Zionismus, Geschichte der Bewegung vom I. — VIII. Kongress.

Was dem Geschichtsschreiber des modernen politischen Zionismus auffallen muß, ist das rasche Tempo, in dem sich die Bewegung innerhalb eines Jahrzehnts ausgedehnt und umgewandelt hat. Vor dem Auftreten Herzls war der Zionismus in Westeuropa wenig bekannt, in Osteuropa der Name für schüchterne Kolonisationsversuche in Palästina. Das Eigentümliche des Herzlschen Zionismus — die scharfe Hervorhebung des nationalen und politischen Moments — gab der Bewegung den großen Schwung und ermöglichte es, die Judenfrage von der Tribüne einer jüdischen Nationalversammlung vor der gesamten Öffentlichkeit zu diskutieren. Die Nationalisierung und Politisierung der jüdischen Massen eingeleitet zu haben — das ist Theodor Herzls unsterbliches Verdienst. Der Größe der Aufgaben entsprachen Herzls Arbeitsmethoden. Er suchte durch direkte Verhandlung mit der türkischen Regierung einen Charter für Palästina zu erlangen, die Zustimmung der Mächte zu gewinnen und gleichzeitig unter den Juden die nötigen Geldmittel aufzubringen, ohne die kein Erfolg möglich war.

Im Jahre 1898 wurde er vom Deutschen Kaiser in Konstantinopel und wenige Tage später nochmals in Jerusalem empfangen, wo er an der Spitze einer zionistischen Deputation eine Ansprache an den Kaiser richtete. Im Mai 1901 verhandelte er in Konstantinopel mit der türkischen Regierung, wurde vom Sultan in Audienz empfangen und durch die Verleihung des Großkordons des Medschidie-Ordens ausgezeichnet. Er berichtete dem V. Kongress darüber mit folgenden Worten: ,,Die Güte und Herrlichkeit des Empfanges hat mich mit den besten Hoffnungen erfüllt. Ich gewann aus den Worten und dem Verhalten Seiner Majestät die Überzeugung, daß das jüdische Volk an dem regierenden Kalifen einen Freund und Gönner hat. Der Sultan hat mich ermächtigt, dies öffentlich mitzuteilen.“ Im Februar und August 1902 wurde Herzl abermals nach Konstantinopel berufen, die Verhandlungen hatten jedoch kein greifbares Ergebnis. Im selben Jahre wurde eine zionistische Abordnung vom Großherzog von Baden empfangen, der für die Bewegung das größte Interesse bewies und sie zu unterstützen suchte. Auch Herzls Audienzen beim König von Italien und beim Papst waren geeignet, ihn zu ermutigen und politische Schwierigkeiten zu beseitigen. Große Bedeutung ist ferner seinen Erfolgen in Rußland beizumessen, über die er dem VI. Kongresse berichtete. Der damalige Minister Plehwe schrieb ihm, die russische Regierung sei bereit, die zionistischen Bestrebungen bei der Pforte zu unterstützen und an der Beschaffung der Gelder zur Förderung der Auswanderung mitzuwirken. Im Juli 1902 gab er vor der Londoner Fremden-Kommission, die vom Parlament zum Studium der Einwanderungsfrage eingesetzt war, eine ausführliche Darstellung der Lage der Juden. — Zweifellos waren seine politischen Versuche von höchstem Wert. Seine zahlreichen Audienzen beim Sultan, beim Deutschen Kaiser und anderen Machthabern steigerten das Ansehen der Bewegung und bewiesen das wohlwollende Verständnis der Regierungen. Der größte Teil des westeuropäischen Judentums aber wollte sich dem Zionismus nicht nähern; so fehlten die Geldmittel, und das war der Hauptgrund, weshalb Herzls Bemühungen um Palästina erfolglos blieben.


Diese Sachlage wirkte nachhaltig auf die Parteiverhältnisse im Zionismus. Es gab da mehrere Gruppen, die von ganz verschiedenen Voraussetzungen ausgehend zu einer immer deutlicher werdenden Kritik der Herzlschen Tätigkeit gelangten.

