Echte Ahnungen in die Zukunft?

Anders würde es dagegen mit den Ahnungen in die Zukunft stehen. Wenn deren Realität sicher nachgewiesen würde, wozu jedoch zunächst gar keine Aussicht vorhanden ist, zumal die Zahl der hierher gehörigen, wenigstens halbwegs zuverlässigen und einigermaßen glaubwürdigen Berichte nahezu gleich Null ist, so würden die bekannten Naturkräfte nicht ausreichen, tun zu erklären, wie einem Menschenhirn der Gang der zukünftigen Ereignisse offenbar werden könne. Freilich wissen wir gewisse Dinge bis zu einem bestimmten Grade voraus: wir können auf die Sekunde genau vorher sagen, wann morgen die Sonne aufgehen wird, und können haarscharf angeben, wie in 5000 Jahren die Planeten zueinander stehen werden. Mit einem gewissen Grad von Wahrscheinlichkeit können wir auch prophezeien, wie sich morgen das Wetter gestalten oder wie ein uns aufs genaueste bekannter Mensch sich in einer schwierigen Situation verhalten wird. In allen derartigen Fällen können wir uns auf mathematische Regeln oder auf Analogieschlüsse berufen, welche unseren Prophezeiungen für die Zukunft einen reellen Hintergrund und den Charakter eines streng logischen Schlusses verleihen. Man kann es natürlich weder als Weissagung noch als Ahnung bezeichnen, wenn jemand richtig vorhersagt, dass heute Abend sicher die Sonne untergehen, dass ein mit dem Tode ringender Mensch morgen tot sein wird oder dass nach Beendigung der Schlacht Leichen auf dem Schlachtfeld liegen werden. Der übersinnliche Charakter der auf Ahnung und Hellsehen beruhenden Zukunftsenthüllungen liegt eben gerade darin, dass, jeder sinnliche und logische Anhalt für die Prophezeiung fehlt, dass es sich nicht um eine gedankliche Kombination, sondern tun eine scheinbar völlig willkürliche und durch nichts berechtigte, durch nichts beweisbare Behauptung handelt.

Unter den Erzählungen von angeblichen Ahnungen in die Zukunft finden sich keine, die verhältnismäßig so gut verbürgt sind wie die oben mitgeteilten Berichte von Ahnungen in die Ferne. Die berühmteste ist die sogenannte Vision Karls XI. von Schweden: Dieser König soll im Jahre 1697 im Palast zu Stockholm ein kompliziertes zweites Gesicht gehabt haben, das sich auf die Ermordung seines fünften Nachfolgers, König Gustav III. (16. März 1792) und die Hinrichtung des Mörders Ankarström bezog. Der umfangreiche Bericht über diese eigentümliche Vision, die unzählig oft zitiert ist, mag etwa in Horsts „Deuteroskopie“ (Bd. II, S. 175 ff.) nachgelesen werden. Es hat keinen Wert, hier weiter darauf einzugehen, denn die ganze Geschichte ist wieder eine post eventum, also nach 1792 entstandene, zweifellose Fälschung und daher ohne jedes wissenschaftliches Interesse.


Dagegen seien zwei weitere, von Horst mitgeteilte, interessante Fälle von zukunftdurchdringenden zweiten Gesichten mitgeteilt, die noch verhältnismäßig am besten beglaubigt und am beweiskräftigsten unter vielen ganz wertlosen Berichten sind — Einäugige unter Blinden:

Zunächst ein Fall von todkündendem zweiten Gesicht aus Deutschland, wie er in ähnlicher Form aus Schottland sehr häufig berichtet wird:

„Als der Fürstbischof von Würzburg, Conrad Wilhelm, im Jahre 1684 den 14ten Julius bei noch guter Gesundheit eine Wasser-Spazierfahrt nach seinen Gartenanlagen zu Veitshöchheim wir hinzu, das sechzig Jahre später durch Renata Sengerin so berühmt oder vielmehr berüchtigt ward) vorbei kam, sah dessen Schwester, welche Priorin des Klosters war, aus den Fenstern desselben eine mit einem schwarzen Leichentuch bedeckte Totenbahre im Vorderteile des Schiffes dicht vor ihrem Bruder stehen, der, um die freie Luft und schöne Aussicht zu genießen, diesen Platz auf dem Schiffe gewählt hatte. Sie erblasste, fuhr bebend zurück und war einer Ohnmacht nahe. Als man sie fragte, was ihr so plötzlich zugestoßen, erzählte sie, was sie gesehen habe. Die andern, welche in ihrer Umgebung gewesen waren, hatten nichts davon wahrgenommen. Man suchte sie zu überreden, dass das Gesicht etwa auf einer Sinnentäuschung beruht haben möchte, und sie ließ es geschehen und schwieg stille.

Aber bereits den 8. September desselben Jahres starb ihr Bruder, der Fürstbischof, nach kurzem Krankenlager.“

Wie hier das Bild eines Sarges den baldigen Tod eines scheinbar gesunden Menschen anzeigt, so wird die Todesbotschaft in andren Fällen dadurch dem mit dem zweiten Gesicht Begabten mitgeteilt, dass die lebende Person, welcher der Tod bevorsteht, ohne Kopf oder auch in ein Leichentuch gehüllt gesehen wird. Gelegentlich aber nehmen die Vorgesichte auch bestimmtere Formen an und schauen — gleichviel ob im Wachen oder im Schlaf — alle Einzelheiten eines Ereignisses vorher.

