Organisation der Judenheit

Die Alliance israélite universelle war eine grandiose Idee eines begeisterten, national fühlenden Juden, der die Bedürfnisse der heutigen Judenheit mit tiefem Scharfblick erkannte. Trotzdem stehen heute alle, denen die Zukunft der Juden wirklich am Herzen liegt, vor dem zwingenden Bedürfnis einer durchgreifenden Neuorganisation der gesamten Judenheit.

Die Geschichte der Alliance wird die Mängel ihrer Organisation aufweisen, sie wird auch die Mittel zeigen, um sie zu beseitigen und in Zukunft zu vermeiden. Einmal die Zentralisation. Das Herz der Alliance und ihre ganze Macht war immer in Paris. Was Paris wollte, geschah, was Paris nicht wollte, unterblieb. Die nichtfranzösischen Juden fühlten sich zurückgesetzt und die auswärtigen Regierungen, deren Politik oftmals zur französischen in scharfem Gegensatz stand, betrachteten ihr Vorgehen nicht ohne Misstrauen. 1872 und 1879 wurde infolgedessen der Antrag auf Trennung der allgemeinen Alliance in Allianzen der einzelnen Länder gestellt, aber abgelehnt, und 1871 splitterten sich die englischen Juden in der Anglo Jewish Association, 1873 die österreichischen in der israelitischen Allianz in Wien von der Mutterorganisation ab. Blieben diese wenigstens noch mit ihr „in connection“, so stellte sich der 1902 gegründete „Hilfsverein deutscher Juden“ zu ihr zeitweilig in offenen Gegensatz. Die amerikanischen Juden ihrerseits, deren Bedeutung innerhalb der Gesamtjudenheit von Jahr zu Jahr gewachsen ist, haben sich der Alliance immer fern gehalten, ihre Logen, philanthropischen Vereine und in jüngster Zeit auch ihre Gesamtorganisation selbständig entwickelt.


Auf der anderen Seite machte sich, wie immer, wenn ein großes Unglück das jüdische Volk traf, in den letzten Jahren mit dem Ausbruche der russischen Progrome in zunehmendem Maße das Bedürfnis nach gemeinsamer einheitlich geleiteter Abhilfe fühlbar. Den Besprechungen der 80er und 90er Jahre folgten die Konferenzen in Frankfurt 1904, London 1905, Brüssel 1906. Sie führten zur Einigung in Einzelfragen, wie der Leitung der Auswanderung und der Organisation des russischen Hilfswerks, aber nicht zu einer dauernden Verständigung. Das Problem der Zentralisation und Dezentralisation, die beide gleich unentbehrlich sind, in zweckentsprechender Weise zu vereinigen, blieb noch zu lösen.

Ein anderer Fehler der Alliance war die Unterschätzung des demokratischen Prinzips in der Verwaltung. Die Herrschaft einiger Weniger, die, wenn auch formell von periodischen Wahlen abhängig, faktisch unabsetzbar und unverantwortlich sind, hat durch die Kontinuität und Erfahrung der Leitung sehr viel günstige Folgen, muß aber aus dem Wesen der Sache heraus zur Herrschaft einer Clique führen, die sich durch Kooptation ergänzt und allem Neuen mißtrauisch und ablehnend gegenübersteht. Dazu kommt, daß unsere Zeit — man mag es bedauern oder nicht — durchaus demokratisch durchsetzt ist und daß am allerwenigsten Juden sich kritiklos und willenlos von einer einmal bestehenden Verwaltung führen lassen. Erhält das Mitglied seine Zeitschrift, wird es durch fortgesetzte Veranstaltungen an seine Organisation und damit an sein Judentum erinnert, bietet sich ihm die Möglichkeit mitzuraten und mitzumachen, so entwickelt sich ein viel innigerer Zusammenhang, als wenn er nur einmal im Jahre, bei der Zahlung des Mitgliedsbeitrages, an die ihm fremden Oberen erinnert wird.

