm wirkt, aber jeden, selbst den geringfügigsten Entschluss als eine wichtige und wohl zu überlegende Sache erscheinen lässt.
Zwanzig Schritte vom Hotel befindet sich das hübsch eingerichtete Kaufhaus von Sietas u. Co., wo man sich alles, was man auf der Reise ungern entbehrt, in guter Ausführung und zu angemessenen Preisen verschaffen kann. Aber der Weg dorthin erscheint fast wie eine Strapaze, der man sich nicht unterziehen will. Wer sich aufrafft, ein Dutzend illustrierter Postkarten zu adressieren und mit seiner Unterschrift zu versehen, wird bereits wegen seiner Tatenlust angestaunt.

Es ist aber auch zu verlockend, sich auf der Terrasse in seinem Sessel ruhig auszustrecken und in süßem Nichtstun auf das blaue Meer hinauszublicken.

Uns zur Linken zieht sich das Ufer mit steilen, grünbewaldeten Höhen hin, und zwischen reizend verteilten Landhäusern ragt ein altes, chinesisches Kastell empor, das ehemals als Beobachtungsposten gegen japanische Überfälle diente. Auf dem Meer liegt bereits seit Wochen ein amerikanisches Geschwader, und die Kriegsschiffe glitzern mit ihren weißen Leibern und Schornsteinen prächtig im Sonnenlicht. Eben kommt der Kommandant mit einer Barkasse angefahren und lässt sich an dem flachen Ufer durch zwei Kulis eine Strecke durchs Wasser tragen. Am Horizont zieht sich ein langer Landstreifen hin, über dem wir mit müden Augen die vorbeieilenden, weißschimmernden Wolken beobachten.

Während die Sonne hoch am Himmel steht und kein Lüftchen sich rührt, die Menschen sich entweder bei geöffneten Türen und Fenstern in ihrem Hotelzimmer aushalten oder unter großen Leinwandschirmen auf der Terrasse am Meere sitzen, scheint die Mittagsglut auf eine drollige Gesellschaft von Lebewesen, die sich auf Bäumen und Büschen sesshaft gemacht hat, eine ganz andere Wirkung hervorzubringen. Sie haben sich auf den frischen Trieben der Zweige niedergelassen und mit dem Schnabel an dem Saft vollgesogen. Sie find dabei so guter Laune geworden, dass wie fröhliche Zecher plötzlich mit lauter Stimme zu singen anfangen. Die Zikaden, die in Tschifu täglich mehrere Stunden lang ein Konzert veranstalteten, sind in ihrer musikalischen Veranlagung anders geartet wie ihre nordischen Schwestern und blicken vielleicht auf diese wie Künstler auf Dilettanten hochmütig herab. Die Singzirpen in China dürften derselben Gattung angehören, die schon den Alten bekannt war und von griechischen und römischen Dichtern besungen wurde. Anakreon nannte sie in einer seiner Oden des „Sommers holde Boten“ und fand, dass sie mit ihrer klaren Stimme „leidenlos ohne Blut im Fleische schier den Göttern ähnlich“ seien.

Anderer Meinung war Vergil, der ihre Töne „gellend“ und als eine Störung des Naturfriedens empfand. Man kann von diesen Insekten aber noch eine andere Ausfassung haben und in ihnen richtige Komiker erblicken, die uns von allzu großer Sentimentalität und Schwärmerei befreien und an die Eitelkeit alles irdischen Tuns und Lassens erinnern.

Die Zikaden sind schon insofern Humoristen, als sie, wie bereits Älian bemerkte, zu ihren Konzertvorträgen nicht den Mund, sondern die Hüften gebrauchen und sich dadurch von allen anderen Musikanten der Welt unterscheiden. Brehm gibt in seinem „Tierleben“ eine ausführliche Beschreibung des Instruments, auf dem sie spielen. Es besteht aus zwei Trommeln, die sich am Hinterbrustbein befinden, und aus Stimmbändern, die durch eingepresste Luft in tönende Schwingungen versetzt werden. Das Geräusch, das die Tiere auf diese Weise hervorbringen, hat wenig mit der stillen, harmlosen Musik unserer Heimchen zu tun, sondern ähnelt mehr dem Laut einer Kinderknarre oder eines Schleifsteins. Es entwickelt sich außerdem aus dem sanften Präludium eines auf und abschwebenden Schnurrens immer mehr zu einem Fortissimo des Klapperns, das plötzlich, wenn den Musikern die Lust ausgeht, wieder abbricht. Die ganze Gesellschaft dieser Zirpen scheint unter der Leitung eines Kapellmeisters zu stehen, der das Zeichen zum Anfang gibt, die Musikanten zu immer größerer Kraftentfaltung anfeuert und das Ganze in einem effektvollen Schlusssatz ausklingen lässt.

