Am Abend des Tages

Am Abend des Tages, an dem die Gräfin Nordeck bei Hofe vorgestellt worden war, versammelte sich in ihrem Zimmer ein kleiner Kreis der vertrautesten Freunde des Hauses, und das Gespräch fiel natürlich auf den Eindruck, den die Persönlichkeit des Kaisers und der beiden Kaiserinnen auf Klara gemacht hatte. Die Kaiserin Mutter, sagte sie, ist mir als ein ehrfurchtgebietendes Bild kaiserlicher Hoheit und weiblicher Würde erschienen; die junge Kaiserin wie ein auf die Erde verwiesener Engel, und den Kaiser konnte ich nicht anblicken, ohne daß mir die Thränen in die Augen traten. Er ist so schön, so liebenswürdig der Hochgestellteste aller Sterblichen; und doch kam er mir so leidend, so unglücklich vor! -

Klinger, der den Kaiser von seiner Geburt an geliebt, beobachtet, bewundert und an ihn alle Hoffnungen seiner großen Seele und seines warmen Herzens für das Wohl der Menschheit geknüpft hatte, fühlte sich von Klara’s Worten tief ergriffen. Bei seltner Geistesklarheit und Besonnenheit war Klinger doch ein glühender Schwärmer für Wahrheit, Recht und Menschenwohl und ist es bis zu seinem letzten Athemzuge geblieben. Je giftiger sich durch Vieles, was er sah, hörte und erlebte, die Gestalten entarteter Menschheit in seine Seele ätzten, desto inniger umfaßte seine Liebe, seine Begeisterung den Mann, von dem er hoffte, daß er für die Menschheit einen neuen, herrlichen Morgen heraufführen würde. Auch von Napoleon hatte Klinger im Beginn seiner Laufbahn viel erwartet; aber dieser verdunkelte bald selbst in sich das glänzendste Gestirn, das im Laufe von Jahrtausenden aus dem dunkeln Schoos der Menschheit hervorgegangen war und sich aus eignem Lichtstoffe gebildet hatte. Alexander’s reiner, milder Glanz verblich dagegen an einer Nothwendigkeit, der er als Beherrscher Rußlands nicht entweichen konnte, und die ihn zn der tragischsten Gestalt in den Annalen der Weltgeschichte macht. Er, der größte Monarch seiner Zeit, starb ruhmgekrönt langsam, in der Blüte seiner männlichen Jahre, am gebrochenen Herzen, an verlorner Zuversicht zu der sittlichen Würde des Menschen. Auf dem glänzendsten Throne der Welt war er der elendste, unglücklichste und beweinenswertheste aller Menschen!


Klinger wußte um dies traurige Geheimniß seines Unglücks, und es ergriff ihn tief, daß Klara’s reiner Kindessinn es in der Ahnung erfaßt hatte. Von dem Gespräch der versammelten Freunde an diesem Abend sei es uns vergönnt, dem Leser einige Andeutungen geben zu dürfen.