Dem Genie unseres Theodor Herzl ist es gelungen, die dem heutigen Zustande des jüdischen Volkes entsprechende Form der Organisation zu finden, die es ermöglicht hat, im politischen Zionismus die Juden aller Länder und Klassen, das Proletariat Rußlands und Rumäniens, wie die Bourgeoisie und die Intelligenz Deutschlands, Englands, Amerikas, Südafrikas und Australiens zu vereinigen. Er schuf die machtvolle Spitze der Verwaltung, wie die selbständigen Organisationen in den einzelnen Ländern, wußte durch weitgehende Demokratisierung aller Einrichtungen der Einsicht der Vorstände eine treffliche Kontrolle zu geben, die in den sich regelmäßig wiederholenden Versammlungen, Konferenzen und Kongressen zu immer stärkerer Betonung des Zusammengehörigkeitsgefühles führte.

Für uns Zionisten ist unsere, die zionistische Organisation, d i e Organisation der Judenheit. Und wir wünschen und hoffen, daß sie dereinst die Gesamtjudenheit restlos umfassen werde. Dennoch wären wir beschränkt, wollten wir verkennen, daß heute noch unsere eigene Organisation zu schwach ist, um alle Aufgaben, die das jüdische Volk erfüllen muß, allein auszuführen, und daß sich vorderhand unsere Haupttätigkeit auf Palästina konzentrieren muß.

Die scharfen Gegensätze, welche vor einem Jahrzehnt die zionistische Organisation von den philanthropischen und Abwehrvereinen trennten, haben sich im Laufe der Zeit durch gegenseitige Annäherung, gegenseitiges Besserverstehenlernen, zum großen Teile ausgeglichen. Wir haben beiderseits voneinander gelernt; wir Zionisten haben eingesehen, daß die Vorbedingung jeder großzügigen jüdischen Politik das zähe Festhalten jeder einmal gewonnenen jüdischen Position in den Ländern der Diaspora ist. Wir haben ferner gelernt, daß die Philanthropie bei dem heutigen Stande der jüdischen Dinge noch nicht zu entbehren, sondern nach Kräften zu unterstützen ist.

Die anderen haben noch mehr gelernt. Das bisherige System der Planlosigkeit und Zersplitterung in der Philanthropie ist wenigstens prinzipiell fallen gelassen worden und durch wissenschaftliche Erforschung der sozialen Verhältnisse der Juden und systematische Übertragung der gewonnenen Resultate in die Praxis ersetzt worden. Das Dogma von der Notwendigkeit der Dispersion der Juden ist dem Verständnis für den im jüdischen Volke immanenten Willen zu konzentrischer, geschlossener Siedelung und für deren unleugbare Vorteile gewichen. Das Vertrauen in den ,,Fortschritt der Menschheit“, der von selbst die Juden befreien wird, hat Terrain verloren an den Gedanken einheitlicher jüdischer Sozialpolitik. Der Orient und Palästina als Kolonisationsgebiet gelten nicht mehr für eine reaktionäre Utopie, sondern für eine der Zukunftsmöglichkeiten. Die Erweckung jüdischen Solidaritätsgefühls und jüdischen Stolzes pflegen jene so eifrig wie wir.

Mit einem Worte, wir sind einander soweit entgegengekommen, arbeiten in so vielen Dingen gemeinsam auf der Basis des historisch gegebenen, bewussten Stammesjudentums, daß auch eine prinzipielle organisatorische Einigung auf der Grundlage eines Mindestprogramms uns nicht mehr ausgeschlossen erscheint, und es ist unsere zionistische Pflicht, Entwicklungen, die dem Gesamtjudentum den größten Nutzen bringen würden, in jeder Weise zu fördern. Für unsere Zwecke kommt die äußere Politik vor allem in Betracht; sie läßt sich einheitlich gestalten, während die von Grund aus verschiedenen sozialen Bedingungen der einzelnen Wohnländer für die innere Politik eine Detaillierung gemeinsamer Richtlinien unmöglich machen.

