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Vielleicht dürfte jetzt, wo wir am Ende der Saison stehen, einige Nachricht über die Seebäder Mecklenburgs nicht unwillkommen erscheinen, wenn auch nur zur Ergänzung des Vergleichs mit andern.

 

Doberan, welches, gleichsam als Hofseebad, den Reigen eröffnet, war noch nie so leer wie in diesem Jahr. „Es ist skandalös“, klagten die Luxuskaufleute aus Schwerin, die ihre Waren hier ausstellten, „unerhört!“ — Man führte, weil Doberan nun doch einmal offiziell voll sein soll, selbst die Kinder, sämtliche Knaben und Mädchen, mit in den Badelisten auf, ohne dass sich eine erwünschte Zahl ergeben wollte. Nur die paar Tage im August, während der üblichen Wettrennen aller Art, wimmelte es von Menschen. Zuerst kam das Rennen der Kavaliere, dann das der Bauern, für welche ein Tanz veranstaltet war. Die Fürstlichkeiten, mit Ausnahme des nach Ungarn zu seiner Schwester, der Fürstin Windischgrätz, verreisten Großherzogs, zeigten sich samt der eben anwesenden Herzogin von Altenburg unter den Zuschauern, und der kleine Erbgroßherzog teilte die Preise aus. Die Gegenwart des Hofs in Doberan, je liebenswürdiger sich derselbe erweist, je glänzender die Bälle erscheinen, zu denen die Offiziere aus ihren Garnisonen geladen sind, legt doch gleichwohl viele Repräsentationspflichten dem Adel des Landes auf, der sich gewöhnt hat, großen Aufwand in Equipagen und an der Spielbank zu entfalten. Mehr aber als dies alles beeinträchtigt die Lage des Orts seine Existenz als Seebad. Man muss beinahe eine Stunde fahren, bis man das Meer erreicht. Auf dem heiligen Damm freilich, wo man Seewasser und Seeluft aus erster Hand empfängt, würde man gern wohnen, allein da findet sich so wenig Raum in den paar neugebauten Logierhäusern.

 

Und er bietet entzückende Schönheit, dieser heilige Damm am Saume des Waldes, aus welchem, gleich einem schlanken Pfeile, die wundersam im reinsten Style erbaute Kirche von Doberan aufschießt, das Grabmal obotritischer Könige und mecklenburgischer Herzoge. Sie allein ist übrig von dem Zisterzienser Mönchskloster, um welches am Ende des zwölften Jahrhunderts der Ort in dieser von Fruchtbarkeit strotzenden Umgebung entstand. Sie schaut hoch hinaus auf die blaue Flut, auf den von der Natur gebildeten Wall. Auf uralten Dünen streckt sich dieser eine halbe Stunde weit in das Meer hinein, beträchtlich aufgetürmt, hin und wieder gegen hundert Fuß breit, aus Millionen farbigen, von den Wogen glatt geschliffenen Steinen, welche bei Sonnenschein blendend funkeln. Nach der Legende lag hier ein Frauenkloster in grauer Vorzeit, das durch Feinde, durch Heiden, von der See aus schlimm bedroht ward. Die frommen Nonnen flehten auf ihren Knien zum Himmel um Rettung. Wie eine Schutzmauer stieg da der heilige Damm empor, so wehrhaft, dass die Gegner ihn nicht übersteigen konnten, das gläubige Gebet hat ihn aufgebaut. Feierlich ragen über ihn die Wipfel des meilenlang ausgedehnten, prachtvollen Parks; ihr Rauschen fließt mit dem des Meeres zusammen. Himmelhohe Buchen, wie man sie in Süddeutschland nicht kennt, uralte, herrliche Blätterkronen auf schlanken, turmgleichen Stämmen, smaragdgrüne Rasendecken, die herrlichsten Meerausblicke, nichts als Meer im Buchenrahmen. Unter dieser hochgeschwungenen Buchenkirche steht, beinahe nur einem Chörlein gleich, der herzogliche Pavillon, ein kleines hübsches Ding, eine Cottage, eine Hütte — aber ein goldenes Krönlein darauf. Grünumwebte Galerie, zierliche Ruheplätze, offene Fenster nach traulichen Gemächern; rings jedoch Schnüre gezogen, überall verbotene Plätze, betresste Lakaien, welche abwehrend winken, sobald ein Fremder den Kopf herausstreckt aus den dichten stolzen Schattengängen. Auf der laubumhängten Galerie steht das Wägelein, in welchem man den kleinen Erbgroßherzog umherführt; weiter zurück unter den Bäumen ist ein für ihn eingezäunter grüner Spielplatz, wie für ein Lämmchen oder Rehlein zum Weiden. Häufig gewahrt man den Prinzen selbst mit seiner Bonne; ein freundliches, gutmütig aussehendes Kind, niedlich weiß gekleidet. Die Leute verweilen, sprechen, scherzen mit dem Knaben und der höflichen Frau; eine ganz hübsche Familienszene zwischen Volk und Fürsten. — Zunächst an diese Campagne grenzt „die Burg,“ das neue gotische Logierhaus mit seinen Turmzinnen, Altanen, Erkern, ganz massenhaft. Weiterhin gruppieren sich die übrigen weißen Gebäude: das vordere Logierhaus, von welchem die mecklenburgische Trikolore flattert, auf dessen Plattform man die blauwogende, schäumende See überblickt, und in dessen Korridor schwarze Adressentafeln uns die Namen mancher Berliner und Hansestädter zeigen; ferner die Kolonnade des Konversationshauses, welches Säle, hübsche Kabinette und Billardzimmer umfasst. Das kleine antike Portal gegenüber, gerade am Landungsplatze — ein Portal zum Meer, mit kindischen Säulchen — hat etwas sehr Kleines, ja fast Komisches. Links davon an den Bäumen die Felsplatte, auf der man in goldener Schrift liest: „Friedrich Franz 1. gründete hier das erste deutsche Seebad. 1793. 1843.“

 