Bescheiden, einfach, wahr, unendlich liebenswürdig als Mensch, blühend schön wie ein Göttersohn, war Alexander schon als Großfürst Klinger’s Ideal. Nie vermochte Klinger ohne Bewegung von dem Augenblick zu sprechen, wo Alexander am Morgen der Todesnacht seines Vaters aus den inneren Gemächern des Winterpalastes hervortrat. Es war um 9 Uhr Früh; der ganze Palast voll stummer Menschen, deren Herzen seiner Erscheinung erwartungsvoll entgegenschlugen. Er sah sehr bleich aus, ein schmerzliches Gefühl sprach aus seinen schönen, edeln Zügen; aber aus den Augen leuchtete Herrscherwürde. Welche Erfahrungen lagen auch hinter ihm! Von der Geschichte jener grausigen Nacht werde hier nichts erwähnt, als daß der Einfluß nie genug beachtet worden ist, den Englands damalige politische Lage, wo dem Sohn als Regenten die Zügel der Regierung anvertraut worden waren, auf Alexander gehabt hat. Der Anblick der Menge, der er in dieser frühen Morgenstunde durch seine öffentliche Erscheinung das erste, ihm gewiß schwere Opfer brachte, schien in seiner Seele sehr trübe Empfindungen zu wecken. Er war, gegen den damaligen Gebrauch, noch unfrisirt; sein schönes blondes Haar in Unordnung und ohne Puder - die Schauder der furchtbaren Nacht waren noch um ihn, und höchst erschütternd war der Augenblick, wo seine Mutter, die er im Verlaufe derselben nur Einen Augenblick gesehen, aber durch ein einziges Wort aus ihrem Munde von ihr hinweggescheucht worden war, geisterbleich und entstellt sich ihm näherte, um ihm, ihrem jetzigen Kaiser und Herrn, fußfällig zu huldigen. Und nun die Schar der Höflinge um ihn her, deren jeder dem Blick des kaiserlichen Jünglings sein Schicksal abzufragen und zu errathen strebte, welchen Nutzen er von seiner Jugend zu ziehen vermögen werde.

Alexander war als Mensch vortrefflich erzogen; er war milde, gütig, gerechtigkeitsliebend; in seinem Herzen trug er ein hohes Ideal von Herrscher- und Menschenwürde; doch kein Stand verträgt weniger das Idealisiren als der Stand eines Monarchen, und kein Sterblicher ward auch je schneller und verletzender aus schönen Jugendträumen aufgeweckt als Alexander. Er war so edel, so durch und durch vortrefflich gesinnt, daß er, dessen Lieblingslecture, ehe er den Thron bestieg, Rousseau’s Schriften, vorzüglich der ,,Emil“, gewesen waren, den Kampf mit sich selbst, den jeder Staubgeborene zu bestehen hat, wol auch auf dem Throne siegreich bestanden hätte; aber in dem noch gefährlichern mit den Menschen, denen er einen Theil seiner Macht anvertrauen mußte, und die jede seiner Leidenschasten, jede seiner Schwächen so listig auszuspähen, so treulos zu benutzen wußten, erlag der dreiundzwanzigjährige Herrgcher über vierzig Millionen. Die Tugend, die allen seinen edeln Eigengchaften die Krone hätte aufsetzen sollen, die Heldenkraft, die unermüdliche und unüberwindliche zur Bekämpfung des fremden Unwerths, war schon gebrochen, noch ehe sie ihre Schwingen zu entfalten vermochte. Hätte Alexander unter anderen Umständen den Thron bestiegen, so hätte ihn das Gefühl der Freiheit als Selbstherrscher gekräftigt; jetzt vermochte er die Kette nicht zu zerreißen, die seinen Willen hemmte, wo sie ihn nicht zu lähmen vermochte.

