Zionismus und deutsche Politik

Dem mächtigen Deutschen Reiche gegenüber nimmt die zionistische Gesamtorganisation naturgemäß dieselbe Stellung ein, wie gegenüber den anderen Großmächten. Sie ist aufs höchste daran interessiert, daß die deutsche Politik in der Türkei die jüdischen Projekte auf Schaffung einer öffentlichrechtlichen gesicherten Heimstätte für das jüdische Volk in Palästina fördert. Ferner muß sie versuchen, das Deutsche Reich zu diplomatischen Schritten zugunsten in anderen Ländern verfolgter Juden von Fall zu Fall zu veranlassen. Aber stellen wir diese Forderungen im Namen unseres uralten Rechtes, der Menschlichkeit und der wirtschaftlichen Zweckmäßigkeit an alle Mächte und erübrigt es sich daher, sie im besonderen Hinblick auf Deutschland nochmals eingehend zu behandeln, so bieten sich doch noch eine Reihe besonderer Gesichtspunkte.

Das Deutsche Reich spielt heute finanziell, industriell und kommerziell in der Türkei von Jahr zu Jahr eine bedeutendere Rolle und dementsprechend wächst der Einfluß, den seine Diplomatie in die Wagschale zu werfen hat. Es gilt als Schutzherr der Mohammedaner gegenüber europäischen Annexionsgelüsten und verfolgt im Gegensatz zu anderen Mächten nur wirtschaftliche und keine territorialen Interessen in der Türkei, ebensowenig wie es die politische Herrschaft über ehemals türkische Gebiete im Kreise der palästinensischen Nachbarländer ausübt. Daher muß eine deutsche Intervention zugunsten des Zionismus für die Türkei von besonderem Gewichte sein, da sie hinter ihr keine versteckten politischen Eroberungspläne zu fürchten braucht. Daher hätte sie auch in einem Hinneigen der türkischen und palästinensischen Judenheit zu Deutschland eine Verletzung der Treuepflichten gegenüber dem Landesherrn nicht zu erblicken; denn für Deutschland hat eben der Satz keine Geltung, daß europäische Interventionen zugunsten des Zionismus nur das Gegenteil erreichen, weil die Türkei politische Umtriebe argwöhnen müsste.


Der deutsche Kaiser hat das größte Interesse für den Zionismus gezeigt, als Theodor Herzl ihm 1898 an der Spitze einer zionistischen Deputation in Jerusalem entgegentrat. Ebenso hat der Großherzog von Baden sich wiederholt für den Zionismus ausgesprochen. Ebenso weisen alle seine Interessen Deutschland auf die Unterstützung des Zionismus hin. Denn es liegt auf der Hand, daß alle Bestellungen, welche jüdisches Kapital auf Grund der durch Deutschlands Eingreifen erhaltenen Konzessionen in Europa zu vergeben hat, der deutschen Industrie zufließen würden. Es ist auch zu hoffen, daß in diesem Falle die deutsche Regierung die industriellen und finanziellen Vertreter der deutschen Judenschaft zur Mitarbeit an der wirtschaftlichen Erschließung Palästinas ermutigen würde.

Aber auch das historische Band, das das Judentum an die deutsche Kultur knüpft, die Tatsache, daß acht Millionen Juden Deutsch beziehungsweise den jüdischdeutschen Dialekt sprechen, daß Deutsch stets die offizielle Verkehrssprache des Zionismus, die Verhandlungssprache der Kongresse gewesen ist, müsste dem Deutschen Reiche Anlaß sein, die zionistische Organisation so zu unterstützen, wie die französische Regierung stets hilfreich hinter der Alliance Iraélite Universelle gestanden hat.

Wir deutschen Zionisten müssen ein Inniges politisches Verhältnis zwischen unserer Organisation und dem Lande, dem wir als Bürger mit aller Treue angehören, mit besonderer Freude begrüßen. Wir sehen zwischen beiden nicht den Schatten eines Konfliktes; vielmehr hoffen wir, daß die deutsche Regierung die historische Notwendigkeit und die wirtschaftliche Zweckmäßigkeit des Zionismus immer mehr einsieht. Wir sind überzeugt, daß wir dem Zionismus wie dem Deutschen Reiche nicht besser dienen können, als wenn wir zu gleicher Zeit überzeugte Anhänger der jüdischen Volksbewegung und treue Bürger des Deutschen Reiches sind.