Auf allen Ruhebänken — selbst auf der Dampfschiffbrücke über dem Wasser sind zweckmäßigerweise dergleichen angebracht — sitzen geradlinige Gesellschaftsfiguren. Der dritte Mensch, dem man begegnet, ist ein Bedienter. Von allen Seiten rollen Equipagen. Vierspännige Hofwagen mit Vorreiter, elegante rote Livreen, köstliche Pferde biegen in Alleen ein. Damen in Pariser Toilette neigen sich vornehm gegen Herrn mit Johanniterkreuzen. Alles hat hier aristokratische Physiognomie, im Gegensatz zu dem gemütlichen Warnemünde, wo die Bourgeoisie waltet. Ein Vorzug vor dem genannten Fischerdorfe bleibt dem heiligen Damm, dass man hier von den meisten Punkten so recht in das Meer hinein sieht; lauter Meer, kein Ufer zu den Seiten. Indessen erscheint die Rangordnung hier umgekehrt; das vornehmste Bad des Landes ist das leerste, und für Doberan erwächst eben an dem nachbarlichen Warnemünde, welches in der abgelaufenen Saison auf kleinem Raum, ungerechnet die Kinder, 1.700 Badgäste zusammendrängte, eine gefährliche Rivalin.

 

Warnemünde gewährt in aller Anspruchslosigkeit durch seine Originalität eine unerwartete Fülle von Beobachtungen. Bei der Ankunft von Rostock fährt man die hier „den Breitling“ bildende Warnow herunter an allen den kleinen drolligen Wirtschaften vorüber, die sich in den dem Strome zugekehrten einstockigen Häusern unter Bäumen, „in der Vorderreihe auftun;“ denn das Fischerdorf, welches uns aus der Ferne auf silberner Flut rot aufgetaucht ist, hat keine Straßen, sondern nur „Reihen“ die vordere, die zweite, die dritte Reihe. Vor jedem dieser Schifferhäuschen sind, gleich Kajüten, grünangestrichene „Lauben,“ mit alten Segeltüchern, die noch manche Spur ihrer Meerfahrten tragen und hier Veteranendienst tun, statt Marquisen, gerade wie eine Reihe Buden, Ein großer Jahrmarkt. Die Leute sitzen darin — umgekehrt, die Käufer in den Buden — als wollten sie sich sämtlich für Familienbilder daguerreotypieren lassen. Kleine häusliche Theater, jedes eine umgewendete camera obscura. Meistens sind Teppiche ausgelegt, Sofas, Fauteuils umhergestellt, gestickte Schemelchen, Kissen, frische Blumen in Vasen auf den Tischen; von der Decke hängen Lampen mit Schlingpflanzen, Papageien in Käfigen, kurz wie man sich nur eine Stube unter dem, Christbaum denken mag. Abends leuchten um all diese Teetische Lampen, bunte Papierballons u. s. w. und wenn bei kühlerer Herbstluft schon Gardinen vorgezogen werden, hinter welchen die Kerzen brennen, so sieht es auf ein Haar hell und bunt wie ein Miniaturtheater aus. Jeder hat mit Koketterie, zur Zier der „Laube,“ seinen besten und liebsten Hausrat zu Schiffe mitgebracht. Es erinnert fast an die Lauberhüttenfeste der Israeliten.

 

An diesen Bretterlauben erkennt man recht, wie der Norddeutsche Natur- und Landleben begreift. Alles treibt man da, alles geht da vor, nur dass man auf diesen Bretterbühnen nicht Toilette macht und schläft. Wenn man den Umgang mit jemand loben will, sagt man: „Es sitzt sich so schön bei ihm.“ — Das ganze Warnemünder Leben ist eigentlich nichts anderes als ein Familienroman. Hier schaut dich jeder an, jeder flüstert etwas über dich seinem Nachbarn zu, jeder sieht, wie der andere sich den Mund mit der Serviette wischt, alles kennt sich bald nach Gesichtern und Kleidern, weiß sich beim Namen zu nennen. Welcher Sonntagsstaat! Wie rauschen die prächtigen Seidenkleider von Rostock und Schwerin durch sämtliche Reihen auf und ab, damit sie ja überall gesehen werden!

 

Wie laufen die reinlichen Dienerinnen mit Geburtstags- oder Kaffeetorten her und hin! Wie klappern die Holzschuhe der Fischerkinder auf den kleinen Steinen der Trottoirs, wenn der Vater mit aufgerollter Segelstange aus der Hoftüre tritt! Zuweilen fährt ein vierspänniger Wagen in die Reihe herein, so fremdartig, da die großen Mecklenburger Pferde fast über die Häuser ragen, etwa wie wenn etwas Lebendiges plötzlich in eine Puppenwirtschaft gerät. Oder es kommt einmal ein eleganter Reiter auf edlem Rosse, riesig, gleich Hackelbergs Geist, dicht an den niedern Fenstern überraschend vorbei, ungehört im weichen Sande.

 

Der Reiz von Warnemünde besteht darin, dass jeder selbst haushält, dass gar kein Hotelleben besteht. Man müsste eigentlich hierherkommen, um eine Musterwirtschaft zu führen, seine kleine Weihnachtsküche zu haben. Wie eng und puppenhaft diese „Lauben“ sind, wie sehr man darüber spottet, das Behagen, welches diese Stillleben, diese Frühstück-, Mittag-, Abendtische ausströmen, mit ihren Blumen und gehäkelten Decken und strickenden, nähenden Frauen, fröhlichen Kindern, traulichem Lampenschimmer, dampfenden Teemaschinen von glänzendem Messing, Männern mit langen Pfeifen, einzelnen Büchern, und hin und wieder auch erklingenden Vorleserstimmen — es schleicht sich doch in die widerspenstigste Brust, und der Spickaaljunge und das Topfkuchenmädchen sind bald unsere intimen Bekannten, mit denen wir durch das Fenster handeln und feilschen. Diesseits vom Baumgange der Vorderreihe mecklenburgisches Still- und Badeleben, jenseits Matrosentreiben, Schiffergewimmel; all die Gemächlichkeit und Häuslichkeit so unmittelbar am Hafen, so ganz unter der Nase des ein- und ausziehenden Seefahrers. Welcher Gegensatz mit den Wüsten und Fernen des wilddrohenden Meeres! Dort alle Gefahr, hier jede Sicherheit.