Es liegt in diesen Zirp- und Knarr-Vorträgen eine unsagbare Wichtigtuerei und Aufdringlichkeit, um nicht zu sagen Marktschreierei. Sollte man annehmen, dass die Tierchen sich dieses vorlaute Wesen, das um jeden Preis die Aufmerksamkeit auf sich lenken will, im Verkehr mit den Menschen angewöhnt haben? Wahrscheinlich sind auch die Zikaden der Meinung, dass die Welt nur ihretwegen entstanden sei. Sie suchen alle Zweifel an ihrer Daseinsberechtigung dadurch zu zerstreuen, dass sie in ihrem grünen Versteck einen für ihre Größenverhältnisse kolossalen Lärm veranstalten, der wegen seiner Unschädlichkeit spaßig wirkt, denn jedermann dürfte mit Mephistopheles sagen „Es krabbelt wohl mir um die Ohren, allein zum Herzen dringt es nicht.“

Die chinesischen Jungen fangen die Zikaden gerade so wie unsere Knaben die Heuschrecken und bieten sie in Kästchen, in denen sie zu lebenslänglicher Gefangenschaft verurteilt sind, zum Kauf an, so dass man in der Lage ist, sich aus ihnen zur Verscheuchung müßiger oder trüber Stunden eine Art Hauskapelle zusammenzustellen.

Wenige Tage vor unserem Eintreffen war Tschifu von einer fürchterlichen Katastrophe heimgesucht worden. unter deren Eindruck die Bewohner des Ortes allerlei grausenerregende Einzelheiten zu erzählen wussten.

Das Meer, das uns so unschuldig anlächelte und dem wir uns beim Rudern oder Schwimmen anvertrauten, ohne im Geringsten an eine Gefahr zu denken, hatte plötzlich ein drohendes Gesicht gemacht und mit seinen wild tobenden Wellen über die chinesische Bevölkerung namenloses Unglück heraufbeschworen.

An einem Tage, als eine ungewöhnlich hohe Flut eintrat und der Wind landeinwärts wehte, öffnete plötzlich der Himmel seine Schleusen und verwandelte die Straßen in fließende Bäche. Am Ufer drang das Wasser immer weiter vor, riss die dort befindlichen Boote, Buden und aufgestapelten Waren um und ergoss sich brausend in das untere Stockwerk der Häuser.

Man hat sich in Tschifu an die verheerenden Wirkungen des Elements bereits gewöhnt und nach Möglichkeit Vorsichtsmaßregeln getroffen, um sie einzuschränken. Aber in diesem Fall erwies sich alle menschliche Klugheit als unzureichend, denn die Flut verband sich mit dem Sturzregen, und die Stadt wurde wie von zwei wutentbrannten Feinden gleichzeitig überfallen.

Die Wellen gingen dann noch höher und ergossen sich in wirbelnder Bewegung mit solcher Gewalt in einen Kanal, der vom Meer durch die Chinesenstadt läuft, dass dem Unheil kein Halt mehr geboten werden konnte. Die Mauern des Kanals wurden auseinandergerissen und mit ihren Trümmern weithin verschleppt. Das Wasser drang brausend und schäumend weiter vor, brächte die Häuser zum Umstürzen und ließ den Menschen keine Zeit, sich zu retten.

Wir konnten die Verheerungen noch überall erkennen, denn ein Teil von Tschifu glich einer wahren Ruinenstadt. Dass die Erzählungen über den Umfang der Katastrophe leider nicht übertrieben waren, bestätigte uns auch der russische Militärbevollmächtigte aus Schanghai, Generalmajor Dessino, der mit seiner Familie zur Sommerfrische in Tschifu weilte und von feinem Fenster im Hotel einen großen Teil des grauslichen Schauspiels mit ansehen konnte. Noch tagelang nachher wurden die Passagiere auf den Dampfern im Hafen durch den Anblick von schwimmenden Leichen, Tieren und Gerätschaften aller Art daran erinnert, was sich Unheilvolles in der Stadt ereignet hatte. Der österreichische Konsul Bobo, dessen Wohnung in der Nähe des so schrecklich zugerichteten Kanals liegt, meinte, dass bei dieser Gelegenheit achthundert bis tausend Chinesen umgekommen sein könnten.