Alerander’s Lage bei seiner Thronbesteigung war höchst schwierig; er kannte die gefährliche Gährung in den Gemüthern und glaubte und wünschte, diese durch Milde und Güte sänftigen zu können. Von allen Herrschern Europas ist dem Regenten Rußlands das glänzendste, aber auch das schwerste Loos gefallen, weil in den inneren Verhältnissen seines Staates die Quelle großer und fast nicht zu beseitigender Uebel liegt. Die Leibeigenschaft, deren Aufhebung einer von Alexander’s liebsten Jugendträumen war, ist ohne eine Erschütterung, deren Gefahren außer aller Berechnung liegen, nicht aufzuhebe; aber ein noch viel bedeutenderes Uebel, ein wahrhaft fressender Krebs in der russischen Staatsverfassung ist die zu niedrige Besoldung der Staatsdiener, von denen kein einziger, vom höchsten bis zum niedrigsten, so gestellt ist, daß er als ehrlicher Mann von seinem Gehalte leben kann. Raubsucht und Bestechlichkeit sind daher seit Katharinens Zeit zum ganz einfachen Herkommen, zu einer seit einem Jahrhundert eingeführten Gewohnheit geworden. Der Kaiser war in seiner Jugend nicht überspannt zu nennen; doch Alles, was ihn umgab, war zu tief herabgespannt, um nicht das Edelste, das rein Menschliche bei ihm für Mangel an Staatsklugheit und Erfahrung zu nehmen. Man beurtheilt in unserer Zeit die Fürsten fast immer so hart und lieblos und bedenkt nicht, wie unsäglich schwer es für einen Regenten ist, der nicht mit stumpfem Geist und mattem Herzen geboren wird, nach dem vierzigsten Jahre noch etwas von seinem ursprünglichen Menschsein in sich bewahrt zu haben. Der Sieg eines Monarchen über die listigen Verführungen, die gefährlichen Anfechtungen, die blendenden Vorspiegelungen, die leidenschaftlichen Lockungen zum Misbrauch der Gewalt, zur Befriedigung seiner Begierden, ist der höchste Triumph der sittlichen Güte und Feiheit, der hienieden von einem sterblichen Wesen errungen werden kann. Alexander erwarb keinen vollständigen Sieg; aber ein edler Streiter in diesem Kampfe ist er bis zum letzten Augenblicke seines Lebens geblieben. Man hat bisher bei seiner Beurtheilung als Regent immer die Geschichte seines innern Lebens unbeachtet gelassen, und doch kann aus der Kenntniß derselben allein ein gerechtes Urtheil über ihn hervorgehen.

Man bedenke die übermenschliche Last, die ihm in früher Jugend zum Tragen aufgebürdet wurde, und man wird sich keinen Tadel mehr erlauben, daß er ihr erlag und sich selbst in den letzten Jahren seiner Regierung so ungleich wurde.

Ach, wenn man aussprechen dürfte, wie namenlos er gelitten hat, und wie unglücklich er sich fühlte! wie Alles, was er in warmer Begeisterung und in schöner Hoffnung auf die Anerkennung und Beförderung seiner Zwecke unternahm, entweder mislang oder in der Ausführung ganz verzerrt erschien! Welche Erfahrungen gehörten dazu, ehe es seinen und - fremden Hofleuten gelang, ihn dahin zu bringen, daß er die Eingebungen seines Herzens für Jugendwahn hielt und sich dem Glauben hingab, jeder Regent müsse seine Unterthanen als eine gegen ihren Hirten tückisch gesinnte Heerde ansehen und sie, um dem ganzen Ruhe zu sichern, mit eisernem Scepter beherrschen. Auf dem Throne athmet man, wie in der Nähe desselben, giftige Luft ein, und Alexander, der Mann mit dem edeln, großen, warmen Herzen, wurde endlich durch seine Lage und seine Erfahrungen dahin gebracht, daß er Keinem mehr vertraute, sich mit seinem unermeßlichen Gram ganz in sich selbst verschloß und nur noch drohen, strafen, schrecken zu dürfen glaubte. Er, der früher die ganze Menschheit mit Liebe umfaßt hatte, sah sich jetzt in ganz Europa, wo er sich früher vergöttert gefühlt hatte, als despotischer Unterdrücker der Geistesfreiheit angeklagt. Er sah sich gezwungen, dem Unverstande der Menge und der Politik durch Unterlassen des Besten und Edelsten Opfer zu bringen, worüber der Genius der Menschheit Thränen vergoß. Was er in seiner Tugend warm, schön und kräftig in seiner Brust entworfen hatte, erschien ihm, von Anderen ausgeführt, so entstellt, so verkrüppelt, daß er sich oft davor entsetzte und da Böses hervorschießen sah, wo er sorgfältig Gutes ausgesät zu haben glaubte. Kabale, Niederträchtigkeit, Heuchelei, Hochmuth, Misgunst und Neid waren die Schlüssel zu allen Erscheinungen um ihn her.