 

Wie mögen wohl dem heimkehrenden Grönlandfahrer die Häuschen und Vorlauben, die Familienkaffee- und Teeschenken erscheinen, durch welche er wie durch Netzreihen segelt, wie durch einen Markt, als könnte man das alles kaufen! Warnemünde ist ganz Komfort, holländisches Kleinleben, wie Helgoland ganz Poesie ist. Welch ein Kontrast, hier alles Neugier, Bequemlichkeit, Familiensinn, und dort zu Baden das großstädtische, kosmopolitische Treiben und Jagen!

 

Übrigens ist Warnemünde doch auch, aus lauter Ruf der Wohlfeilheit zuletzt erklecklich teuer geworden, mindestens in Betreff der Wohnungen; denn bei dem unverhältnismäßigen Andrang musste auch in diesem Jahre gar mancher wieder umkehren, ohne Unterkunft gefunden zu haben. In der Vorderreihe zahlte man gern für zwei bis drei Stübchen wöchentlich 16 — 20 Thaler. Wir mussten froh sein noch in der Hinterreihe, auch „Sandwüste“ genannt, ein Zimmer samt Kabinett zu entdecken, das in der Woche drei Thaler kostete, und zogen im Grunde diese Gegend, wo alles noch primitiv ist, wenigstens der zweiten Reihe vor, weil man hier mehr Horizont hat und gute Seeluft von rückwärts über die Dächer streicht. Überdies ist das Haus erst gebaut, also nicht von Spinnen und Ohrwürmern heimgesucht, welche in den alten Mauern nisten. Man erzählt, einmal sehen nach ein Gewitter so viele Maueresel von Wänden und Decken gefallen, dass alle Badgäste abreisten und man die Tiere in Säcken in das Wasser warf, eine Mosesplage mitten im Warnemünde? Behagen.

 

Jeder bewohnt ein Haus für sich. Das unsere gehört einem jungen Schifferweibe, die ein kleines Kind hat, deren Mann an Ostern zur See ging und vor nächstem Frühling nicht heimkehrt. Alles ist nagelneu, die Haustüre mit bunten Glasscheiben, die schmuck gesteinte Flur samt der Truhe, dem Schranke, auf welchem zwei grüne Porzellanpapageien prangen, dem schwarzen Kätzchen mit grünleuchtenden Augen, das in jeder Warnemünde! Hütte umherstreicht, den hinter der Speichertreppe aufgehängten Strohhüten der Fischerin, dem abgetragenen und dem sonntäglichen, beide reichlich mit schwarzen Bändern verziert; daneben die grün angestrichene Küchentüre mit der runden Glasluke; die blanke Puppenküche selbst, mit roten Steinen gepflastert, wie zum Puppenspiele, so artig und rein, unsere Stube mit einem halben Dutzend eingerahmter Bilder, lauter Seeschlachten; die blauen Kattunvorhänge mit der rechten Seite nach der Straße, damit nur alles gegen außen schön sei vor den mit Geranium und Winden umkränzten Fenstern, durch welche man oft drüben über die Dächer, wie Fahnen von unsichtbarer Hand gehalten, Wimpel der Schiffe, sonst gar nichts von ihnen, vorüberschweben sieht, langsam, wie sie im Hafen herauf oder hinunterziehen.

 

Bei dem steten Handel und Markt durch die Scheiben und auf den Bänken vor der Türe werden nicht bloß die wirklich billigen Lebensmittel feilgeboten, Gemüse und Obst, Näschereien und Fische, sondern alle möglichen andern Dinge: Hauben schneeig und frisch, mit farbigen Bändern, so recht schifferbunte Flaggen, feingeflochtene Körbchen mit eigentümlich hübscher Mosaik von Immortellen im grünen Moose u. s. w. An Feiertagen stolzieren dicke, breite, vierschrötige Bauern und Bäuerinnen aus der Umgegend vorbei, welche etwas von der Taille ihrer Rinder haben. Zierlicher sehen die Fischerinnen aus, die sich meistens schwarz tragen; auch die Strohhüte sind schwarz. Zuweilen zeigen sie sich auf mit grellen Kopftüchern, häufiger mit seidegestickten silbernen oder goldenen Mützchen samt breitem weißen Strich, fein gefaltet, einem Heiligenscheine ähnlich. Öfters bemerkt man rote, stramme Strümpfe an dem wohlgeformten Bein, dazu Pantoffeln. Die Warnemünderinnen sind überhaupt sehr hübsch, besitzen eine gewisse Anmut, verblühen aber wie die Helgoländerinnen rasch, denn sie müssen sehr schwer arbeiten, obschon heiraten hier „sich bequemen“ heißt. An Lustigkeit fehlt es nicht bei ihren Tänzen. Nicht selten gewahrten wir an den erleuchteten Herbergsfenstern die vielen Köpfe, vernahmen bis spät in die Nacht hinein wahnsinniges Fiedeln, Stampfen der Füße. Nur schade, dass dieses Naturvölklein durch den Zulauf allmählich verdorben wird. In der gereizten Habsucht, der Gier nach Gewinn, geht die Höflichkeit des Herzens ganz unter, und an ihre Stelle tritt ein plumpes Zutappen.