Man spricht eine solche Nachricht aus, ohne sich ein rechtes Bild von dem Umfang eines Unglücks dieser Art im einzelnen machen zu können. Ja, Iwan Turgenjew hat nur zu sehr recht, wenn er immer wieder von der „Gleichgültigkeit der Natur“ spricht. Sie empfindet für die Menschen weder Liebe noch Hass, geht ihren Gesetzen nach und kümmert sich um jene überhaupt nicht.

Gerade darin liegt aber das Erhabene und Majestätische, das wir bei jedem großen Naturschauspiel empfinden. Kein Blatt würde sich im Wald rühren, auch wenn das ganze Menschengeschlecht zugrunde gehen sollte, und kalt und gleichgültig rollen die Wellen über taufende hinweg, die noch eben atmeten und sich dem Genuss des Augenblicks hingaben.

Nur ein Gutes, hatte diese Katastrophe zur Folge. Die Flut war so mächtig gestiegen, dass ihre Wellen sich über die ganze Chinesenstadt ergossen und sie so rein gespült hatten, wie sie wahrscheinlich seit vielen Jahren nicht gewesen war.

Auch wir mussten uns darüber wundern, was aus dem gewohnheitsmäßigen Augiasstall durch die Macht des Elements geworden war. Die Straßen waren in der Tat sauber, wenigstens für den ersten Blick. Man konnte sich aber leicht überzeugen, dass daran die Menschen kein Verdienst hatten, denn suchte man auf den schmalen Seitenwegen vorzudringen, wohin sich das Wasser nicht verlaufen hatte, so stieß man auf umso höhere Berge von Unrat und musste schleunigst wieder an den Rückzug denken.

Wir blieben daher vorsichtshalber auf der breiten, mit Quadersteinen belegten Hauptstraße. Erstaunlich wirkte die Höflichkeit, mit welcher die Chinesen den Europäern, auch wenn sie sich vereinzelt ins Gedränge begaben, bei jeder Gelegenheit entgegenkamen. Von den Kulis, die sich mit schweren Steinblöcken beladen durch die immer enger werdende Straße schoben, wusste jeder geschickt vor uns auszuweichen. Wir konnten in die Kaufläden und Höfe hineintreten, uns alles besehen und vorlegen lassen, und haben, auch wenn wir keine Bestellung machten, nichts Anderes als freundliche Gesichter gesehen.

Während dieses einstündigen Spazierganges, wo wir in dem Gewirr von Gassen und Gässchen die Richtung verloren hatten, wurden wir nicht einmal durch einen Bettler belästigt. Endlich erblickten wir einen Mast mit Fahne und schlossen daraus, dass wir uns in der Nähe des Hafens befinden mussten. Wir kletterten über Warenballen, suchten durch stinkende Moräste, die durch die Ebbe gebildet waren, einen Weg zu finden, turnten dann auf eine schmale, am Wasser liegende Mauer hinauf und kamen auf diese Weise zum chinesischen Postamt, in dessen Garten wir endlich wieder reinere Luft atmeten.

Tschifu besitzt außerdem noch eine deutsche, französische und englische Post. Die deutsche hat sich bis vor kurzem mit einem wenig einladenden Gebäude begnügen müssen, wird sich aber in allernächster Zeit von einer umso würdigeren Seite zeigen, denn in derselben Straße, wo das Hotel Beach, mehrere große Kaufgeschäfte, Banken und die Vertretungen der Schiffsgesellschaften sich befinden, ist ein schon von weitem sichtbares bequemes Gebäude mit dem Adler des Deutschen Reichs bereits unter Dach und Fach gebracht.

Wie stark das internationale Leben durch Tschifu flutet, ergibt sich schon aus dem lebhaften Dampferverkehr, der sich im Hafen abspielt. Die Schiffe kommen nicht nur vom Endpunkt der sibirischen Bahn, sondern gehen von hier auch regelmäßig nach Tientsin und Schanghai, so dass es sich bei diesem Ort um einen wichtigen Knotenpunkt des gesamten ostasiatischen Verkehrs handelt.

Auf dem Wege, wo die internationalen Postanstalten liegen, gelangt man auf die Höhen am Meeresufer, wo sich unter andern stattlichen Villen auch die Wohnung unseres deutschen Konsuls Lenz befindet, von dessen Garten man einen Anblick genießt, wie man ihn in diesen Gegenden nicht erwartet. Man sieht über Gärten und grünes Gelände, über charakteristisch geformte Abhänge und Uferstraßen, über den ganzen Ort und das Meer hinweg und könnte sich, wenn man seiner Phantasie ein wenig Spielraum gönnt, fast nach Capri versetzt denken. Hier herrscht überall eine saubere und geschmackvolle Eleganz innerhalb eines erquickenden Luft und Sonnenbades, dessen Wirkungen belebend durch alle Poren dringen.