Mir fehlt jede Unterstützung zur Ausfuhrung meiner Pläne, klagte Alerander einst in Klinger’s Gegenwart seiner Mutter; ich möchte zuweilen mit dem Kopf gegen die Wand rennen, wenn ich mich von lauter erbärmlichen Egoisten umgeben sehe, die das Wohl des Staats vernachlässigen, weil sie einzig ihr Fortkommen, ihre Glücksjägerei im Sinne haben. - So kam er denn allmälig zu dem Punkte, wo er von Mismuth zur Bitterkeit, von dieser zur Verachtung und Geringschätzung der Menschen und ihrer Bestimmung überging. Alle seine Regentenpflichten wurden ihm zur Marter. Aber nur unglücklich konnte er werden, nie grausam, nie hart. Erhabenheit der Gesinnung und Güte des Herzens sind solche himmlische und unzerstörbare Gaben, daß sie wol verdunkelt, aber nie Demjenigen ganz geraubt werden können, dem die Vorsehung sie ertheilte.

In den ersten Jahren seiner Regierung strebte Alexander nur, die inneren Staatskräfte zu entwickeln und der Aristokratie, deren Bemühen, die Herrschermacht des Kaisers nicht blos zu beschränken und zu theilen, sondern sie mehr und mehr ganz an sich zu ziehen, schon damals sehr auffallend merklich wurde, ein Gegengewicht zu geben. Um sein Wollen und Streben in dieser Hinsicht richtig beurtheilen zu können, muß man zwei Eigenthümlichkeiten der russischen Verwaltung nicht aus den Augen lassen. Die eine ist, daß die Regierung in dem dritten Stande zur Zeit noch keine Stütze gegen die Aristokratie finden kann, weil Jeder, der der Krone dient, zum Adel übergeht, sobald er im Civil- oder Militairstand Officierrang erhält, und ebensowenig kann die russische Geistlichkeit vermittelnd zwischen Thron und Adel treten. Der russische Geistliche muß das ihm zugetheilte Feld so gut bearbeiten wie der Bauer, und seine Kinder gehören diesem Stande an. Der Stand der Geistlichen ist für den Staat kein Stand in politischer Bedeutung. Der Kaiser Paul hatte die Geistlichen von der Feldarbeit befreit, und die Bauern mußten ihren Acker bestellen; Alexander nahm diese Verordnung seines Vaters wieder zurück, und das war vielleicht ein Fehlgriff in einem Staate, wo von dem Volke nie die Rede ist und noch lange nicht sein wird. Es wäre ein Glück für den Kaiser gewesen, wenn seine Thätigkeit diese Richtung nach innen behalten und er der Versuchung widerstanden hätte, sich als Feldherr mit Napoleon messen zu wollen. Als legitimer Monarch hatte er als Regent ein unermeßliches Uebergewicht über diesen, das er nie als Feldherr auf das Spiel setzen und Napoleon dadurch mit sich auf gleichen Fuß setzen durfte.