Die Choveve Zion (s. d.), die alten Freunde der palästinensischen Kolonisation, hatten sich nur langsam dem politischen Zionismus genähert, und benutzten jede Gelegenheit, die praktische Arbeit in Palästina in den Vordergrund zu schieben. Gegen diese Tätigkeit war an sich auch vom Herzlschen Standpunkt wenigstens der letzten Jahre nichts einzuwenden, nur mußte verhütet werden, daß die Fonds der politischen Bewegung zu systemlosen kolonisatorischen Zwecken vergeudet wurden, und daß Mengen besitzloser Juden ins Land gezogen werden, für die keine Beschäftigung zu finden war. In den ersten Jahren gelang es auch, die Forderungen der Choveve Zion zurückzudämmen. Sie traten dafür um so heftiger auf, als die Hoffnung auf baldigste Erreichung des Endziels auf rein diplomatischem Wege sich nicht realisierte, als die Partei sich auf eine langwierige Entwicklung, auf schrittweises Vordringen einrichten mußte. Eine andere Gruppe, die sogenannten Kulturzionisten, bereiteten weniger Schwierigkeiten. Ihre Forderungen bestanden in der Bekämpfung der Orthodoxie und in der Betonung des geistigkulturellen Moments der Bewegung; sie waren beeinflusst von den Gedankengängen des Russen Achad-Haam, der nicht in der baldigen Gewinnung eines Landes, der Errichtung eines politischen Gemeinwesens, sondern in der Schaffung eines kulturellen Zentrums die Lösung der Judenfrage sah. Sie vereinigten sich auf dem V. Kongress in der „demokratischen Fraktion“, die jedoch nur kurze Zeit bestand.

Beiden Gruppen gemeinsam war das Verlangen nach einem ständigen, von allen diplomatischen Erfolgen unabhängigen Arbeitsgebiet. Die Choveve Zion wünschten die Beschäftigung der Partei mit praktischer Palästinaarbeit, die Kulturzionisten die Förderung ihrer Bestrebungen in den Golusländern. So gerieten sie des öfteren in einen an sich wenig gerechtfertigten Gegensatz zu der Parteileitung. Eine dritte Gruppe, der Misrachi, in der sich die Orthodoxen zur Förderung ihrer Ideen zusammenfanden, unterstützte die Leitung, trat aber wenig hervor und war für die Gestaltung der Partei von geringer Bedeutung.

Inzwischen versuchte Dr. Herzl die diplomatische Tätigkeit fortzusetzen. Nachdem seine Bemühungen um Palästina kein greifbares Resultat gezeitigt hatten, trat er im Oktober 1902 mit der englischen Regierung in Verhandlungen ein, die zunächst die Frage einer Besiedlung von El Arisch betrafen.

Als die Besiedelung sich infolge von technischen Schwierigkeiten als undurchführbar erwies, bot die englische Regierung ein Territorium in Ostafrika an.