 

Die muntern, blühenden Schifferweiber und Mädchen kann man am besten beobachten auf dem Wege zum Dammbad. Letzteres ist durch seine mangelhafte und primitive! Einrichtung durch ganz Mecklenburg berüchtigt, und erscheint den Neophyten unter der badenden Frauenwelt völlig wie eine Art Hochgericht. Wer hat nicht hier im Lande schon Schilderungen davon gehört, in die sich leider selbst ärgerliche Anekdoten von eingeschlichenen Vermummungen flechten? Man muss den Bericht aus Damenmund entlehnen, um die Szenerie darzustellen. Der Weg führt aus einem hölzernen Tore der dritten Reihe an einigen „Pumpen“ (Brunnen) und an dem neuen Friedhofe vorbei, über dessen weiße Kreuze Strandvögel streichen, in wenigen Minuten zum Meere. Das geht gleich einer Wallfahrt. Voraus zahlreiche Schifferinnen, welche „das Zeug“ der Badenden tragen, denn jede hat eine solche Eingeborene mit eigentümlich auf den Kopf gestülptem Strohhut als Kammerjungfer bei sich. Von den an andern Orten üblichen Badekarren keine Spur. Eine Anstalt von schauerlich prosaischer Nüchternheit. Aus kleinen Ställen, Buden, die kein Fenster, nur ein Loch in der Türe haben, muss man nun noch eine gute Strecke öffentlich wandeln, bis man das Ende des in die See hineingebauten Stegs erreicht. In das „Lacken,“ das große, segelartig grobe Betttuch gehüllt, mit der Wachstafftkappe auf dem Haupte, machen die Gestalten, von allen Grazien geflohen, just wie die Leiber der vom Tode Auferstehenden, den Henkersgang zur Flut auf ein paar über den Sand geworfenen Brettern, von welchen das mittlere mit Leinwand übernagelt ist. Wie auf den Gemälden vom jüngsten Gerichte Teufel oder Engel die Erweckten geleiten, so schreitet hier hinter jeder armen Seele im Lacken ein Schifferweib, um das Tuch abzunehmen und wieder zu reichen. Was für ein Kreischen und Lachen und Plätschern von Hineinspringenden, welch ein Plärren von furchtsamen Kindern! Zeigt sich jemand zu widerspenstig gegen den Wellenschlag, so treten die Badefrauen ins Mittel, mächtige, bäurisch derbe Figuren, welche die Riesenbeine bis an das Knie aus dem hochgeschürzten roten Faltenrocke vorstrecken, um die ihnen anvertraute Puppe im Meere zu taufen. Freilich ist das Bad beispiellos wohlfeil, kostet nur zwei Schillinge, und Nachmittags baden die Dienerinnen umsonst. Ein paar Buden finden sich indessen doch, wo man für acht Schillinge etwas abgesondert von der Menge baden kann.

 

Dreißig Bäder zu nehmen ist für die kräftigen Töchter des Nordens, unter denen man nicht selten tüchtigen Schwimmerinnen begegnet, eine Kleinigkeit. Viele baden aber auch den ganzen Sommer und Herbst hindurch. Man rechnet gewöhnlich, dass man sich erst nach dem siebten Bade nicht mehr angegriffen und matt, sondern gestärkt fühle. Die meisten hüten sich, mit einer geraden Zahl zu schließen, auch soll wo möglich die ungerade Zahl mit sieben aufgehen. Ferner will das Herkommen, dass man, soll das Bad gesegnet sehn, beim Scheiden dem Meere etwas opfere, und wäre es nur ein Schilling. Wenn Männer in Warnemünde zum letzten mal baden, werfen sie einen Blumenstrauß in die Flut, als Dank für die Gottheit. Die jungen Mädchen aber setzen einen Kranz auf das langwallende Haar, und dann tauchen sie damit und lassen ihn durch die Woge sich vom Scheitel heben und dahintragen. Wie die blaue Welle forttanzt mit den Blütenkronen! Am frühesten Morgen schon begegnet man Dirnen, welche Gewinde, zu solchem Zwecke bestimmt, nach dem Badplatze tragen, endlich ganz herbstliche, Asternkränze; und als wir Abends am Strande gingen, siehe da hatte das Meer sie alle verschmäht, zürnend ausgeworfen; weithin, auf eine halbe Stunde, war uns der Pfad mit Blättern und Blumen bestreut. Weiter gegen Osten, in beträchtlicher Entfernung von dem Damenbade, liegt das der Männer. Es soll noch mehr zurück, hinter jenes verlegt werden. Auch beabsichtigt man den Bau von Logierhäusern, man spricht sogar von einer ganz neuen Reihe. Möchte man sie doch dem Meere zukehren, von welchem sich bisher alle Häuser eigensinnig abwenden! Nur wenige auf dem Leuchtturmplatze blicken mit ihren Altanen nach der Flut. Dem Sande sind da am Fuße des Leuchtturms Blumen abgerungen, wie am Georginenplatze bei der dritten Reihe; man gibt sich die erdenklichste Mühe, etwas Rasen fortzubringen, bewässert ihn stets und nimmt dazu die Erde aus dem Meerschlamm, weil dieser doch fetter ist. Alles, was zur Verschönerung des Orts gehört, müssen die Rostocker machen lassen, wenn sie ihn heben wollen. Die Warnemünder selbst tun nichts dafür als ihre Kajüten bauen und haben kein Verdienst dabei, dass der Leuchtturmplatz, wo sich allabendlich bei der Musik am Pavillon die elegante Welt bewegt, Mittelpunkt von Badvergnügungen geworden ist. Hier ist der Schauplatz aller Lotterien und Glücksräder und Karrussels, des Freischießens für Knaben, das ein hiesiger Kaufmann mit artigen Gewinnen veranstaltet hat, des Vogelschießens für Damen, — mit der Armbrust — um hübsche Preise, von einem Rostocker Handelsherrn ausgesetzt, der von Rostocker Studenten arrangierten Bälle, wo alles uniformiert erscheint, die bärtigen Söhne der Musen schwarz, die jungen Mädchen in rosenrotem Flor; endlich des Scheiterhaufens, zu welchem, ehe der Tanz beginnt, die Fackeln der Wasserfahrt zusammen geworfen werden, um die Gesichter beim Meeressausen mit Rembrandtschen Reflexen zu überfliegen. Wie eine Feengeschichte zog das vorbei, wenn sie so die Warnow herunter schwammen, Raketen abbrannten, bengalisches Feuer anzündeten, mit prächtigem Wiederschein auf der Flut. Die ganze Szene hatte etwas Dämonisches, sah altertümlich festlich aus.

