VI. Kongress

Der VI. Kongress tagte vom 23. — 28. August 1903 in Basel. Von 1079 gewählten Delegierten waren 592 erschienen. Nachdem Dr. Herzl in seiner Eröffnungsrede die Lage der Juden gekennzeichnet und insbesondere das Emigrationselend geschildert hatte, berichtete er unter gespanntester Aufmerksamkeit und häufigem stürmischem Beifall der Delegierten über die hochbedeutsamen politischen Aktionen, die in den letzten beiden Jahren stattgefunden hatten. Im Februar und August 1902 verhandelte Dr. Herzl mit der türkischen Regierung. Seine Bemühungen waren jedoch erfolglos, da der Sultan nur eine zerstreute, zusammenhanglose Kolonisation in der Türkei gestatten wollte. Von Deutschland und England war kein Widerstand zu befürchten. Im Jahre 1898 hatte der deutsche Kaiser die zionistische Bewegung seines Wohlwollens versichert England zeigte das größte Entgegenkommen, als Dr. Herzl über eine Landkonzession auf der Sinaihalbinsel verhandelte. Diese Verhandlungen blieben leider resultatlos wegen der Unmöglichkeit, die pelusinische Ebene genügend zu bewässern. Darauf bot die englische Regierung ein Territorium in Uganda (Ostafrika) zur Besiedlung an. Die Annahme dieses großmütigen Angebots durch den Kongress könne nur eine Notstandsmaßregel bedeuten. Das Ziel der Bewegung bleibe Palästina. Seit diesem Angebot sei die Lage wiederum verschoben worden, da die russische Regierung sich bereit erklärt habe, die Bewegung zu fördern und sogar die Bemühungen der Zionisten beim Sultan zu unterstützen. Damit sei nicht nur ein enormes Hindernis beseitigt, sondern auch eine mächtige Nachhilfe entstanden.

Dr. Kokesch erstattete den Kassenbericht, der interessante Daten über das Anwachsen der Bewegung enthält. Im ersten Kongressjahre seien 78.000 Kr. Schekelgelder eingegangen, im Jahre 1901/02 121.493 Kr., 1902/03 221.566 Kr.


Architekt 0. Marmorek erstattete den Rechenschaftsbericht des Aktionskomitees. Die allgemeine Lage der Juden verschlechtere sich zusehends. Das rumänische Handwerkergesetz habe Tausende von Existenzen vernichtet. In der Bukowina, in Galizien, Algier, Marokko und vor allem in Rußland, hätten die Juden unter Exzessen zu leiden und die Verelendung der Massen schreite rasch vorwärts. Die so entstandene Auswanderung werde immer schwieriger, da die Immigrationsländer bereits zu Abwehrmaßregeln griffen. Bei dieser Sachlage müsse sich die Erkenntnis von der Notwendigkeit des Zionismus rasch verbreiten. Die Zahl der Schekelzahler sei um 130% gewachsen. In Rußland sei die Zahl der Vereine von 1146 auf 1572 gestiegen. Zahlreiche Institutionen zur wirtschaftlichen und kulturellen Hebung (Sparkassen, Schulen, Lesehallen) wurden gegründet. Auf Grundlage des neuen Statuts wurde die Leitung der Bewegung dezentralisiert. In Kapstadt übertrug die Regierung dem Präsidenten der zionistischen Federation das Recht zur Erteilung des Passes und zur Ausübung aller Funktionen eines Konsuls für die zahlreichen russischen und rumänischen Juden, denen die Konsuln ihrer Länder die Ausstellung der nötigen Pässe zur Rückkehr in die ehemaligen Burenstaaten verweigerten.

Der Referent wandte sich dann den bereits von Dr. Herzl geschilderten politischen Verhandlungen zu und erklärte, die Kolonialbank arbeite befriedigend. Als Tochtergesellschaft sei die Anglo Palestine Company in Jaffa gegründet worden. Der Nationalfond habe sich gleichfalls gut entwickelt. Die folgende Debatte war naturgemäß von Dr. Herzls Erklärungen über seine diplomatischen Bemühungen überrascht. Insbesondere rief die Frage, ob man eine Kommission zur Prüfung des Ugandaangebots einsetzen solle, heftige Diskussionen hervor. Die Delegierten Trietsch und Dr. Nossig griffen Herzl an, der kein Verständnis für die Vorschläge des Sultans gehabt habe. Die reine Charterpolitik sei verkehrt. Man müsse Palästina durch langsame Konzessionspolitik und allmähliche Kolonisation erobern. Die ägyptische Aktion sei zugunsten äußerer Erfolge aufgebauscht, später aber grundlos fallen gelassen worden,

Dr. Herzl wies diese Angriffe unter stürmischem Beifall des Kongresses zurück und machte dem Delegierten Trietsch schwere Vorwürfe, die eine längere erregte Debatte hervor riefen.