Als Grundprinzip jeder auswärtigen Politik muß gelten, daß sie nur und ausschließlich jüdische Interessen vertreten darf und keinerlei andere, seien es die politischen einzelner Großmächte, noch die wirtschaftlichen einzelner Großunternehmungen. Es erscheint daher notwendig, daß die politikmachenden Organisationszentralen, von den Mittelpunkten intensivster Staatspolitik, wie Paris, Berlin, London und New-York, wo sie nur allzu leicht heterogenen politischen Einflüssen unterliegen, wegverlegt werden, nach einem politisch neutralen Orte, z. B. Brüssel, an dem auch keine jüdische Masse, durch welche politischen Schritte immer, gefährdet werden kann.

Die vornehmste Aufgabe einer solchen alljüdischen Zentrale wäre 1. der Schutz der Juden in allen Ländern der Verfolgung, also in Rußland, Rumänien, Marokko und Persien, 2. die Regelung der Auswanderung und Eröffnung neuer Einwanderungsmöglichkeilen, 3. die Vertretung der Sache des verfolgten jüdischen Volkes auf allen internationalen Konferenzen, wie der Algeciraskonferenz und der Haager Friedenskonferenz. Alle drei Tätigkeitsgebiete sind schon bisher von den Organisationen mit mehr oder minder Erfolg bearbeitet worden; die Vereinigung würde ihre Kraft zweifellos wesentlich stärken, um so mehr als zu hoffen wäre, daß dieser „Paarung“ die 200 Millionen der Jewish Colon Association als Morgengabe dargebracht würden. Im einzelnen ist nur zu bemerken, daß bei Durchführung des Judenschutzes die Finanzmisere der Barbarenländer genügend zu berücksichtigen wäre — 200 Millionen, zielbewusst geleitet, wiegen schwer für oder gegen ein Land — , ebenso wie die Einrichtung einer Selbstwehr auch in Zeiten aus setzender Verfolgungen. Bezüglich der Auswanderungsfrage haben alle willkürlichen Eingriffe zur Direktion des Auswandererstroms zu unterbleiben, und das Schicksal der Rückwanderer verdient ganz besondere Berücksichtigung, da auch hier die Zahlen allmählich in die vielen Tausende hineinwachsen. Auf den internationalen Konferenzen ist immer und immer wieder auf die Allgemeinheit und Internationalität der Judennot und auf die Notwendigkeit einer internationalen Abhilfe und Lösung hinzuweisen.

Die zweite Aufgabe neben dieser neupolitischen wäre die kulturelle, vor allem das Schulwerk im Orient. Es muß vermieden werden, daß dort die jüdische Jugend ein und des selben Landes in verschiedene, einander fremde Gruppen gespalten werde, dadurch daß ein Teil in französischer, ein Teil in deutscher, ein anderer in jüdischer, ein letzter in hebräischer Unterrichtssprache aufwächst. Hier muß der Grundsatz gelten, daß die Jugend jüdisch ist und zu Juden erzogen werden soll. Unsere orientalischen und spaniolischen Volksgenossen können nur dadurch wieder zu tauglichen Gliedern der Judenheit und der ganzen Menschheit gemacht werden, daß sie zu ihrem eigenen Ursprung, das heißt zum Hebräismus zurückgeführt wer den. Sie durch ein Sprachengemengsel zugunsten der merkantilen und politischen Interessen etwelcher Großmächte zu kulturlosen und charakterlosen Levantinern oder Talmieuropäern zu degradieren, wäre ein Verbrechen an der Zukunft des jüdischen Volkes. Die Grundlage und der Kern des Unterrichts muß daher die hebräische Sprache sein, neben ihr ist die Landessprache zu pflegen. Soll überhaupt eine europäische Sprache gelehrt werden, so muß es die sein, welche entsprechend der Muttersprache der Kinder und der Lage des Handels die Jugend am meisten zu fördern vermag. Im Bedürfnisfalle sind Fortbildungsschulen, Ackerbau- und Handwerksschulen und höhere Lehranstalten einzurichten. Auf die Erwachsenen ist durch Gründung von Lesehallen und event. von Zeitungen in jüdischem und erzieherischem Sinne zu wirken. Diese Einrichtungen sind um so notwendiger, als die orientalische Juden heil einen immer schwereren Kampf mit Syrern. Levantinern, Armeniern und Griechen und den jene schützenden Missionen zu führen hat.

