VII. Kongress

Der VII. Kongress war beherrscht von der Entscheidung über das Ostafrikaangebot. Hinter dieser Frage trat selbst das Interesse an der künftigen Gestaltung der Oberleitung der durch Herzls Tod der Führung beraubten zionistischen Organisation sehr in den Hintergrund. Das Bild, das dieser Kongress darbot, war gegenüber den früheren Kongressen, wesentlich verändert. Auf der Tribüne fehlte die überragende Gestalt Theodor Herzls, der Mittelpunkt und Leiter aller früheren Kongresse gewesen war. Über der verwaisten Versammlung lag eine traurige Stimmung, und dem tiefen, bitteren Weh, das seit Herzls Tod dessen Anhänger im Herzen trugen, gab zu Beginn des Kongresses Max Nordau in einem meisterhaften, ergreifenden Nachruf auf den großen Toten Ausdruck. Die hoheitsvolle, kraftvolle und idealdurchdrungene Persönlichkeit Herzls zog vor der erschütterten Trauerversammlung vorüber, die von dem Redner in markigen Worten an die Pflichten erinnert wurde, welche das jüdische Volk dem Andenken und den Hinterbliebenen seines glühend verehrten Lieblings, der für die zionistische Idee Gesundheit, Gut und Leben in die Schanzen schlug, schuldet. Nachdem dem so früh Verlorenen Huldigung und Dank dargebracht war, verlangte das Leben sein Recht und der Kongress trat in seine Arbeit ein. Und hier zeigte sich bald eine für den Zionistenkongress neue und eigenartige Erscheinung. Vor dem Kongresse schon hatte die energische, unermüdliche Agitation Ussischkins die Mehrzahl der Kongressteilnehmer zu einer kompakten Partei zusammengeschlossen, die mit einem festen Programm und einer bestimmten Marschroute auf dem Kongresse auftrat und ihren Willen durchzusetzen entschlossen war. Der Majoritätspartei der Zione-Zionisten standen einige kleinere Parteigruppen gegenüber, aus denen sich die Territorialisten durch die Zielbewusstheit ihres Programms und die Leidenschaftlichkeit, mit der sie es vertraten, heraushoben. Der Verlauf der Verhandlungen war oftmals dermaßen stürmisch, daß der zum Kongresspräsidenten erwählte Max Nordau seine volle Autorität und seine bewährte Klugheit und Umsicht einsetzen mußte, um den Kongress zusammenzuhalten. Schon nach Verlesung des Rechenschaftsberichtes des Aktionskomitees, der von Oskar Marmorek erstattet wurde und trotz aller Schicksalsschläge ein mächtiges Wachstum der Organisation und ein erfreuliches Gedeihen der finanziellen Institutionen feststellen konnte, begann der erregte Diskussionskampf, indem Ussischkin den Antrag seiner Partei einbrachte, der jede kolonisatorische Tätigkeit seitens der zionistischen Organisation außerhalb Palästinas und seiner Nachbarländer sowohl als Zweck wie als Mittel ablehnte und die Bestimmung, daß die zionistische Organisation nur diejenigen Juden umfasst, welche sich mit dem Programm des Zionistenkongresses einverstanden erklären, in Erinnerung brachte und streng durchgeführt wissen wollte. Doch wurde die Beratung und Beschlussfassung über diesen mit großer Erregung aufgenommenen Antrag verschoben auf den zur Entscheidung des Ostafrikaprojektes festgesetzten außerordentlichen Kongress, der am zweiten Kongresstage begann und sich bis zum vierten Kongresstage ausdehnte. Professor Warburg erstattete den Bericht für die zur Vorbereitung der ostafrikanischen Expedition eingesetzte Kommission, der Delegierte Greenberg den Bericht über den Verlauf und das Ergebnis der Expedition. Der Gesamtbericht über die Expedition war vorher in extenso in den zionistischen Organen veröffentlicht worden. Zangwill begründete hierauf in längeren Ausführungen eine Resolution folgenden Inhalts:

„Der Kongress beschließt, das hochherzige Anerbieten der Regierung Sr. Britischen Majestät, dem jüdischen Volke ein großes und fruchtbares Gebiet zur Ansiedlung mit Selbstverwaltungsrechten unter britischer Hoheit einzuräumen, mit der Erwartung dankbar anzunehmen, daß das zunächst ins Auge gefasste Guas Ngishu-Plateau durch andere Gebietsteile erweitert oder ersetzt werden soll, da nach dem Gutachten unseres Erforschungsausschusses dieses Plateau der Absicht der Regierung Sr. Britischen Majestät nicht entspricht, einer großen Zahl jüdischer Einwanderer die Möglichkeit des Gedeihens auf britischem Kolonialgebiet zu gewähren.“


Die Diskussion gestaltete sich im weiteren Verlaufe sehr er regt, und besonders scharf platzten die Meinungen der Zione-Zion einerseits und der Territorialisten andererseits aufeinander. Der Führer der territorialistischen Partei, der Delegate Chasan resümierte die Anschauungen und Wünsche seiner Fraktion in folgendem Antrage:

„Der VII. Zionistenkongreß spricht seine Unzufriedenheit aus, daß das A.-K. einen Beschluss des VI. Zionistenkongresses ignoriert und nicht gehörig ausgeführt hat.