 

„Das Tivoli in Warnemünde“ hatte sich eine minder exklusive Lage, und zwar am Stromufer erkoren, um eine „Akademie von Marmorstatuen“ darzustellen, bei welcher „Moses, die zehn Gebote verkündend,“ neben „Electra und Orestes,“ und dem „seine Kinder vom Himmel niederreißenden Saturn“ erschien, wenn nicht gerade „Fräulein Josephine auf dem schlaffen Eisendraht den Pas anglais“ tanzte, alles in oder vor einer kleinen Bude mit roten Vorhängen unter den Bäumen der Vorderreihe und von einem Publikum von Seeleuten, Fischerinnen, Kindern, Mägden, auch Damen, in der Ferne auf Bänken stehend, als halb verstohlenen Zuschauern. Andere hatten sich auf Gebälke am Wasser, auf Schiffsmasten postiert; die Schiffstaue selbst waren zu Logen geworden, und auf einer Brigg richtete sich ein ganzes Matrosenparadies ein. Unten in der Menge brach sich eine emsige Frau Bahn mit einem messingenen Becken, das auf ein Haar dem Helme des Ritters von la Mancha glich. „Der Eine Komödienmacher ist fort,“ sagte später unser Schifferweib, „jetzt ist schon wieder der Andere da; wir heißen ihn Pulichinelkasten.“ — Wie da alles läuft nach solchen Schaustücken! Die Menschen sind wie besessen, nicht zu halten. Nur etwas zum Gaffen — das reißt alle hin; darin sind die Seeleute wie Kinder.

 

Horch! die Orgel, welche vor unsern Häusern auf und ab leiert und uns wehmütig machen will durch all die Rossinischen Arien hoch an der Ostsee! Es ist auffallend, wie wenig man in diesem Norden Musik hört, kaum ein altes, scheiterndes Klavier. Entzückungssturm hat ein durch seinen Gesang berühmter, geheimnisvoller Orgelmann erregt, dem schon ein Duft von Romantik von Doberan vorausschwebte, wo sogar die hohen Herrschaften den Virtuosen gehört. In lauen Augustnächten, wenn Sterne über den Schiffsmasten funkelten, ließ er, im Schatten der Bäume sich bergend, seine wehmutvollen, wohlgewählten Lieder unter den erleuchteten Fenstern und Altanen am Wasser ertönen. Eine reine, volle Stimme mit edlem, ja zartem Vortrage. Ein Lohndiener sammelte für ihn, und im Menschengewoge konnte man die widersprechendstem Notizen zu einer Biographie des unbekannten Sängers erfahren. Alle vereinigten sich zu der Versicherung, dass er nur in Dämmerung und Dunkel, wie die Nachtigall, seine Klänge erhebe, niemals vor zehn Uhr. Aber die einen wollten ihn für einen Studenten aus Berlin, andere für einen Schlächter aus Wismar erklären. Die Theaterdirektionen von Hamburg und Doberan sollen dem schönen Bariton vergebens glänzende Anerbieten gemacht haben.

 

Unter den Zerstreuungen der Badgäste spielen Ankunft und Abfahrt des im August täglich dreimal die Verbindung unterhaltenden Dampfboots von Rostock eine Hauptrolle. Es wimmelt jedes Mal am Ufer von Menschen. Alle haben jemand zu geleiten oder zu erwarten. Sonntags ergießen die Dampfschiffe ganz Rostock an das Ufer, alles treibt sich auf dem Landungsplatze umher, oder vergrößert die Table d’Hôte vor der nahen Vogtei unter ehrwürdigen Wipfeln. Es ist dies das älteste Haus in Warnemünde, über welchem in altertümlichen eisernen Zahlen 1601 zu lesen. Der Vogt ist die erste Behörde, zugleich Gastwirt, Postmeister, Kommissär, und Gott weiß was. Bei ihm lässt man sich die Adressen nachschlagen, bei ihm muss jeder Badgast, will er nicht in fünf Thaler Strafe verfallen, Anzeige seiner Ankunft machen. Trotz der Rührigkeit der Dampfboote konnte doch eine nach der Insel Rügen entworfene Lustfahrt, welche vier Tage beanspruchte — einen hin, einen zurück, zwei dort — in diesem Jahre nicht wie im vorigen zu Stande kommen, weil es an der zu Deckung der Kosten erforderlichen Zahl von sechzig Passagieren fehlte, von denen jeder gleichwohl für die ganze Doppeltour nur drei Thaler hätte entrichten sollen.

 

Ein anderer Genuss in Warnemünde ist, die Kühe, die allabendlich — Sonntag ausgenommen — von ihren jenseitigen Weiden heimziehen, durch das Meer oder eigentlich durch die Warnow schwimmen zu sehen; ein fast mythologischer Anblick, wenn man von der gesamten Herde nichts erblickt, als buchstäblich Hörner und Schweife, und der Hirt im Kahne diesen schwimmenden Hörnern und Schweifen nachrudert. Der Glanzpunkt bleibt aber „der Spill,“ das Zauberwort, das man hier in jedem Munde begegnet; „der Spill,“ der weit in das Meer hinausgebaute Molo, wo man auch Bäder nimmt, vom Morgen bis in die Nacht, Seeluftbäder, und den gesündesten und schärfsten aller Gerüche atmet, denn des Seetangs, von dessen Wirkung das Volk Wunder verkündet; der Spill, wo man den Ozean in all seinen unnennbaren Momenten belauschen kann, wo die Leute bei heiterem Himmel und noch mehr beim Sturme sich drängen, geschart in Gruppen sitzen, bis die Woge hoch zu ihnen emporschäumt und das Kleid netzt. Ihnen ist das, als saßen sie in einer Theaterloge. „Allerliebst! bildhübsch!“ sagen die Obotriten vom erhabensten Sonnenuntergange, oder von einem Schiffe, das sich prächtig, stolz von den umrauschenden Fluten tragen lässt, kaiserlich, heldenhaft, in kühner Wendung heran fliegt, die weißen Segel majestätisch gebläht: „das sieht sehr nett aus!“ — Dagegen hörten wir bei der Überfahrt nach dem heiligen Damm, als dessen schmucke weiße Häuser am Strande auftauchten, vielfach rufen: „Wie entzückend!“ — Die hiesige Gesellschaft ist nicht sehr kosmopolitisch; höchstens dass man ein paar englische Familien trifft, welche in der Idylle ökonomisieren wollen. Welcher Kontrast, der Spill, diese Handvoll Steine im Meere, auf die sich ein ganzes Badeleben zusammendrückt, und die Promenade zu Baden! Und doch wieder eines wie das andere: die nämlichen Figuranten, Interessen, kleinen Leidenschaften, bis auf die Phrasen und geistigen wie körperlichen Wendungen herab.

