Territorialismus

Der Begriff, in seiner Anwendung auf das jüdische Problem, ist erst seit dem VI. Zionistenkongreß geläufig; er hat durch das Ugandaprojekt Aufnahme in den zionistischen Sprachschatz gefunden, ja, er wurde bald ein Schlagwort, das wegen seiner Vieldeutigkeit auch viel missverstanden und viel missbraucht wurde. Erst die Abtrennung aller territorialistischen Tendenzen von den zionistischen Bestrebungen hat den Territorialismus als Idee ruhig ausreifen und als praktische Bestrebung klare Formen annehmen lassen. Territorialismus als Prinzip bedeutet das Streben nach Erlangung eines jüdischen Siedlungsgebietes irgendwo in der Welt, mag dieses nun Palästina oder ein anderes Land sein; selbstverständliche Bedingung im Rahmen des Prinzips ist die staatliche Selbständigkeit eines solchen jüdischen Territoriums, im Sinne eines Judenstaates. Territorialisten dieses Schlages waren Mordechai Manuel Noah, der 1825 einen Judenstaat in Amerika gründen wollte, Leo Pinsker, der in seiner „Autoemanzipation“ (1882) der alten Heimat nicht mehr Chancen für ein künftiges Gemeinwesen abgewann, als irgend einem anderen Landgebiet, und auch anfänglich Theodor Herzl. In seinem „Judenstaat“ (s. d.) sagt er ausdrücklich, man werde nehmen müssen, was man bekomme und wofür sich die öffentliche Meinung des Judenvolkes erkläre; allerdings sei Palästina „unsere unvergeßliche historische Heimat, und dieser Name allein wäre ein gewaltig ergreifender Sammelruf für unser Volk.“ Als Herzl mit den jüdischen Massen in nähere Berührung gekommen war, erkannte er, mit dem klaren Auge des Realpolitikers und mit feinem Verständnis für die seelischen Imponderabilien seines Volkes, die Wichtigkeit und Notwendigkeit, das neue Judenstaatsideal mit der uralten Palästinaidee zu organischer Einheit zu verbinden. So entstand das Baseler Programm, worin als territoriales Endziel der Bewegung ausschließlich Palästina proklamiert wurde. Herzl selbst blieb bis zu seinem Lebensende Anhänger dieser Synthese des Staats mit dem Landideal. Als er jedoch die Schwierigkeiten sah, Palästina auf direktem Wege und in naher Zeit zu erlangen, nahm er das Landangebot der englischen Regierung im Prinzip an und brachte es vor den VI. Kongress. Niemand und er selbst am wenigsten dachte daran, nunmehr wieder irgend ein Territorium und im speziellen Fall Uganda an die Stelle Palästinas setzen zu wollen; ,,Zion ist dies nicht und kann es nie werden,“ sagte er emphatisch, es sei nur ein Umweg nach Palästina, das als Endziel unverrückbar festgelegt sei. Nordau nannte Uganda ein ,,Nachtasyl“ für die wandernden Judenmassen, dessen Schaffung von der zionistischen Organisation nicht abgelehnt werden dürfe, einmal weil sich der Zionismus einer so wichtigen und großzügigen Gegenwartsaufgabe der Judenheit nicht entziehen könne, und ferner, weil der zionistischen Organisation als der einzigen anerkannten Repräsentanz des jüdischen Volkes das Angebot Englands gemacht worden sei. Aber die Gegner des Ugandaplans fürchteten, daß mit der Zeit Palästina doch aus dem Gesichtsfeld verschwinden könne, daß die „Ugandisten“ sich allmählich zu „Territorialisten“ entwickeln würden. Immer mehr wuchs die Begriffsverwirrung, zumal wirklich vereinzelte Anhänger des Ugandaprojektes in der Hitze des Gefechtes sich zu extrem territorialistischen Anschauungen bekannten. Allen Unklarheiten machte der VII. Kongress ein Ende, indem er nicht nur das Ugandaprojekt als solches wegen des ungünstigen Berichts der Forschungsexpedition verwarf, sondern auch ausdrücklich ablehnte, irgendwelche Territorialprojekte, sei es als Mittel, sei es als Zweck der Bewegung, weiterhin in Betracht zu ziehen. Gleichzeitig nahm er einen Fetzen Territorialismus in den Rahmen der zionistischen Bestrebungen auf, indem er von nun ab Palästina ,,und dessen Nachbarländer“ für jüdische Siedlungen ins Auge zu fassen beschloß. Im übrigen sahen sich die Territorialisten genötigt, ihren Bestrebungen eine eigene Basis zu schaffen; so wurde noch in Basel die I.T.O. (s. d.) gegründet. Die I.T.O. erstrebt nicht eigentlich die Schaffung eines Judenstaates, eines unabhängigen jüdischen Nationalstaates, sondern die Erlangung eines Territoriums auf autonomer Basis für alle die Juden, die sich zur Auswanderung gezwungen sehen. Die I.T.O. vertritt demnach nicht das absolute Territorialprinzip, das radikale Staatsideal; das verhindert einerseits die wachsende Beteiligung von Zionisten an der I.T.O., die einen ,,Judenstaat“ zuletzt doch nur auf dem Boden von Palästina denken und erhoffen wollen, andrerseits die Teilnahme jüdischer Philanthropen, die eine Antipathie gegen die Staatsidee überhaupt haben. Die I.T.O. ist also kein Repräsentant des abstrakten Territorialismus, sondern ein ins Nationalpolitische erhobenes philanthropisches Unternehmen — mit einem Wort ein zum Prinzip gewordener ,,Ugandismus“, der „Nachtasylgedanke“ als selbständiges Prinzip. Schon deshalb kann in ihm nichts gefunden werden, was vom zionistischen Ideal abdrängen könnte. Der territorialistische Gedanke konnte eine Gefahr für die zionistische Idee allenfalls werden, solange er im Rahmen der zionistischen Organisation betrieben wurde. Die Trennung und die spezielle Formulierung in der itoistischen Organisation lassen alle derartige Befürchtungen vollends gegenstandslos erscheinen.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Zionistisches Abc-Buch