Ist so die Stellung des Zionismus zur deutschen Politik nach außen klar und unzweideutig festgelegt, so hat zur inneren deutschen Politik die zionistische Organisation überhaupt keine Stellung zu nehmen, sondern mit ihr haben wir uns als jüdische Bürger des Deutschen Reiches auseinanderzusetzen und der Standpunkt des Zionisten wird hier genau derselbe national-jüdische sein, wie der der paar Autonomisten und Territorialisten, die es in Deutschland gibt. Die Grundfrage für uns ist hier unsere Stellung zu den politischen Parteien; als gute Bürger sind auch wir im modernen Staate verpflichtet, Partei zu er greifen und so unser Verhältnis zur Landesregierung zu fixieren.

Ausnahmslos dürften die deutschen Juden jedes Kokettieren mit den Partelen der Rechten aufs schärfste verurteilen. Einmal vom jüdischen Standpunkte aus: die Parteien der Rechten, d. h. alle rechts vom Abgeordneten Bassermann, sind Antisemiten und machen aus Ihrem Antisemitismus kein Hehl. Sie stemmen sich der faktischen Gleichberechtigung der Juden in jeder Weise entgegen, triumphieren über die Russen-Ausweisungen, kurzum tun alles, was die deutschen Juden nur irgend schädigen und verletzen kann. Ebenso verfolgen sie in Palästina fast ausschließlich deutschevangelische Interessen und stehen dort allen jüdischen Bestrebungen schon aus angeborenem Judenhass heraus wenig sympathisch gegenüber.

Aber ebenso energisch müssen wir aus Gründen innerer deutscher Politik gegen die Parteien der Rechten Stellung nehmen. Wir Juden sind zumeist Städter. Wir sind Kaufleute, Industrielle, Intellektuelle oder Handwerker. Wir haben das allergrößte Interesse an billigem Fleisch und billigem Brot. Wir sind aufs innigste verknüpft mit allem, was die freie wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands fördert. Die Angehörigen des Kaufmannsstandes können nicht mit denjenigen Parteien gehen, welche z. B. durch das Börsengesetz die wirtschaftlichen Interessen ihres Standes aufs allerschwerste geschädigt haben und durch das Vorgehen gegen die Warenhäuser, gegen den Hausierhandel usw. zum Teil bewußt antisemitische Wirtschaftspolitik getrieben haben.

Für das Zentrum gilt zum Teil, was wir eben über die Rechte gesagt haben; wenn auch in Norddeutschland der Antisemitismus innerhalb des Zentrums noch keinen allzu großen Boden gefunden hat, so ist z. B. in Bayern, wie der Antrag Heim auf Durchführung der proportionellen Parität innerhalb des Beamtentums, wie die Unterstützung der antisemitischen Agitation in München bewiesen hat, das Zentrum durch und durch antisemitisch verseucht. Außerdem ist es eine konfessionelle Partei, die auf streng positiver Grundlage steht, und mit der sich höchstens ein Jude von gleicher Orthodoxie wie seinerzeit der starre Lutheraner v. Gerlach abfinden könnte.

Es bleiben also für eine politische Betätigung der Juden in Deutschland nur die Parteien der Linken übrig. Es sind die Parteien, denen heute schon fast alle deutschen Juden angehören und sie sind die einzigen, die auch Juden einigermaßen die Möglichkeit der Erlangung politischen Einflusses gewähren. Die deutschen Juden würden es in ihrer erdrückenden Mehrzahl überhaupt nicht verstehen, wenn die Zionisten unter heutigen Verhältnissen andere Gruppen als die Parteien der Linken unterstutzen wollten, ja sie würden es fast für einen Verrat ansehen, wenn ein Jude sich mit unseren gemeinsamen antisemitischen Feinden in irgendwelche Kompromisshändelei einlassen wollte.