 

Betrachten wir das ganze Panorama. In unserem Rücken Warnow und Breitling; im Vorgrunde rechts der Leuchtturm, Häuser von Warnemünde; hinter ihnen und den hochbewimpelten Schiffen, wie noch entferntere Riesenschiffe, die geisterhaften Türme des alten Rostock; vor uns See, nichts als See. — Auf dieser gewaltigen Bühne von Ozean und Himmel entrollen sich unablässig Szenen, in vorgeblicher Monotonie von unendlicher Mannigfaltigkeit. Der Hintergrund der Meerfahrt, des Hafenlebens gießt einzigen Reiz über Warnemünde aus. Wird man je müde, die wechselvollen Stimmungen der immer lockenden, immer trügenden Flut, das Gleiten oder den wilden Tanz der Nachen zu betrachten, die zahllosen Segel mit dem Auge, mit der Sehnsucht zu begleiten? Jede Minute bringt ein anderes Drama. „Schiffe sind da!“ geht’s wie ein Lauffeuer durch das Dorf. Alles rennt zum Hafen, auf den Spill. Die Lotsen fahren mit ihrem Kahne hinaus, durchschneiden das blaue Meer, fern wie Geistererscheinungen stehen die Schiffe da. Das große kommt näher und näher; wie ein Riesengespenst in weißen wallenden Gewändern ragt es über die Wellen; nun gleicht es einem titanenhaften Schwan. Wie es her schwebt, die mächtigen Segel voll aufgespannt, ganz sieghaft! Was ist schöner, als bei Sonnenuntergang in den Port einlaufen? Ein zweites folgt, beide Rostocker, beide aus England heimkehrend. Wie einen gefesselten Giganten ziehen die in ihrem Boote vorausrudernden Lotsen das gefangene Schiff am Tau in den Hafen nach, und der Koloss schiebt sich ungeheuerlich in die engen Uferlinien hinein. In der lebhaftesten Zeit treffen am Tage oft acht, zwölf solche Schiffe ein. Eben fährt ein finnisches Schiff herein, das sehr hoch geht, weil es ohne Ballast kommt; mit seltsamem Rufe ziehen die Matrosen ihre Segel ein. Endlich zeigt sich der erwartete „Constantin“ am Himmel, von der Extrafahrt nach Kopenhagen heimkehrend, prächtig im Dämmerschein, wie ein Berg, und doch so leicht von der silbernen Welle getragen. Gleich einem Zauberschiffe braust der Dampfer daher, seine kolossale Silhouette scharf im Äther ausgeschnitten. Zu beiden Seiten vom Bugspriet löst er seine rot aufblitzenden Böller. „Hurrah! Hurrah!“ schreit alles her und hin und schwenkt die Hüte, auch die Schar der Radikalen von Rostock, die sich heute am Spill angesiedelt haben; selbst der Präsident ihrer Volksversammlungen, der Advokat Moritz Wigards, schwenkt seinen Strohhut mit schwarzem Samtband. Haben die Germanen einen Sieg errungen auf Seeland? Harmlose Deutsche! Wenn euer Schraubendampfer von einer Lustfahrt aus Dänemark wiederkehrt, macht ihr solchen Lärm! Freilich ein Rostocker Schiff, und man jauchzt der Heimat zu, die auf ihre Schraubenerfindung stolz ist. — Ein anderes mal wird das wie von einer Hütte aufwirbelnde Wölkchen, die kleine Rauchsäule am Horizont, zum Großherzog Franz, der von Petersburg zurückkommt, und man erkennt an dieser unmittelbaren Verknüpfung mit der Zarenstadt, wie hoch man sich schon im Norden befindet. Gestern wagten wir uns mit dem Dampfer „Phönix“ zu einer eigens veranstalteten Lustreise im Sturme hinaus, in die volle wilde Poesie des Meeres, jetzt hoch oben auf Gipfeln, plötzlich wieder senkrecht hinab schwebend wie in s Bodenlose: wirklich ein Fliegen! Heute besuchen wir den französischen Dreimaster „Adelaide St. Vaast“, der von Rouen kommt, hier Ballast einnimmt und nach Schweden fährt. Der Kapitän der „bisquine“ — so heißen sie das Fahrzeug — lässt sich’s nicht wehren, uns tiefglühendes Rebenblut, den ächtesten Bordeaux zu kredenzen, samt Schiffszwieback. Die Matrosen, charakteristische Gestalten, haben bis auf den moussé, den Schiffsjungen, noch unter Louis Philipp gedient. Für jetzt, meinten sie, sei ihnen der Präsident schon recht; sie haben jetzt Ruhe, und die brauche der Handel vor allem. Am besten wäre es gewesen, Louis Philipp nicht zu beseitigen. Was denn jetzt anders sei? Ihre Republik seh viel monarchischer als das Bürgerkönigtum. Auch die Herzogin von Orleans, in deren Heimat wir uns befanden, hätte man nicht sollen ziehen lassen, das Volk habe sie lieb. „La Normandie“ habe gar keine Revolution gehabt, noch gemacht. Das sehen nur die Pariser, welche immer die ersten sein wollten. „Am liebsten wäre uns der prince de Joinville. Auch den duc d’ Aumale mögen wir, nur nicht den Remours.“ — Am folgenden Tage wählen wir ein holländisches Schiff. Eine Frau befindet sich an Bord nebst ihrem Säuglinge. Wenn Matrosen keine Hütte haben, nehmen sie ihre Weiber mit auf das Schiff, welche dafür nähen, waschen, kochen. Manches Kind hat so in dem schwimmenden Hause das Licht erblickt; denn es gibt Seeleute, die gar keine Wohnung haben, so weit das blaue Himmelssegel ausgespannt ist, als eben ihr Schiff. Im Hafen, am diesseitigen Ufer der Warnow, darf aber kein Fahrzeug in seiner kleinen Küche kochen, wegen der Feuersgefahr für die nahen Häuser, nur am jenseitigen. Hinter dem Dorfe auf der Wiese steht die allgemeine Matrosenküche, ein rötliches Gebäude, dem die vielen Kamine das Ansehen einer Fabrik geben. Wir blicken hinein: es ist nur eine Halle, in der Mitte der Herd, mit Rösten auf beiden Seiten, jedes Mal zu zwei Schiffen. Koch und Junge eines Rostocker sieden Klöße im Kessel; der Junge rührt immer neuen Teig, obschon eine Unzahl großer weißer Klöße bereits brodeln, recht für Seemannsmägen. Ein mächtig Stück Rauchfleisch dampft in einer Schüssel auf der Bank. Den Aufseher macht ein Matrose mit zwei Stelzfüßen, dem beim Laden Holz die Beine zerschmettert hat. In trefflicher Laune liegt er auf einer der Anrichtbänke hingestreckt.