Am Abend versammeln wir uns in dem gemütlichen Klub von Tschifu oder, wie die Engländer den Namen schreiben, Chefoo, wo wir in die Liste der Ehrenmitglieder eingetragen werden und eine interessante Gesellschaft aus aller Herren Ländern treffen. An dem Kneiptisch, um den wir uns versammeln, kommt auch die unvermeidliche Mischung von Whisky mit Soda zu ihrem Recht. In dem Lesezimmer erfahren wir aus europäischen Zeitungen, die auf großen Stehpulten ausgebreitet sind, wieder etwas von der Heimat, die uns so lange nur spärlich mit Nachrichten versorgt hatte. Wer sich mit Buchlektüre beschäftigen will, findet auch eine hübsche Bibliothek mit Werken der wissenschaftlichen und Unterhaltungsliteratur. Auf dem Balkon des Klubs ist ein großes Fernrohr aufgestellt, durch welches wir das englische Geschwader bis in alle Einzelheiten genau verfolgen können. Unaufhörlich blitzen die Signallichter an den Schornsteinen in verschiedenen Farben auf und ab. Es wird lebhaft von einem Schiff zum andern gesprochen, und die Mannschaften sind beim Manövrieren in beständiger Bewegung. Unter dem nächtlichen Himmel wirken diese Feuerlinien von elektrischen Lampen, die in bestimmter Reihenfolge aufblitzen und wieder erlöschen und als Ausdrucksmittel einer uns unverständlichen Sprache zwischen den Kriegsschiffen gewechselt werden, wie eine Traumerscheinung.

Erfreulich war es, zu beobachten, wie auch in dieser europäischen Niederlassung sich deutsches Wesen und deutsche Sprache überall in achtunggebietender Weise bemerkbar machten.

Im Salon des Hotel Beach wurde an einem Abend ein hübsches Violinkonzert improvisiert, das sich großen Beifalls zu erfreuen hatte und bei dem ausschließlich Stücke von Schubert, Mendelssohn und Brahms zur Aufführung kamen. Bei der Mittagstafel entschuldigte sich der englische Wirt, dass ihm das Pilsner Bier gerade ausgegangen sei, dass er es aber für morgen wieder versprechen könne. Die Inhaber des vorher erwähnten Kaufhauses, sogar der Kapellmeister bei den Amerikanern waren Deutsche. Der russische Postmeister, dem wir beim Tode seines Kindes unser Beileid aussprachen, ist ein Balte. Er flüsterte unter Tränen, die ihm über die Wangen liefen: „Es ist bestimmt in Gottes Rat“. Eine Wärterin sang im Zimmer neben mir die Kleinen, die ihrem Schutz anvertraut waren, mit einem deutschen Volkslied in den Schlaf.

Wir machen noch einen Spaziergang auf der Hotelterrasse und können uns, nachdem die Glut des Tages vorüber ist, ohne die früher beobachteten Vorsichtsmaßregeln dem wunderbaren Schauspiel hingeben, das uns der Abend auf dem Meer mit dem Spiel der heranrollenden Wogen, den im Dunkeln zerfließenden Uferlinien und der stolzen Reihe von amerikanischen Kriegsschiffen im Hintergrund bietet.

Unten am Wasser spielen chinesische Kinder an Booten, scherzen und lachen und fangen an sich zu prügeln, bis eine alte Frau dazwischenfährt und wieder Frieden stiftet. Die meisten Hotelgäste haben sich bereits auf ihre Zimmer zurückgezogen, denn man will früh aufstehen, um den besten Teil des Tages nicht zu versäumen.

Tiefe Stille breitet sich über die Stadt und das Meer aus. Nur in der Ferne verhallt ein langgezogener Ruf von einem Boot zum andern, und der Wächter erinnert mit den Holzstäbchen, die er klappernd aneinanderschlägt, daran, dass es Zeit sei, ebenfalls der Ruhe zu pflegen und die bunten Bilder der Erinnerung an dies reizende Idyll am Stillen Ozean im Traum weiter durcheinander wogen zu lassen.

Tschifu.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Auf der sibirischen Bahn nach China