Die Gründe, welche gegen eine selbständige jüdisch-nationale Partei sprechen, and im Laufe der letzten Jahre treffend auseinandergesetzt worden. Wir haben keine geschlossene jüdische Masse, wir können infolgedessen nirgends aus eigener Kraft Kandidaten bei den Wahlen durchbringen und außerdem würde die Verfolgung einer jüdischnationalen Kulturpolitik im politischen Leben Deutschlands an inneren wie an äußeren Widerständen scheitern. Es bleibt also nur übrig, Beeinflussung der Parteien der Linken zur Wahrung der jüdischen Interessen. Nun ist es doch wahrlich nicht übermäßig viel, was wir Juden, welcher politischen oder religiösen Schattierung wir auch angehören, von den deutschen politischen Parteien zu verlangen haben. Es ist nichts weiter als das, was die westlichen Kulturstaaten längst durchgeführt haben, nämlich 1. die verfassungsmäßig gewährleistete, restlose, administrative Gleichstellung der Juden in allen Bundesstaaten und für alle Karrieren. Nur die Befähigung darf für die Besetzung von Stellungen entscheiden. 2. Einführung richterlicher Berufung bei politischer Ausweisung. Nach l0jährigem Aufenthalt muß jeder fremde Staatsangehörige das Recht auf Naturalisation haben. Wir fordern die Schaffung eines modernen Fremden und Naturalisationsrechts, damit nicht der ausländische Jude, nur weil er Jude ist, aus Polizeiwillkür, ohne Möglichkeit einer Appellation an eine richterliche Behörde, ausgewiesen werden kann, und damit nicht Juden, welche schon seit einer Reihe von Jahrzehnten in Deutschland ansässig sind, deren gesamte Interessen mit Deutschland verflochten sind, von der Naturalisation ausgeschlossen bleiben, damit nicht auch ihre in Deutschland geborenen Kinder in Deutschland stets Fremde bleiben, die überhaupt nicht mehr wissen, wo sie eigentlich, ihrer Staatsangehörigkeit nach, hingehören, kurz damit wir nicht in Deutschland mit der Zeit rumänische Verhältnisse bekommen. Denn die Zahl der ausländischen Juden wächst bedeutend schneller als die der einheimischen, deren Zuwachs durch die abnorm niedrige Geburtenziffer sowie durch die Taufsucht ein verschwindender geworden ist.

Das sind die beiden Hauptforderungen. Sie werden heute schon im Prinzip von den Parteien der Linken vertreten, wenn auch in der Praxis oftmals nicht mit dem nötigen Nachdruck. Im übrigen bedürfen wir einer öffentlich-rechtlichen Neuorganisation und Zusammenfassung der jüdischen Gemeinden in Deutschland und differieren zum Teil von den Liberalen in unserer Stellung zur Frage der Konfessionsschule. Doch handelt es sich für die Juden auch bezgl. der konfessionellen Schule um keine Frage von ernster Bedeutung, und wenn eines Tages für die gesamte Bevölkerung die religionslose Schule eingeführt werden sollte, so werden sich auch die Juden damit einverstanden erklären und ihren Kindern das jüdische Erziehungselement in anderer Weise zuführen.

Es ist die Gründung eines besonderen Verbandes zwecks Einflussnahme der Juden auf die innere deutsche Politik in dem eben charakterisierten Sinne vorgeschlagen worden. Eine Neugründung wäre aber zwecklos, denn wir haben ja schon im Verband der deutschen Juden und im Zentral-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens Organisationen, welche speziell diesen Interessenkreis verfolgen und die ja auch schon anlässlich der Schulfrage in Preußen die jüdischen Interessen, soweit ihre Kräfte reichten, vertreten haben. Die Zionisten sind ebenfalls im Verbande vertreten, und einzelne von uns sind auch Mitglieder des Zentralvereins. Unser Streben, das auf eine einheitliche Zusammenfassung aller Juden Deutschlands gerichtet sein muß, wird sich grade auf diesem Gebiete im Zusammengehen mit den anderen jüdischen Gruppen manifestieren können, ohne daß wir von unseren Prinzipien auch nur ein Tüpfelchen aufzugeben hätten, und wir bringen die unserer Bewegung noch fern stehenden, aber jüdisch interessierten Elemente uns näher, wenn wir mit ihnen zusammen unsere gemeinsamen Interessen verfechten und uns in diesem Streite als klar denkende, ruhige und vernünftige Männer gezeigt haben. Wir können mit dem Verbände wie mit dem Zentral-Verein um so eher zusammengehen, als ja die Gründung beider schon einen großen Fortschritt in der Organisation der deutschen Juden darstellt. Denn wir müssen bedenken, daß beide Vereine gar nicht von eigentlichen Assimilanten geleitet werden, sondern von Leuten, die immerhin stolz auf ihr Judentum sind, bewusste Juden sind und das Judentum in der Zukunft erhalten wollen.