Und damit war eine neue Streitfrage aufgerollt, die Frage des Territorialismus (s. d.). Auf dem VI. Kongress gelang es Dr. Herzl, die Einsetzung einer Kommission zur Prüfung des Angebots durchzusetzen. Dadurch war die Entscheidung hinausgeschoben und vielleicht wäre es seiner überlegenen Führung gelungen, im Laufe der nächsten zwei Jahre einen Ausweg aus allen Schwierigkeiten zu finden. Die heftige Opposition, zu der sich ein Teil der russischen Zionisten — vor allem die alten Choveve Zion unter Führung Ussischkins — in der Charkower Konferenz zusammengefunden hatten, war durch Dr. Herzls Erklärungen im April 1904 bereits etwas beruhigt worden. Sein plötzlicher Tod aber steigerte die Verwirrung in der Partei und veranlaßte die heftigsten Kämpfe, die erst nach den Sturmszenen des VII. Kongresses mit dem Siege seiner Gegner, der früheren Choveve Zion, ihr Ende fanden. Die damals hervor gerufene Krise kann heute als beseitigt gelten. Ein Teil der Anhänger des Ostafrikaprojekts gründete unter Führung Zangwills die Jewish Territorial-Organisation (I. T. O.), (s. d.) die sich — bisher erfolglos — um Erwerbung irgend eines geeigneten Landstrichs für eine jüdische Siedelung bemüht. Die zurückbleibende Majorität schien eine Zeitlang ganz in das Fahrwasser der Choveve Zion zu geraten, die sich nun zusammen mit den anderen Gegnern des Ostafrikaprojekts als Zione Zion bezeichneten. Inzwischen hat sich jedoch die Erkenntnis Bahn gebrochen, daß die eigentliche Kolonisationsarbeit nicht Sache der Partei sein kann, sondern dem Privatkapital überlassen bleiben muß, um dessen Organisierung sich die Palästinakommission gegenwärtig bemüht. Man erkennt mehr und mehr, daß der Zionismus als Bewegung mit politischen Zielen sich politischer Methoden bedienen muß. Es ist zu erwarten, daß die Zukunft einen völligen Ausgleich der Gegensätze und die Einordnung einer kräftigen aber planvollen Palästinaarbeit in das politische System bringen wird. Während so die Arbeitsmethoden ausgebildet wurden, entwickelte sich der Zionismus in den verschiedenen Ländern je nach Lage der Verhältnisse. Auf die gewaltige Ausbreitung der Bewegung in den ersten Jahren, die Schaffung einer die ganze Welt umspannenden Organisation mit ihren zahlreichen Untergruppen, die Gründung der Kolonialbank, der Anglo-Palestine-Company, des National-Fonds und vieler kleinerer Institutionen folgte eine Periode ruhigerer Entwicklung und Ausgestaltung des Parteilebens. War früher das Wiener Aktions-Komitee die Zentrale aller zionistischen Tätigkeit, so entstanden nun überall Landesföderationen, die regelmäßige Konferenzen veranstalteten und eine gesunde Dezentralisation der Parteigeschäfte bewirkten. In Rußland veranlaßte die Revolution eine arge Stagnation in der früher so großen Organisation. Höchst erfreulich war dagegen die Entwicklung in Nordamerika und Südafrika. Das verständnisvolle Entgegenkommen der Regierungen und die täglich wachsende Anhängerzahl sind günstige Anzeichen für die weitere Ausbreitung des Zionismus in jenen Ländern. In Österreich traten die Zionisten anlässlich der Wahlreform geschlossen auf und schufen eine nationaljüdische Partei, die im Jahre 1907 bei den Reichsratswahlen erfreuliche Erfolge errang.

Ähnliche Versuche in Rußland vor der Wahl zur zweiten Duma sind an der Ungunst der Verhältnisse völlig gescheitert.

Von Interesse ist gegenwärtig die Konzentrierung der zionistischen Arbeiter (Poale Zion) in eigenen Verbänden, die besonders in Galizien rege Tätigkeit entfalten und Föderationsrechte zu erlangen suchen. In Westeuropa, vor allem in Deutschland, dringt das Verständnis für den Zionismus langsam aber ständig immer weiter vor. Insbesondere läßt die Entwicklung in den Kreisen der jüngeren Akademiker Gutes hoffen.

Das erste Jahrzehnt der zionistischen Bewegung brachte nach einem glänzenden Anfang, der im wesentlichen der gewaltigen Persönlichkeit Herzls zu verdanken war, eine Reihe von Kämpfen und Erschütterungen, wie jede junge Partei sie erleben muß. Der Beginn des zweiten Jahrzehnts verheißt eine ruhige Entwicklung, die Ausgestaltung eines nüchternen Arbeitsprogramms und damit die endgültige Gewinnung der Judenheit, ihrer moralischen und materiellen Kräfte.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Zionistisches Abc-Buch