Der VII. Zionistenkongress drückt seinen Wunsch aus, daß die Unterhandlungen mit der englischen Regierung keineswegs abgebrochen, sondern weiter fortgesetzt werden und daß eine neue Expedition ausgesandt werde, welche keinen Schwindel, keine Komödie, keine Hemmungsexpedition bedeuten soll. Wenn sich dann erweisen wird, daß in Ostafrika ein anderes Land für die jüdische Emigration und Kolonisation geeignet ist, soll der Zionismus mit allen seinen Kräften, den finanziellen, materiellen und geistigen, eine große jüdische Kolonisation in einem freien jüdischen Lande zu verwirklichen suchen.“

Zwischen den in dieser Resolution zutage tretenden Anschauungen über die künftige Politik der Bewegung und dem von den Anhängern Ussischkins mit aller Schärfe betonten Standpunkte, daß jede zionistische Tätigkeit außerhalb Palästinas ausgeschlossen sein müsse, bewegte sich ein auf beiden Seiten mit zäher Hartnäckigkeit und Unversöhnlichkeit geführter Kampf.

Die in den zahlreichen Diskussionsreden und in dem Verhalten des Auditoriums zum Ausdruck gekommene erhitzte Stimmung erreichte ihren Siedepunkt, als nach Schluß der Rednerliste der Bericht des Legitimationsausschusses erstattet wurde. Entgegen der von der territorialistischen Gruppe wiederholt vertretenen Anschauung, daß die Mehrzahl der russischen Mandate ungültig seien, weil auf ungesetzlichem Wege zustandegekommen, beantragte der Legitimationsausschuss die Gültigkeit der Wahlen. Die Annahme dieses Antrages des Legitimationsausschusses durch den Kongress in der Nacht vom 3. auf den 4. Kongresstag gab der unterlegenen Minderheit Veranlassung zu so lärmenden Kundgebungen, an welchen sich auch die Galerie beteiligte, daß die weitere Tagung des Kongresses ernstlich in Frage gestellt war. Da griff das Aktionskomitee ein und gab der Sachlage eine neue Wendung. Nach jener stürmischen Kongresssitzung traten die Mitglieder des Großen A.-K. zu einer Beratung zusammen, als deren Ergebnis am 4. Kongresstage folgender Antrag des A.-K. dem VII. Zionistenkongresse vorgelegt wurde:

„I. Der VII. Zionistenkongress erklärt: Die zionistische Organisation hält an dem Grundprinzip des Baseler Programmes, das ,,die Schaffung einer öffentlich-rechtlich gesicherten Heimstätte für das jüdische Volk in Palästina“ erstrebt, unerschütterlich fest und lehnt — sowohl als Zweck wie ais Mittel — jede kolonisatorische Tätigkeit außerhalb Palästinas und seiner nächsten Nachbarländer ab.

II. Der Kongress beschließt: Der Regierung Sr. Britischen Majestät für das Angebot eines Territoriums in Britisch-Ostafrika zum Zwecke der Etablierung einer jüdischen Siedlung mit autonomen Rechten den tiefgefühlten Dank auszusprechen.

Nachdem eine Kommission zur Erforschung des Territoriums ausgesendet wurde und Bericht erstattet hat, beschließt der Kongreß, daß sich die zionistische Organisation mit dem Vorschlag nicht weiter befassen kann.

Der Kongress nimmt mit großer Genugtuung die Anerkennung zur Kenntnis, welche die britische Regierung in ihrem Streben, eine Lösung der jüdischen Frage herbeizuführen, der zionistischen Bewegung zuteil werden ließ, und spricht die Hoffnung aus, daß ihr die guten Dienste der britischen Regierung auch dort zuteil werden, wo zugleich eine Übereinstimmung mit dem Baseler Programm erzielt werden könnte.

III. Der VII. Zionistenkongress bringt in Erinnerung und betont, daß laut § 1 des zionistischen Organisationsstatuts die zionistische Organisation diejenigen Juden umfasst, welche sich mit dem Baseler Programm einverstanden erklären.“

Diese Resolutionen wurden mit großer Majorität angenommen. Zangwill protestierte, und unter seiner Führung verließen die Territorialisten, welche durch den Deleg. Syrkin eine Resolution des Inhalts abgeben ließen, daß sie „an dem Kongresse, der sich selbst und dem Volke untreu geworden ist“, nicht weiter teilnehmen wollten, den Saal. Der außerordentliche Kongreß wurde geschlossen; die Ugandafrage war endgültig erledigt.

