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Prof. Erhard Bahr

Als Ergänzung zu dem ausgezeichneten Artikel “Friedrich Schiller auf den Pfaden russischer Legenden” von Professor Galina Khotinskaya-Kallis möchte ich auf die von Schiller geplante Rolle der Romanovs im Demetrius-Fragment von 1805 hinweisen, weil sie uns eine Einsicht in Schillers Geschichtsbild vermittelt, die zum Schiller-Jahr 2009 besonders angebracht erscheint. War Schiller ein Geschichtspessimist oder –optimist?

Die große Anzahl der Tragödien unter seinen klassischen Dramen und seine Beobachtungen zum Elegischen in seinem Aufsatz “Über naive und sentimentalische Dichtung” (1795) scheinen auf Geschichtspessimus hinzuweisen. Moderne Literatur war für ihn Dichtung der Trauer. Die Tragik des Wallenstein-Dramas hat den Philosophen Hegel so erschüttert, dass er das Ende nicht für “tragisch, sondern entsetzlich” hielt. Doch es gibt in seinem Aufsatz “Über naive und sentimentalische Dichtung” auch den Begriff der Idylle, der als Gegenbegriff zum Elegischen zu verstehen ist, und von ihm ausführlich propagiert wurde.

Die Handlung des Demetrius, wie sie sich aus dem überlieferten Fragment rekonstruieren läßt, folgt dem Verlauf der Geschichte. Der Protagonist, der falsche Zar Dmitri oder Demetrius, wird schuldlos zum Betrüger. Er glaubt, dass er der wahre Zarensohn sei, und verfügt über das politische Charisma, seinem Vaterland die Freiheiten des 18. Jahrhunderts zu bringen. Er ist erfolgreich im Krieg gegen Zar Boris Godunov, der Selbstmord begeht. Das Kriegsglück begünstigt Demetrius: die Armee des Zaren geht über zu ihm, er zieht in Moskau ein und wird als Zar gekrönt. Doch vor dem Einzug in Moskau erfährt Demetrius seine wahre Identität als falscher Zar, und Marfa, seine angeblich Mutter, verweigert ihm die Anerkennung als Sohn und Nachfolger Zar Ivans. Dieser Mangel an Legitimität führt zur Veränderung seines Denkens und Handelns. Als “betrogener Betrüger” wird er zum Tyrannen, doch seine Gewaltherrschaft führt zu seiner Ermordung. In Schillers Fragment tritt ein zweiter Demetrius an seine Stelle, und die Geschichte der Tyrannei beginnt von Neuem. Der Schluß verweist auf eine pessimistisch zyklische Geschichtsauffassung. Was Schiller bei diesem Dramenschluß ausgelassen hat, ist die Tatsache, dass 1613 Michael Feodorowiz Romanov, der Begründer der Dynastie, die Macht übernahm und damit die “Zeit der Wirren” (Smuta) beendete.

 Es gibt jedoch ausreichend Gründe, dass Schiller einen anderen Dramenschluß zumindest erwogen hat. Der erste und naheliegendste Grund war die Vermählung des Erbprinzen Carl Friedrich von Sachsen-Weimar mit Maria Pawlowna, der Schwester des Zaren aus dem Hause der Romanovs, im Jahr 1804. Mit der Figur des Michael Romanov hätte Schiller eine Huldigung an die Zarenfamilie anbringen können, die sich zu diesem Zeitpunkt mit der Familie seines Landesherrn Carl August verband. Schiller schrieb das Festspiel “Huldigung der Künste” anläßich des feierlichen Einzugs der Zarenschwester in Weimar.

Zweitens gibt es ausführliche Notizen im Demetrius-Nachlaß, die beweisen, dass Schiller sich ausführlich mit der Person des Michael Romanov beschäftigt hatte. Diese Figur sollte ihm dazu dienen, dem Verlauf der russischen Geschichte eine Tendenz zur Idylle oder Utopie zu verleihen. In Schillers Skizzenblättern wird Romanov als “eine reine, loyale, edle Gestalt, eine schöne Seele,” die “bloß dem Rechte” folgt, beschrieben. “Schöne Seele” war für Schiller der höchste Begriff für einen Menschen, der aus Neigung ethisch handelt, wie er in seinem Aufsatz “Über Anmut und Würde” (1793) erklärt hatte. Eine “schöne Seele” darf “dem Affekt die Leitung des Willens ohne Scheu überlassen und [läuft] nie Gefahr mit den Entscheidungen desselben im Widerspruch zu stehen.” In der schönen Seele harmonieren “Sinnlichkeit und Vernunft, Pflicht und Neigung” miteinander. Doch mit dieser Personenbeschreibung war für Schiller nicht das Problem gelöst, wie er die historische Gestalt des Romanov in sein Demetrius-Drama integrieren könnte. In den Notizen heißt es: “Entweder erscheint [dem Romanov] der Geist der Axinia [der ermordeten Tochter des Boris Godunov] oder ein Seher, ein Eremit, ein heiliger Mann gießt Balsam in seine Wunde und eröffnet ihm die Zukunft.” Dabei wurde Schiller jedoch klar, dass eine solche Idylle das Drama sprengen würde, denn sie bedurfte des Eingriffs einer “wunderbaren, himmlischen Kraft.” Schiller mag das Dilemma wohl erkannt haben, als er sich eingestand, dass eine solche Szene zwar “über das Stück hinaus [erhebt] und das Gemüt durch ein erhabenes Ahnden höherer Dinge [beruhigt],” jedoch im Widerspruch zum Ablauf der Geschichte der Geschichte gestanden hätte.

In der “Jungfrau von Orleans” hatte Schiller am Ende seiner “romantischen Tragödie” den Eingriff einer “wunderbaren, himmlischen Kraft” verwendet. Im Widerspruch zur Geschichte stirbt Johanna auf dem Schlachtfeld in der Erfüllung ihrer Sendung. Das Schlußbild zeigt, dass die Jungfrau das Ziel ihres Weges, die Idylle, erreicht hat. Schiller war sich der Gemeinsamkeiten und Gegensätze zwischen der “Jungfrau von Orleans” und dem “Demetrius” bewußt, wie wir von seinem Brief an Christian Gottfried Körner vom 25. April 1805 wissen. Es war sein letzter Brief an den Freund. “Der Stoff ist historisch,” schrieb er. “Und so wie ich ihn nehme, hat er volle tragische Größe, und könnte in gewissem Sinn das Gegenstück zu der Jungfrau v. Orleans heißen, ob er gleich in allen Teilen davon verschieden ist.” In diesem Sinne hatte Schiller für den vierten bzw. fünften Akt sogar eine Zukunftsvision der Zaren von Peter dem Großen über Katharina II. zu Alexander I. geplant, in der die russische Geschichte zur Idylle verklärt werden sollte. Doch ließ sich eine solche Idylle 1805 rechtfertigen? Dass er die Widersprüche stehen gelassen hat, spricht für Schiller als Historiker, der sich nicht sklavisch an den Verlauf der Geschichte gebunden fühlte, sondern deren Tendenzen aufzuweisen suchte. Im Fall des Demetrius war diese Tendenz tragisch angelegt. Er konnte das Werk nicht vor seinem Tod vollenden, doch das Fragment zeigt, wie sein Geschichtsbild von der ungeheuren Spannung zwischen den Komplementärbegriffen der Trauer des Elegischen und der Utopie der Idylle beherrscht war. Der “Demetrius,” sein letztes Werk, beweist, dass Schiller sich weder von den Geschichtspessimisten noch von den Utopisten vereinnahmen läßt.

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