Aber die Zentrale kann sich nicht mit der kulturellen Arbeit für die orientalische Judenheit begnügen, sie muß auch in der politisch-ökonomischen Arbeit für Palästina mit dem Zionismus die längste Strecke Hand in Hand gehen.

Zur Erlangung von Konzessionen, zur Verbesserung der rechtlichen, politischen, wirtschaftlichen Lage der palästinensischen Judenheit werden die Organisationen dem Zionismus in jeder Weise die Hand bieten. Zeitigt dieses praktische Zusammengehen aber erst Früchte, entwickelt sich die palästinensische Judenheit zu einer blühenden Gemeinschaft, so wird auch eine prinzipielle Einigung über die Frage des Charters zu erzielen sein. Ist, wie alle bisherige Erfahrung lehrt, der Zug nach Palästina wirklich der Wille des jüdischen Volkes, so wird die Macht der Tatsachen auch die heute noch Widerstreben den zur aktiven Unterstützung zwingen.

Die politische Vertretung der unterdrückten Judenheit, die kulturelle Hebung und Hebraisierung der orientalischen Juden, und die Förderung der in Palästina lebenden jüdischen Masse, dies sind die wesentlichen Aufgaben der äußeren jüdischen Politik. Die innere Politik hat zur Aufgabe den Kampf um völlige politisch-wirtschaftliche, soziale und kulturelle Gleichberechtigung für alle innerhalb eines Landes lebenden Juden, gelten sie als Einheimische oder als Fremde, und die Wiedererweckung und Hebung des jüdischen Bewusstseins, des jüdischen Solidaritätsgefühls und der jüdischen Kultur innerhalb der jüdischen Bevölkerung. Die hier sich bietenden Aufgaben sind für jedes Land verschieden und entziehen sich allgemeiner Behandlung.

Historische Entwicklungen vollziehen sich nicht nach vorgeschriebenem Plane, sondern nach ihren eigenen inneren Gesetzen. Trotzdem ist es nicht müßig, eine ideale Form für den Zusammenschluss der Organisation aufzustellen, um in der bunten Mannigfaltigkeit des Tages der gedeihlichen Leitlinie nicht verlustig zu gehen. Sie würde bedingen, daß in jedem einzelnen Lande eine große, alle Juden umfassende Zentralorganisation geschaffen wird, welche die innere Politik zu betreiben hat. Lässt sie sich im Anschluß an eine staatlich gegebene nationale oder konfessionelle Gliederung durchführen, und erlangt sie in der einen oder anderen Form öffentliche Rechte, vor allem das Recht der Besteuerung, dann um so besser. In Deutschland könnte etwa der Verband der deutschen Juden als Grundlage dienen. Eine bestimmte Quote der Einkünfte wäre von allen Landesorganisationen an die Brüsseler Zentrale abzuführen, deren Generalrat aus den Vertretern der Landesorganisationen entsprechend ihrer Beisteuer und Bevölkerung zu bestehen hätte. Für alle Fragen der inneren Politik entscheidet völlig unabhängig die Landesorganisation, für alle Fragen der äußeren der Generalrat der Zentrale. Für besondere religiöse oder nationale Bedürfnisse könnten ja immer noch besondere Vereine bestehen, aber die Hauptmasse der jüdischen Fragen und der jüdischen Sozialpolitik wäre an eine wirklich leistungsfähige Organisation übergegangen. Die über alle Teile und Staaten der Welt zerstreute Judenheit wäre geeint in einem aktionsfähigen, politischen Körper; die wirkliche Alliance israélite universelle träte ins Dasein.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Zionistisches Abc-Buch