Darauf ergriff Max Nordau das Wort und führte aus: Vier Staaten, Deutschland, England, Rußland und Nordamerika, ständen dem Zionismus freundlich gegenüber. In siebenjähriger Arbeit habe er sich seine großartige Organisation geschaffen und die ganze Welt mit der Judenfrage befasst. Zum erstenmal sei damit öffentlich erklärt worden, daß das jüdische Volk mit seiner Lage unzufrieden sei. Mit der Wohltätigkeit sei nichts getan. Bevor aber der Zionismus die endgültige Lösung der Judenfrage bringe, müsse man einen Notbau für die Hunderttausende wandernder Juden schaffen. Als solches Nachtasyl sei Uganda anzusehen. Gleichzeitig bedeute der britische Vorschlag ein Erziehungsmittel für die Juden, welche sich wieder, als Volk fühlen würden.

In der Debatte trat der Gegensatz der Anschauungen immer stärker hervor. Ein großer Teil der russischen Delegierten sah in dem Vorschlag eine Abkehr vom Baseler Programm und befürchtete, Palästina würde aufgegeben werden.

Israel Zangwill referierte über ,,Zionismus und Wohltätigkeitsanstalten“. Wenn die Juden ein eigenes Land hätten, würden viele Wohltätigkeitsgesellschaften überflüssig. Der gegenwärtige Zustand der Juden bringe auf allen Gebieten eine Vergeudung der Kräfte mit sich und hindere jede natürliche Entwicklung. Deshalb seien alle Institutionen, die die Lage der Juden im Exil bessern wollen, stümperhafte Versuche.

Dr. Franz Oppenheimer sprach über ,,Ansiedlung“. Das Prinzip der Ansiedlung müsse die Selbsthilfe auf der Basis eines ausgedehnten Kreditwesens sein. Die Grundlage der Kolonisation müsse agrarisch sein, das Land im Eigentum der Gesamtheit bleiben. Man solle daher mit genossenschaftlichen Bauerndörfern beginnen. Handwerker und andere Gewerbetreibende würden sich später ansiedeln.

In der folgenden Debatte über das Ugandaangebot verteidigte Max Nordau nochmals das Projekt und forderte die Einsetzung einer Kommission.

Mr. Greenberg, der im Auftrage des Aktionskomitees die Verhandlungen mit der englischen Regierung geführt hatte, berichtete ausführlich über das Zustandekommen des Anerbietens und verlas den Brief, den Sir Clement Hill, der Unterstaatssekretär für die Kolonien, in dieser Angelegenheit an ihn gerichtet hatte. Der Brief spricht die Geneigtheit der britischen Regierung aus, eine autonome jüdische Siedlung in Ostafrika unter britischer Oberhoheit zu fördern. Bei der Abstimmung wurde die Einsetzung einer Kommission zur Prüfung des Angebots und Entsendung einer Expedition mit 205 gegen 178 Stimmen beschlossen. Damit war die wichtigste Frage, die dem Kongress vorgelegen hatte, entschieden.

Sir Francis Montefiore referierte über Organisation und Agitation.

N. Sokolow sprach über ,,Wohltätigkeit und Zionismus im Osten“. Er schilderte die im Osten bestehenden wohltätigen Institutionen und erklärte, die Kleinphilanthropie sei bloße Verschwendung. Man müsse die Gemeinden erobern und einen Teil der Wohlfahrtseinkünfte dem Zionismus zuwenden.

J. Kremenetzky berichtete über den Jüdischen Nationalfonds, der gegenwärtig 18.669 £ (373.360 Mark) besitze.

Dr. Farbstein berichtete über die Beratungen, welche statt gefunden hätten, um eine geeignete juristische Form für den Nationalfonds zu finden.

Herr Wolffsohn teilte in seinem Bericht über die Kolonialbank mit, daß das Kapital sicher angelegt und ein Gewinn von 6000 £ (120.000 Mark) erzielt worden sei. In Jaffa wurde die Anglo Palestine Company mit einem Kapital von 50.000 £ (1 Million Mark) gegründet.

Herr Sokolow teilte mit, daß Herr Tworok, Capetown, die Mittel zur Herstellung einer hebräisch geschriebenen jüdischen Enzyklopädie gestiftet habe.

Dr. Soskin forderte die Einsetzung einer Paläslinakommission zur Erforschung des Landes, Errichtung einer Untersuchungs- und Versuchsstation, sowie Herausgabe einer Zeitschrift.

Dr. Friedemann referierte über „Organisation“ und verlangte gewisse Abänderungen des Statuts. — Der Kongress beschloß die Einsetzung einer Palästinakommission gemäß Dr. Soskins Vorschlägen mit einem jährlichen Budget von 15.000 Frcs., Unterstützung der Nationalbibliothek in Jerusalem mit 2000 Frcs. und hob die Bestimmung auf, nach der erst dann in Palästina mit Landkäufen aus Geldern des Nationalfonds begonnen werden sollte, wenn dieser die Höhe von 200.000 £ (4 Millionen Mark) erreicht habe. Nach Wiederwahl des Engeren Aktionskomitees schloß Dr. Herzl am 28. August den VI. Kongress mit einer Rede, die nochmals den Ugandavorschlag als Notbehelf kennzeichnete, Palästina als unverrückbares Endziel der Bewegung hinstellte und mit den Worte ausklang: Möge meine Rechte verdorren, wenn ich dein vergesse, Jerusalem!


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Zionistisches Abc-Buch