Horst teilt aus einem Brief eines hochgebildeten Mannes an Prof. Dr. Kieser u.a. die folgende Stelle mit (Bd. II, S. 111):

„Anfangs März 1804 saßen wir im väterlichen Hause morgens beim Frühstück , als meine ältere Schwester unsere Aufmerksamkeit für einen seltsamen Traum in Anspruch nahm, welcher, wie sie sagte, sie in verflossener Nacht gequält hatte. Im Traume hatte sie nämlich die Frau des uns gegenüber wohnenden und uns befreundeten Bürgermeisters mehrere Male in unsere Stube kommen und wieder zurückgehen gesehen; sie war allemal freundlich, wie sie es in der Wirklichkeit zu sein pflegte, setzte sich aber bald und schlief ein. Der Traum machte nun einen Sprung; der Bürgermeister trat mit einem Male heftig weinend in die Stube und kündigte den Tod seiner Frau an; alles weinte mit ihm, da die Frau von uns allen geliebt war; dann bat er meine Schwestern, für die Ausschmückung der Leiche, meine Eltern, für die Beerdigung zu sorgen, indem es ihm unmöglich wäre, mit seinen Kindern dem traurigsten Schauspiele beizuwohnen. Als man eben zum Begräbnis aufbrechen wollte, fiel plötzlich ein Platzregen ein, mein Vater ließ schnell den Leichenwagen unter unsern Torweg bringen, die Geistlichen und noch einige der Leidtragenden traten in unsere Stube, wo ihnen ein Morgenwein vorgesetzt wurde, bis nach einiger Zeit der Regen aufhörte und die Beerdigung vor sich ging usw.

Dieser ganze denkwürdige Traum ging kurze Zeit nachher nach allen seinen einzelnen Umständen und anscheinenden Zufälligkeiten so pünktlich in Erfüllung, dass der Vater seinem Sohne darüber nach Würzburg schrieb: ,Den Tod der B. betreffend, so brauche ich Dir über die näheren Umstände dieses Todesfalls weiter nichts zu sagen, als dass der Traum Deiner Schwester dabei durchaus wirklich geworden ist usw.‘ Von inneren Beängstigungen getrieben, war die Leidende anfangs der Krankheit mehrmals in die Stube gekommen, hatte sich niedergesetzt und war einmal eingeschlafen usw. usw.“

Wenn diese und zahllose ähnliche Erzählungen von Ahnungen in die Zukunft unbedingt zuverlässig wären, was sie jedoch in keinem der bisher bekannt gewordenen Fälle uneingeschränkt sind, so ließen sie sich allerdings nach unsren heutigen Kenntnissen von den Vorgängen in der Natur durch keinerlei physikalische, chemische oder sonstige „natürliche“ Prozesse erklären oder auch nur verständlich machen. Ein Fall von zweitem Gesicht, wie die oben mitgeteilten oder wie der von dem berühmten schottischen Seher des 18. Jahrhunderts Duncan Campbell, der einem auffallend schönen jungen Mädchen richtig prophezeit haben „soll“, sie werde in wenigen Jahren an den Kinderblattern sterben, oder ähnliche Prophezeiungen, von denen eine große Anzahl richtig eingetroffen sein „soll“, ohne dass das Ereignis durch irgend ein sinnlich wahrnehmbares Vorzeichen vorher angezeigt oder durch den Gang der folgenden Ereignisse begünstigt und verursacht wurde, würden unsren heutigen wissenschaftlichen Kenntnissen und Deutungen völlig unzugänglich sein. Mit Recht sagt Alfred Lehmann:

„Man muss vom Hellseher annehmen, dass er in einem gegebenen Augenblick eine solche Kenntnis von dem Weltzustande hat, dass er daraus unbewusst den Schluss ziehen kann, was an einem bestimmten Orte und zu einem bestimmten späteren Zeitpunkte geschehen wird. Kenntnisse vom Weltzustande in einem gewissen Momente zu haben, ist aber dasselbe, wie allwissend zu sein. Hellseherei käme also einer momentanen Allwissenheit sehr nahe.“

Wird nun trotzdem dereinst der sichere und einwandfreie Nachweis erbracht, dass derartige echte Ahnungen in die Zukunft möglich sind, dass menschlicher Verstand in die Geheimnisse des künftigen Weltgeschehens einzudringen vermag, ohne sich auf Analogbeschlüsse zu stützen, so werden wir vermutlich eine mehr oder weniger mystische, spiritualistische Erklärung notwendigerweise akzeptieren, das Vorhandensein von übersinnlichen Kräften und Wesen zugeben müssen und unser gegenwärtig bestehendes, von nichtintellektuellen Energien beherrschtes, naturwissenschaftliches Weltbild schwerlich vor einer völligen Umwälzung bewahren können. Noch hat es aber bis dahin gute Wege; noch ist der Nachweis von wirklichen Ahnungen in die Zukunft nicht erbracht, der sich nicht auf ein „Es soll“, „Ich glaube“ und „Man sagt“ stützen dürfte, sondern nur auf ein sichres und unwiderlegliches „Es ist“. Dass ein solches aber je erbracht werden wird, ist allem Anschein nach mehr als unwahrscheinlich!


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Zu Wunder und Wissenschaft