Oppenheimer, Franz

geboren am 30. März 1864 in Berlin, praktizierte daselbst mehrere Jahre als Arzt, später als Spezialarzt für Hals-, Nasen- und Ohrenkrankheiten, wandte sich aber dann dem Studium der Volkswirtschaft zu und gab nach Ablauf weniger Jahre seinen ärztlichen Beruf auf, um sich vollständig den sozialen Problemen zuzuwenden. Seitdem ist er sowohl in umfangreichen wissenschaftlichen Werken, als auch in zahlreichen Zeitschriften für seine „Siedelungsgenossenschaft“ als Lösung der sozialen Frage eingetreten.

Oppenheimer ist strenger Anhänger der materialistischen Geschichtsauffassung. Er sieht in dem Volkskörper einen lebenden Organismus, und die soziale Frage ist ihm demgemäss eine Krankheit dieses Organismus, die sich von selbst heilen muß, sofern der Körper überhaupt noch die nötige Reaktionsfähigkeit besitzt, und nicht äußere Einflüsse diese Heilungstendenz gewaltsam hemmen. Ebenso wie der Arzt sich im wesentlichen auf die Naturkräfte verlassen muß und nichts weiter vermag, als mittelst seiner diagnostischen Einsicht einige Hindernisse aus dem Wege zu räumen und der heilenden Naturkraft die Bahn möglichst frei zu halten, so kann es auch nicht Aufgabe des Nationalökonomen sein, eine neue Wirtschaft zu verfertigen. Er sieht vielmehr nur das Kreißen einer Welt und kann nichts weiter tun, als die Mittel angeben, um die Entbindung durch geburtshelferische Maßnahmen vielleicht zu beschleunigen, jedenfalls aber zu erleichtern. Vor allen Dingen aber muß der Arzt eine richtige Diagnose gestellt haben, um helfen zu können, und hier gelangen wir zum Kernpunkt der Oppenheimerschen Theorie, aus der sich seine praktischen Vorschläge mit logischer Konsequenz ergeben. Er sieht den Grundfehler aller nationalökonomischen Theorie von Adam Smith bis Marx in ihrer,, industrie-zentrischen“ Auffassung. Wie alle naive wissenschaftliche Bemühung anfänglich anthropozentrisch ist, wie die ptolemäische Astronomie die Erde naiv in den Mittelpunkt des Alls gestellt und dann durch Jahrhunderte hindurch sich bemüht hat, durch immer kunstvollere Konstruktionen, durch Häufung immer neuer Systeme von Epizyklen die Grundhypothese zu halten, bis des Kopernikus' Umkehrung alle Schwierigkeiten mit einem Schlage beseitigte, so konnten auch die Nationalökonomen bisher zu keiner richtigen Diagnose der sozialen Frage kommen, weil sie als Städter das städtische Wirtschaftsleben als den Mittelpunkt der Dinge betrachteten, um die die Landwirtschaft als dienender Trabant kreiste. Der kopernikanische Gedanke Oppenheimers ist nun der, daß die Urproduktion (die Landwirtschaft) das Primäre, und die Stoffveredelung(die Industrie) das Sekundäre in der Wirtschaftsgeschichte ist. Die fundamentale Tatsache für jedes Verständnis der Industriebewegung im großen ist die ländliche Kaufkraft nach absoluter Größe und relativer Verteilung, und jedes ökonomische System, das die Wirtschaft nicht aus dieser Hauptwurzel zu verstehen sich bemüht, ist notwendig falsch, wie jede astronomische Theorie, die noch auf der geozentrischen Auffassung gegründet ist.


Schuld an diesem Tiefstand der ländlichen Kaufkraft ist aber der Großgrundbesitz. Wenn an Stelle eines Rittergutes von 10.000 Morgen 100 Bauerngüter beständen, dann wäre die Kaufkraft des Distrikts für Industrieprodukte um ein vielfaches größer, und das Land würde weit mehr Menschenkräfte lohnend beschäftigen können. Unter heutigen Verhältnissen wandern diese ländlichen Arbeiter dagegen nach dem „Gesetz der Strömungen“ in Massen in die Industriestädte ab, wo sie immer hin noch einen höheren Standard of life zu finden erwarten dürfen. Die Folge dieses ständigen Zustromes in die Städte ist aber der heutige Zustand in der Industrie, bei dem „zwei Arbeiter einem Arbeitgeber nachlaufen.“ Die Großindustrie nutzt dieses Machtverhältnis aus — und muß es unter heutigen Verhältnissen ausnutzen — um die Löhne nach Kräften niedrig zu halten und die Arbeiter möglichst auszupressen, damit sie auf dem Weltmarkt mit ihren Produkten konkurrieren kann; denn im Inlande hat sie ja keine genügend zahlreiche und kaufkräftige Land- und Industriebevölkerung. Hilfe für das städtische Proletariat kann deshalb nur eine Zertrümmerung des ländlichen Großgrundbesitzes und Etablierung einer zahlreichen Bauernbevölkerung sein, um den übermäßigen Zustrom in die Städte zu hemmen. Die Industrie würde dadurch nicht etwa gefährdet; denn sie fände, statt möglichst billig und bei unsicheren Chancen auf dem Weltmarkt anbieten zu müssen, einen weit größeren und kaufkräftigeren Markt im Inlande. Andererseits würde die Konkurrenz der fremden, Getreide exportierenden Länder auch aufhören, den Preis des inländischen Getreides so herabzudrücken, daß unsere Landwirtschaft nur durch Einfuhrzölle lebensfähig erhalten werden kann. Unter heutigen Verhältnissen liefern wir nämlich in unserem auswandernden Überschuss jenen Ländern selbst die billigen Arbeitskräfte, durch die sie unser Inlandgetreide auf unserem eigenen Markt unterbieten können. Das wird aufhören, wenn diese Hände zu Hause lohnende Arbeit finden.

Noch vollkommener als durch Schaffung einer zahlreichen Bevölkerung von Einzelbauern sieht Oppenheimer die Erreichung des Zieles in seinem Vorschlage der Gründung von Siedelungsgenossen schaffen. Hierüber siehe Weiteres unter „Siedelungsgenossenschaft“.

Literatur. „Freiland in Deutschland“, Berlin 1895. — „Die Siedelungsgenossenschaft“, Berlin 1896. — „Großgrundeigentum und soziale Frage“, Berlin. — „Die soziale Bedeutung der Genossenschaft“, Berlin 1899. — „Das Bevölkerungsgesetz des Malthus“, Berlin 1900. — „Das Grundgesetz der Marxschen Gesellschaftslehre“, Berlin 1903. — „Der Staat“, Frankfurt a. M. 1907. Ferner zahlreiche Monographien in Zeitschriften, Broschüren und Zeitungen.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Zionistisches Abc-Buch