Ein legitimer Monarch hat es viel leichter, ein großer und berühmter, ja selbst ein gerechter Regent zu werden, als einer, der aus eigner Machtvollkommenheit den Thron besteigt. Der Erstere hat es in seiner Macht, seinen Charakter frei nach seiner individuellen Richtung und Kraft zu entwickeln, der Schauplatz seiner Thätigkeit ist unbeschränkt; er darf sogar menschlich sein und kann, wenn er es nur nicht gar zu arg macht, bei seinem Volk auf Liebe, Dank und Anerkennung rechnen; ja, die Menge ist so gutmüthig, daß sie schon Den als trefflich preist, der auf einem hohen Standpunkte das Böse unterläßt, was er thun könnte. Der Andere dagegen wird als Regent in allem seinen Thun und Wirken durch Eifersucht und Parteisucht bekrittelt und getadelt; er muß seine Hauptkräfte zum Kampf mit der Gegenpartei - und diese gibt es für ihn immer - aufbrauchen, und die gelungenste Ausführung seiner Pläne steigert von dieser Seite oft nur die Gefahr für ihn. Menschlich zu sein, im hohen Sinne des Wortes, ist für ihn das Schwerste, da der Parteigeist ihm wehrt, es sein zu dürfen. Auf allgemeine, auf dankbare Anerkennung hat ein Emporgekommener, ein fürstlicher Parvenu nun vollends nie zu rechnen. Jeder Bürgerliche macht schon die Erfahrung, daß ihm seine Kenntnisse und Talente nie von den Adeligen zum Verdienst angerechnet werden; sie setzen diese als nothwendig bei ihnen voraus, als hätten sie sie mit auf die Welt gebracht, und als wäre es ihre Schuldigkeit, kenntnisreich und geschickt zu sein. Dagegen läßt die Aristokratie so leicht keinen der Ihrigen fallen, der nicht dem System ihres Standes untreu geworden ist, denn dies ist eine Sünde, die sie nie vergibt. Kann man nun in den höchsten Ständen weniger esprit de corps voraussetzen? Nur in Zeiten allgemeiner Gefahr erlaubt man es einem Einzelnen, der nicht geborener Fürst ist, groß zu sein und es zu scheinen, weil dann der Parteigeist vor der Gefahr, die dem Ganzen droht, verstummt; aber er hat von Glück zu sagen, wenn man es ihm nach überstandener Gefahr vergibt, das Vaterland gerettet zu haben.

Diese großen Vorzüge der Legitimität gab Alexander durch seinen ersten Feldzug gegen Napoleon gewissermaßen aus den Händen. Die Schlacht von Austerlitz wurde zum Wendepunkt in seinem Leben; auf ihren blutigen Leichengefilden ging die Sonne seines Friedens unter und nie ging sie ganz unbewölkt wieder auf. Der Kaiser lieferte sie gegen den Rath aller seiner Feldherren; Kutusow bat ihn fußfällig, Benningsens Ankunft sowie auch die des Erzherzogs Karl abzuwarten; allein die Jugendglut seines Ehrgeizes riß ihn fort. Es war die erste Schlacht, der er beiwohnte, und er zeigte viel persönliche Tapferkeit; sein Pferd stürzte unter ihm und er verdankte seine Freiheit und sein Leben nur der Tapferkeit eines gemeinen russischen Soldaten*). Alexander mußte fliehen. Tausende seiner Krieger sah er blutig verstümmelt, Tausende versanken unter der trügerischen Eisdecke, die unter ihnen brach, und Alexander glaubte sich nach seiner religiösen Ueberzeugung verpflichtet, einst von jedem Einzelnen unter ihnen Rechenschaft ablegen zu muffen. Seit dieser Schlacht waren seine edelsten Thaten kein Product erhabener sittlicher Freiheit mehr; sie waren Buße, Sühne für vergossenes Blut.