 

Das alte Rostock, die historische und noch heute vielfach wichtige Hansestadt, gewährt durch ihre unmittelbare Nachbarschaft Warnemünde eine erhöhte Bedeutung. Wenn wir, die Warnow aufwärts steuernd, das arme Fischerdorf im Rücken haben, taucht zuerst rechts Bramow auf, ein Vergnügungsort der Rostocker, links Gehlsdorf, ein Filial des rauen Hauses, wie dieses eine Rettungsanstalt im Kleinen und von Wichern oft besucht. Auf dem andern Gestade liegt die Tischbein’sche Maschinenfabrik. Hier werden die bekannten Schraubendampfschiffe gefertigt. Weiterhin, einladend in Gärten, die Villen der Rostocker Senatoren. Noch eine kurze Strecke und wir erreichen die Schiffswerft und den inneren Hafen der grauen Reichsstadt. Alles eilt vom Landungsplatze in die gerade eröffnete Kunstausstellung, Wie viel Gelungenes oder bloß Glattes man dort auch treffen möge, hier ist mehr Kunstanschauung und Gemälde in der Wirklichkeit. Beschauen wir zuerst den mächtigen, von Petersburg jüngst heimgekehrten Schraubendampfer, den „Großherzog Franz“. Alle vierzehn Tage ungefähr kommt oder geht ein Schiff direkt von oder nach der Newastadt. Neben ihm sehen wir umgelegt einen der Grönlandfahrer, der vor etwa zwei Monaten heimgekehrt, den „Polarstrom“, Kapitän Engel. Wir mögen seine Maste berühren, und wie pocht und sägt man auf seiner nun senkrecht sich darstellenden Oberfläche! Diese Grönlandfahrer — Rostock besitzt deren nur zwei, welche nächstes Frühjahr wieder absegeln — sind immer fürchterlich zugerichtet, trotz dem gewaltigen Beschläge von Eisen; denn dieses bildet einen wahren Panzer vorne und hinten gegen das Anprallen des Eises; es sind förmlich geharnischte Schiffe, aber das Metall ist ganz rot vom Salzwasser. Wandern wir zu dem zweiten weiter unten, der vor sechs Wochen heimgekommen und auch starker Ausbesserung bedarf, „Flora“ genannt. Seht ihr das weiße Frauenbild am Bugspriet? eine Flora mit langen Ohrgehängen, Spitzenkragen, goldenem Kamm. Ringsum sieht ein ganzes Regiment von Tonnen, alle leer, denn das Schiff hat seine volle Ladung nicht erlangt, hat diesmal gar nichts verdient, aber auch keine außergewöhnliche Gefahr bestanden, wie uns einige der Matrosen versichern. Der „Polarstern“ ist mit zweihundert Seehunden und einem Walfische von achtzig Tonnen Tran zurückgekehrt, die „Flora“ nur mit 450 Robben. Obschon die größten Schiffe sich gegenwärtig gar nicht hier befinden, nach allen Weltgegenden ausgezogen, selbst in die Levante nach Smyrna, herrscht doch den Hafen entlang reges Gewimmel; überall Tätigkeit, überall charaktervolle, originelle Gestalten. Welche Massen von Ankern und Ketten, ein ganzer Berg von Eisen, ein Magnetberg! Und jenes braune Holzhaus, das Don Quixote unfehlbar für ein Ungetüm, ein riesiges Einhorn, halten würde? Es ist der Kran zum Aufziehen der Lasten, das Wappen Rostocks abenteuerlich groß darauf gemalt: der goldene Greif im blauweißroten Felde.

 

Nun auf die angrenzende Baustätte. Eine Schiffswerft gehört zum Herrlichsten unter allen menschlichen Dingen; es ist der augenfälligste Beweis von Menschengeist und Menschenkraft. Elf Schiffe türmen sich jetzt hier unter Klopfen und Hämmern und Klirren empor; Riesenleiber erstehen von allen Seiten. So erst gewahrt man, wie ungeheuer diese Schiffe sind, wie tief sie im Wasser gehen; nur so lässt sich ihr Umfang etwas beurteilen; man gewinnt einen ganz andern Maßstab dafür. Alle Phasen der Entstehung dieser Paläste des Ozeans breiten sich vor uns aus. Rückwärts in den Werftstätten liegen nur Boote und Nachen. Dort wächst der Kiel, das gigantische Tier, der Grundpfeiler und Träger des Ganzen; hier in der Mitte erblicken wir nur Fragmente, lauter Anatomie, kolossale Schiffsrippen; weiterhin streckt sich ein Bauch vor gleich einer Riesenmuschel; rechts ein ganzes Skelett, das schönste Ebenmaß trotz der gewaltigen Verhältnisse; vorne liegt eine nach Finnland bestimmte Brigg, welche in zwei Wochen vollendet wird, der „Heilige Nikolaus“; schon ragen seine Masten empor und hoch oben hängen Männer. Auf dem Hintergrunde seiner Taue zeichnen sich am Himmel auf dem Profil des Gerippes die Gruppen der Arbeiter ab wie ein Basrelief, so einfach und edel in der Kraft der Bewegung, in der Harmonie, dem Rhythmus natürlicher und doch sinnreicher Beschäftigung; ganz Plastik.