Nun nahmen die Arbeiten des Kongresses ihren geordneten Fortgang. Die Deleg. Gronemann und Nossig behandelten die Fragen der Propaganda und Agitation; das Resultat ihrer Ausführungen war die Einsetzung einer Propagandakommission, welcher die Verbreitung der zionistischen Idee in allen Ländern zur Aufgabe gesetzt wurde. Zur Prüfung der wichtigen Frage der Neuorganisation wurde nach einem Referat Kokeschs eine Kommission eingesetzt, die sofort während des Kongresses ihren Auftrag zu Ende führte. Kremenetzky gab eine Übersicht über den Stand des Nationalfonds und feuerte zur eifrigen Propaganda für diese Institution an. Einem besonders lebhaften Interesse begegnete der Bericht der Palästinakommission, in den sich Prof. Warburg und Dr. Soskin teilten. Der Bericht ließ erkennen, daß trotz der ungenügenden finanziellen Dotierung die Kommission ein großes Stück Arbeit in der Erforschung der wirtschaftlichen Bedingungen Palästinas geleistet hatte. Aus dem Tätigkeitsgebiete der Palästinakommission sind zu nennen: Die Entsendung einer geologischen Expedition, die Einrichtung meteorologischer Beobachtungsstationen, die Herausgabe der Zeitschrift ,,Altneuland“, die Schaffung einer Bibliothek der Palästina-, Orient- und Kolonialliteratur, die Veranstaltung von Vorträgen und Ferienkursen, die Erkundung der Eignung Palästinas für Baumwollkultur, die Vorbereitungen zur Gründung einer landwirtschaftlichen Versuchsstation, Begutachtung bei Landankäufen, Mitwirkung an der Gründung der „Palästina Handels-Gesellschaft“, an der „Deutsch-Levantinischen Baumwoll-Gesellschaft“, sowie dem Bezalel, der Institution der Ölbaumspende usw. Die Ziele und Grenzen der künftigen praktischen Palästinaarbeit wurden von dem Kongresse in folgenden Beschlüssen niedergelegt, die den Inhalt eines von Alexander Marmorek modifizierten Antrags Ussischkin darstellen:

„Der VII. Zionistenkongress beschließt, daß parallel mit der politischdiplomatischen Tätigkeit, als reale Unterlage und zur Stärkung derselben, entsprechend dem Punkte 1 des Baseler Programmes die systematische Ausgestaltung unserer Positionen in Palästina erfolgen müsse, und zwar durch folgende Mittel:

1. Allseitige Erforschungsarbeit;

2. Förderung von Agrikultur, Industrie usw. in möglichst demokratischem Geiste;

3. Kulturelle und ökonomische Organisation und Hebung der palästinensischen Judenheit durch Heranziehung von neuen intellektuellen Kräften;

4. Erstrebung der für die Hebung Palästinas notwendigen Reform in bezug auf Verwaltung und Recht.

Der VII. Kongress lehnt jede planlose, unsystematische und philanthropische Kleinkolonisation, die nicht in den Rahmen des Punktes 1 des Baseler Programmes fallen würde, ab.“

Im Zusammenhange mit diesen Resolutionen ist ein von dem Kongress angenommener Antrag Leopold Kahn-Tschlenow von Bedeutung, der lautet:

„Der VII. Zionistenkongress beschließt, daß für Rechnung des jüdischen Nationalfonds insolange keine Bodenankäufe zu machen sind, als sie nicht auf sicherer rechtlicher Grundlage geschehen können.

Über das Vorhandensein dieser Grundlage hat die Leitung nach ihrem Ermessen in jedem einzelnen Falle zu entscheiden.“

Die Anträge des Organisationskomitees gipfelten in dem Vorschlag, daß das Engere A.-K. in Zukunft aus sieben Mitgliedern zu bestehen habe, die aber nicht notwendigerweise in einer Stadt zu wohnen brauchen, und daß das Große A.-K. in Formation und Stärke unverändert bleiben solle. Diese Anträge wurden akzeptiert und als Mitglieder des Engeren A.-K. wurden gewählt: D. Wolffsohn (Köln), Prof. Warburg (Berlin), Dr. Kohan-Bernstein und M. Ussischkin (Rußland), Jakobus Kann (Haag), Leopold Greenberg (London) und Dr. Alex. Marmorek (Paris). Zu seinem Vorsitzenden erwählte dieses engere A.-K. David Wolffsohn, dem somit die Nachfolgerschaft Herzls zufiel. Mit einer begeisternden Ansprache schloß der neue Präsident am siebenten Tage den Kongress,

Noch lange hallte die Erregung, in die dieser bedeutungsvolle Kongress seine Teilnehmer versetzt hatte, in der zionistischen Welt nach; der Kampf tobte in Wort und Schrift weiter. Der Territorialismus löste sich als eine eigene jüdische Wohlfahrtsbestrebung von dem Zionismus los. Für letzteren aber waren die Würfel gefallen. Die Majorität des Kongresses hat sich für eine Politik entschieden, die ausschließlich auf Palästina gerichtet ist. Für die vorbereitende praktische Arbeit in Erez Israel wurden die Grundlinien, aber auch die Grenzen festgesteckt. Die Leitung der Organisation wurde neu aufgerichtet So hat der VII. Kongress eine bedeutungsvolle Arbeit geleistet. Erst die Zukunft kann entscheiden, ob seine Entschließungen zum Fortschritte der Bewegung und zum Heile des jüdischen Volkes gedient haben.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Zionistisches Abc-Buch