Durch die Gründung der zahlreichen jüdischen Organisationen aller Art in Deutschland, die heute auf eine planmäßige Zusammenfassung und Leitung geradezu warten, hat sich die Struktur der deutschen Judenschaft in den letzten 30 Jahren wesentlich verschoben. Wir sind nicht mehr die willenlose, formlose Masse versprengter Individuen, die keines einheitlichen politischen Strebens fähig sind, sondern die Juden, die wir zu politischer Betätigung als Juden und im jüdischen Sinne heute heranziehen können — und es ist das trotz alles Indifferentismus doch noch die erdrückende Mehrzahl aller deutschen Juden — ist langsam zu bewussten, stammesstolzen Juden geworden. Mit diesen Faktoren müssen die Parteien der Linken, welche in irgend einer Weise auf unsere Unterstützung zählen wollen, rechnen, denn wenn wir auch in der Linken nicht übermäßig viele Spuren politischen, sozialen und wirtschaftlichen Antisemitismus finden, so ist gerade hier um so verbreiteter, das, was wir kulturellen Antijudaismus nennen möchten. Das Judentum gilt ihnen, den geistigen Kindern der Aufklärung, als etwas längst Verfallenes, dem Untergang Geweihtes. Für sie endigt der Anteil des Judentums an der Menschheitskultur mit der Geburt Christi, und was das Judentum späterhin geleistet hat, haben nach ihrer Anschauung einzelne Individuen getan, während das Juden um als Gesamtheit ein reaktionäres Element darstellt. Für alle diese Kreise war eigentlich der getaufte Jude, der Jude, der sich aus allen Banden der Tradition gelöst hatte, der Idealmensch an sich. Von den Liberalen hat Mommsen seinerzeit in der philosemitischen Broschüre „Auch ein Wort über unser Judentum“ von der christlichen Grundlage unserer Weltkultur gesprochen. Er hat die Judentaufe direkt empfohlen und alle jüdisch-kulturellen Bestrebungen verdammt. Von den Sozialisten hat seinerzeit Marx die Existenz des Judentums als kulturellen und religiösen Faktors überhaupt geleugnet. Er betrachtet es nur als engherzigen Schachergeist, von dem der Satz gelte: „Die gesellschaftliche Emanzipation der Juden ist die Emanzipation der Gesellschaft vom Judentum“, und die Sozialdemokratie steht heute noch überall allen bewußt jüdischen Bestrebungen feindlich und voll gänzlichen Unverständnisses gegenüber.

Somit werden die Parteien der Linken ihre Anschauung über den Wert des Judentums als Kulturfaktor revidieren müssen. Sie werden sich damit abfinden müssen, daß die Juden die Erhaltung ihres Stammes auch in Deutschland wünschen und das Aufgehen in dem allgemeinen Völkerbrei verabscheuen. Neben den beiden oben aufgeführten Forderungen, müssen daher die Juden von allen Politikern, die ihre Unterstützung verlangen, noch die formelle Anerkennung der Tatsache fordern, daß die bewusste Zugehörigkeit zur historisch gegebenen Gemeinschaft des Judentums, die uns in keiner Weise an treuer und freudiger Erfüllung aller Staatsbürgerpflichten hindert, mit der Kultur des modernen Staates nicht im Widerspruch steht.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Zionistisches Abc-Buch