 

Auf den Hafen öffnen sich altertümliche Tore. Rostock, für das die Zahl Sieben bedeutsam ist, hat sieben Wasser- und Landtore, wie sieben berühmte Linden — nicht weit von der Eisenbahn — unter denen sich Erich VIII. huldigen (1303) ließ, sieben Türme auf dem stolzen, hochgegiebelten Rathause und sieben vom Markte auslaufende Straßen. Man stößt hier überhaupt noch auf ausgezeichnete Architektur. So schön und reich wie die zwei durchbrochenen Häuser „Am Schilde“ kennen wir keine, weder zu Lübeck, noch zu Prag und Nürnberg. Merkwürdig ist ferner das Zepplin’sche Haus. Unfern davon mündet die Straße auf den Blücherplatz. Unter seinem Erzbilde von Schadow stehen die Worte, welche Goethe dafür niederschrieb’

 

„In Harren

Und Krieg,

In Sturz und Sieg

Bewusst und groß,

So riss er uns

Von Feinden los.

 

Um die Petrikirche, deren Turm, der höchste Mecklenburgs, merklich schwankt, wenn man ihn bei stürmischer Witterung besteigt, krümmt sich die höchst originelle Altstadt mit ihrem gefährlichen Dunstkreise, zumal im Spätherbste, ein Nest von Typhus und Cholera. Letztere hat, Rostock immer besonders hart heimgesucht, wie alle Orte, wo süßes und salziges Wasser sich begegnen, Lübeck, Hamburg u. s. w. In der Elbestadt erfährt man es nie öffentlich, wenn die Asiatin sich einstellt. Ebenso mag sie hier, wo man mit Recht stets in Furcht vor ihr schwebt, längst wieder spuken. Vor zwei Jahren bei ihrer heftigen Verheerung floh alles nach Warnemünde. Neben der Cholera hat in diesem Quartier auch die Politik gewütet. Rostock bietet eine seltsame Erscheinung im monarchischen Mecklenburg dar, mit dem es übrigens schon früher als reiche Hansestadt in steter Fehde gelegen. In den Küstenländern erzieht überhaupt das Meer die Bewohner zur Freiheitsliebe. Rostock, seit grauer Zeit im Widerstande geübt, ist nicht nur unabhängiger gesinnt als das geld- und prunksüchtige Hamburg, sondern unter allen Seestädten am meisten republikanisch. Die Überlieferung seines selbstständigen Gemeindewesens und manche eigentümliche Einrichtung, die ihm noch erhalten geblieben, setzen es in ein merkwürdig verwickeltes Verhältnis zu der Landesregierung, für welches als bezeichnend dienen mag, dass man eben in der letzten Zeit viel von einer nun doch notwendig gewordenen und auch tatsächlich wirklich schon eingeleiteten „Annäherung“ an das großherzogliche Gouvernement reden kann, womit nun allerdings die Handelsstadt in eine neue Periode zu treten scheint. Dieselbe war bisher, aus den erwähnten Ursachen, nicht mit günstigem Auge von oben angesehen. Man macht ihr selbst eine Beteiligung an Kinkels Flucht zum Vorwurfe. Niemand zweifelt, dass er sich bis zur Einschiffung in Warnemünde verborgen. Mehrere Männer, die wir ausdrücklich danach fragten — sogar Rostock hat seine Diplomaten — erwiderten: „Man sagt es,“ mit einer gewissen diskret wichtigen Miene, welche bedeuten mochte: „Man weiß es, aber man darf es nicht wissen.“

 

Mit Warnemünde vermag das nicht sehr entlegene Boltenhagen keinen Vergleich auszuhalten. Es ist eigentlich ein Dilettantenseebad, erst in neuerer Zeit eingerichtet, stark besucht, hauptsächlich von Damen. In dem frischgebauten Logierhause, Wichmanns Hotel, lebt sich’s bequem und vergleichsweise billig; lauter feste Preise (ein Zimmer wöchentlich 2 Thaler 16 Schillinge, Verköstigung für eine Person wöchentlich, das Bad einbegriffen, 5 Thaler wöchentlich. Ein Zimmer für eine Nacht 8 Schillinge, für einen Tag 16 Schillinge, Trinkgeld für das Zimmer wöchentlich auf 24 Schillinge berechnet). Man trifft wenige Personen von Adel, dem es hier zu ungezwungen ist, denn der Schlafrock herrscht in Boltenhagen vor. — Wenn man von Warnemünde in die See hinaus fährt, gewahrt man noch über dem jenseitigen Waldufer des Breitling einen dämmernden fernen Streif. Es ist, unfern von Preußens Grenze und Leuchtturm, der nördlichste Teil von Mecklenburg, das „Fischland“, welche sich noch in alter Eigentümlichkeit erhalten hat. Man könnte dort originelle Volksstudien machen. In diesem „Fischlande“ liegt Kirchdorff, ein schlichtes Fischerdörflein, wo Leute, welche Einsamkeit und nicht Gemächlichkeit suchen, wohlfeilen Aufenthalt zum Gebrauche des Seebads finden. Man fährt auf der Eisenbahn bis Rostock, von dort mit Post nach Ribnitz und dann in drei Stunden über die Binnensee nach Kirchdorff. Gleiche Stufe der Kultur, gleiche Vorzüge und Nachteile bietet das nicht minder unbekannte Örtchen Alt Gaarz*), zu welchem man auf der Eisenbahn bis Wismar, weiter mit Post drei Meilen nach Neubukow, und von da endlich noch eine Meile zu Fuße oder mit besonderem Fuhrwerk gelangt. So hätten wir denn die unterste Rangstufe der Kurorte des Großherzogtums erreicht. Übrigens waren in der letzten Saison alle Seebäder Norddeutschlands übervoll, Travemünde namentlich, nur Cuxhaven nicht, das jetzt außer Mode und daher um die Hälfte wohlfeiler ist, eben weil es zu lange teuer war, und von den mecklenburgischen Seebädern Doberan.

 

*) ab 1938 Rerik.

 

Aus: Morgenblatt für gebildete Leser. Band 46. 1852 (Von der mecklenburgischen Küste, Oktober 1852)

 

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