Der Prunk und der Glanz des Thrones und seines Ceremoniels waren von jeher für Alerander eine Last, von der er sich befreite, wo er nur konnte. Er begriff lange nicht, daß die Etikette und das Hofgepränge eine Wohlthat für die Menschheit sind, weil sie den Vornehmen die einzigen Befriedigungen gewähren, die sie sich nicht geradezu auf Unkosten der Geringeren verschaffen, sondern die im Gegentheil ihren Einfällen und Begierden einen nützlichen Kappzaum anlegen. Mag gleich die Form der Convenienz oft der Entwickelung der Tugend hinderlich sein, so gleicht sich dies dadurch wieder aus, daß sie noch öfter den Ausbruch kühner Laster verhindert; je mehr die Großen sich mit ihren Spielwerken beschäftigen, desto gesicherter sind die Kleinen. Wenn sie so ganz unter sich sind, gedenken sie freilich aller Derer, die nicht zu ihnen gehören, nur mit Geringschätzung; aber es ist für diese ein Glück, daß an unseren Höfen jeder Einzelne seine gefährlichsten Waffen an solchen Erbärmlichkeiten abstumpft. Je närrischer, je eitler ein solcher Hofmann ist, je unschädlicher ist er. Man fühlt sich aber, wenn man das Betragen der Geringeren gegen die Vornehmeren sieht, oft gezwungen, anzunehmen, daß ihnen ihre sklavische Unterwürfigkeit gegen die Reichen und Mächtigen angeboren ist, so ekelhaft sie auch erscheint; sie entspringt aus der lebhaften Begierde nach Dem, wovor man sich beugt, und selbst der Kluge und Starke, wenn er auch alle andere Vorurtheile besiegt hat, überwindet dieses am schwersten und gemeinhin zu spät für seine sittliche Vollendung.

Alexander mußte im Kreise seiner Höflinge oft gegen sein Gefühl schlechte Menschen politisch schonend behandeln und die Empörung verhehlen, mit der er es immer heller und heller einsah, daß alle Anbetung, die man ihm zollte, nur eine Art des Götzendienstes war, mit der man vor der Fortuna im Staube kroch. Man hat dem Kaiser oft einen Vorwurf daraus machen wollen, daß er dem Zauber der Neuheit zu viel Gewalt über sich einräume; aber man muß bedenken, daß ein Monarch doch auch so gut wie jeder andere Erdenbürger das Bedürfniß fühlt, durch lebhafte Empfindungen angeregt zu werden: die Menschen, die er täglich sieht, weiß er bald auswendig; nur ein neuer Ankömmling vermag ihn zu interessiren. Alexander war nun überdem, als er den Thron bestieg, ein Jüngling mit einem liebebedürfenden Herzen, voll der edelsten Schwärmerei für Tugend, Liebe, Freundschaft. Er war ein edler Jüngling, voll der ausgezeichnetsten, vortrefflichsten Anlagen; aber er blieb doch auch auf dem Throne ein Mensch; so konnte seinem hohen Werthe der Schatten nicht fehlen, und diesen warf die Eitelkeit auf ihn. Sein Sinn, sein Herz, seine Seele weckten das Bedürfniß in ihm, ausgezeichnete Menschen an sich zu ziehen und doch konnte er keine Eminenz dulden, und wo er auch nur auf Sekunden Uebergewicht des Geistes empfand, ließ er den Mann fallen. Er wollte durchaus in ganz Europa dafür gelten, allein zu regieren, und die Welt sollte keinen Mann kennen, dem man auf die Regierung des Staats einen leitenden Einfluß zutrauen könne. Auf die Dauer konnte er daher keinen Mann um sich dulden, der auf seiner eignen Kraft und Stärke ruhte und diese nicht von ihm blindlings und knechtisch nach seinen Ansichten verwenden ließ. Die moralische Macht eines Monarchen ist unermeßlich; das bloße Anerkennen der Verdienste seiner Diener erhebt und beglückt diese, von welchem Range sie auch sein mögen, so hoch, daß es sie alles Bittere früherer Vernachlässigungen vergessen macht, ihnen die schwerste Arbeit versüßt und ihre Moralität kräftigt. Alexander war sich dieser moralischen Macht sehr gut bewußt; allein seine Eitelkeit vergönnte es ihm oft nicht, sie zu benutzen. Verstand, Kenntnisse, Talent, diese konnte er dulden und anerkennen; damit reicht man aber noch nicht aus, um ein guter Minister zu werden. Um dies zu sein, muß der Mann auch wahrhafte Energie und einen entschiedenen Charakter haben, denn nur der Stempel der geistigen Mannhaftigkeit, den dieser seinem Thun und Wesen aufdrückt, verschafft ihm über seine Untergebenen die Gewalt, sie zu brauchbaren und willigen Werkzeugen und Vollziehern seiner Absichten zu machen. Diesen Stempel duldete Alexander nicht, weil er selbst zu liebenswürdig war, um ihn seinem eignen Wirken aufdrücken zu können. Es ist für einen Monarchen unsäglich schwer, sich die zu seinem Beruf erfoderliche Tüchtigkeit und Thätigkeit zu erwerben. Seit seiner Kindheit lebt er wie in einem Götzentempel eingeschlossen, wo ihn seine Hofleute mit Abgötterei speisen, und nie wird es ihm so gut, mit Menschen menschlich leben zu dürfen. Unsere Zeit hat auch hierin Fortschritte zum Bessern gethan, aber zwischen dem Monarchen und seinem Volke liegt doch noch immer eine große Kluft, und selbst die besten Fürsten können sich nie ganz in die Lage eines Menschen versetzen, der kein Fürst ist; sie ahnen gar nicht, was uns Uebrige Alles drückt und drücken kann. Ihre Verhältnisse gegen die Menschen werden ihnen so leicht, daß sie sich von der Schwierigkeit der unsrigen keinen Begriff machen können dies ist auch, beiläufig gesagt, die Ursache, warum fast allen Fürsten die Fähigkeit fehlt, ein dichterisches Werk zu empfinden und zu verstehen; sie haben von den Beziehungen, Lagen und Verhältnissen selten einen Begriff oder auch nur eine Ahnung, die man kennen und empfinden muß, um einen Dichter richtig zu verstehen und sich in seine Dichtung hineinfühlen und hineindenken zu können. Dagegen kosten aber auch dem Privatmann seine Tugenden wahrlich nicht so viel Anstrengung, als es den Großen kostet, das Böse zu unterlassen, was sie so leicht thun können, und das Schlechte zu hintertreiben, was Andere so gern in ihrem Namen thun möchten. Nur wer sich in dem Besitz von Macht weiß und fühlt, kann von dem gefährlichen Einfluß urtheilen, den diese auf unsere Denk- und Sinnesweise hat. Kein Glück ist daher auch schwerer mit Mäßigung und Erinnerung seiner Lage zu tragen als die Gunst der Fürsten. Frauengunst verliert ihren Reiz durch den Genuß; der Durst nach Fürstengunst nimmt während des Genusses immer zu. Wie darf man nun von dem Manne, dessen Gunst diesen Zauber übt, und der die Wirkung davon auf Alle, die ihn umgeben, täglich, ja stündlich wahrnimmt, fordern, er allein solle sich nicht von seiner eignen Zaubermacht berauschen lassen? - Wie treu, wie wahr und innig würde Alexander geliebt worden sein, wenn er nicht Kaiser gewesen wäre! Seine unbeschreibliche, seine wahrhaft unwiderstehliche Liebenswürdigkeit und seine hohe Trefflichkeit hätten ihm als Mensch jedes Herz gewonnen; aber nun, als Kaiser, reizten und misbrauchten ihn die Menschen so lange, bis sie seine edelsten Eigenschaften vergiftet und ihn so weit gebracht hatten, daß er mit gebeugtem, verdüstertem Geiste ein unheilbar verwundetes Herz mit sich umherschleppte.




*) Dieser Soldat hieß Ilia. Er schlug alle Beförderung und jede andere Belohnung aus als die, der Leibkutscher seines Kaifers zu werden. Als solcher hat er freilich, sowie auch der kaiserliche Mundkoch, Oberstenrang. Bei dem Tode Alerander’s konnte Ilia durch nichts bewogen werden, sich von der Leiche seines Gebieters zu trennen. Er fuhr diese von Taganrog nach Petersburg zurück und schlief, trotz der Kälte und seines hohen Alters, jede Nacht unter dem Wagen, der die entseelte Hülle trug.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Zwei Jahre in Petersburg