Neben oder Nachbarländer Palästinas

werden in den Kreis zionistischer Politik gezogen aus folgenden Erwägungen:

I. Die Notwendigkeit einer Gegenwartsarbeit, einer Unterbringung von Emigranten, solange Palästina selbst solche nicht in genügender Zahl aufnehmen kann.


II. Die Notwendigkeit neue Immigrationsgebiete nach immer weiter sich ausdehnender Abschließung der alten Immigrationsländer zu erschließen.

III. Der Wunsch, die Emigranten möglichst im Orient zu konzentrieren,

a) nahe zu Palästina zwecks späterer Einbeziehung in dieses, Bildung eines kompakten Ganzen oder wenigstens einer jüdischen Majorität in einem Teile des Orients.

b) nahe den Auswanderungsgebieten wegen der geringen Beförderungskosten.

IV. Die Tatsache der englischen, also gesicherten Verwaltung einzelner Nachbarländer Palästinas.

V. Die Unbestimmtheit und historische Wandelbarkeit des Begriffes „Palästina“, die frühere Zugehörigkeit einzelner Nachbarländer zu Palästina,

VI. Die Möglichkeit einer Zusammenarbeit von Palästinensern und Antipalästinensern, welch letztere sich vor allem gegen die türkische Verwaltung sträuben, — die Möglichkeit, als Einigungsmittel für die einzelnen Parteiungen im zionistischen Lager zu dienen.

VII. Die wenig dichte Bevölkerung dieser Gebiete und die Notwendigkeit der Vorbereitung einer für die spätere Zukunft vielleicht erforderlichen Ergänzung Palästinas.

Diese Erwägungen führten aber auch sogleich zu der Unterscheidung von „nächsten“ und „weiteren“ Nachbarländern. Gegen letztere spricht vor allem der Mangel guter Verbindungswege und die Unmöglichkeit späterer Einbeziehung in Palästina. Immerhin ist aber jede Kolonisation in irgend einem Gebiet des Orients vom jüdisch-politischen Standpunkt fördernswerter als eine weitere Zerstreuung über einen größeren Teil der Erde. Der Gesichtspunkt der möglichsten Konzentration beschränkt aber weiter die Zahl der Nachbarländer. Länder, die so groß sind, daß die Juden in ihnen nie eine Majorität bilden könnten, sondern immer nur einen kleineren Prozentsalz (wodurch ähnliche Verhältnisse sich her ausbilden würden, wie in den Ländern des jetzigen Golus), scheiden daher aus der Betrachtung aus. Solche Länder sind:

1. Ägypten mit einer Bevölkerung von 10 Millionen (nicht ganz ohne Antisemitismus), abgesehen von der Sinai Halbinsel.

2. Kleinasien mit 9 Millionen Bevölkerung, ausgenommen vielleicht die Provinz Adana und die Insel Rhodos.

3. Arabien, allenfalls das alte Midjan.

4. Armenien.

5. Mesopotamien, ausgenommen allenfalls die Strecken, längs der Bagdadbahn.

In Frage kommen dagegen:

I. Cypern. Im Mittelländischen Meer, ungefähr in Höhe der syrischen Provinz Aleppo gelegen. 28 Meilen von Palästina. Türkisch, aber unter englischer Administration. Durch aus geordnete Verhältnisse, Sicherheit des Eigentums und Lebens. 9300 qkm, 240.000 Einwohner, pro qkm ungefähr 26 (um auf deutschen Durchschnitt zu kommen), noch für 700.000 Menschen aufnahmefähig. 180.000 griechischer Kirche, nicht identisch mit griechischer Abstammung oder Nationalität, 50.000 Moslems, 100 Juden. Nur ein kleiner Teil des Bodens der Insel unter Kultur, primitivste Bodenbearbeitung. Einwanderung der einheimischen Bevölkerung und der englischen Regierung erwünscht, von dieser in jeder Weise gefördert. Bekämpft nicht auf der Insel selbst, aber In Griechenland und von griechischen nicht cyprischen Zeitungen und Chauvinisten.

Bei den jüdischen Plänen für Cypern dachte man vor allem an den östlichen Teil der Insel, besonders an den Distrikt von Famagusta, der der fruchtbarste und gesündeste der ganzen Insel ist, in dem die englische Regierung neuerdings Wasserwerke, Hafen und Eisenbahnen bauen ließ. In diesem Teil tritt Fieber so gut wie gar nicht mehr auf, während es in den andern Teilen der Insel nicht häufiger ist wie in Palästina und anderen Mittelmeergebieten, bei vorsichtiger Lebensweise aber zu verhüten ist.

II. Sinai-Halbinsel — Ägyptisch-Palästina — El-Arisch. Im Südwesten von Palästina gelegen. Ein ursprünglich (auch in biblischer Zeit) zu Palästina gehöriger Teil ist jetzt infolge einer Grenzregulierung zu Ägypten gekommen und steht so unter englischer Administration.

Es ist zu unterscheiden:

1. das Ganze:

Sinai-Halbinsel, die ganze Halbinsel mit der dazu gehörigen Mittelmeerküste, entspricht der ägyptischen Provinz El-Arisch (ca. 59.000 qkm mit ca. 20.000 Einwohnern, also ungefähr noch einmal so groß wie Palästina).

2. davon ein Teil:

Ägyptisch-Palästina, der Landstrich der zionistischen Aspirationen, d. h. die Mittelmeerküste von Tell-Refah bis Port-Said (etwa 5000 qkm mit ca. 12—15000 Einwohnern).

3. davon ein Teil:

El-Arisch, der eigentlich palästinensische Teil, d. h. der Küstenstrich von Tell-Refah bis zum Wadi El-Arisch, dem alten Nachal Mizraim (ca. 1000 qkm mit etwa 1000 Einwohnern.)

Bei den Diskussionen über diese Gebiete findet man vielfach Unklarheit, was unter den einzelnen Bezeichnungen zu verstehen ist, ob das Ganze oder ein Teil und welcher Teil. Ägyptisch-Palästina mit El-Arisch ist gesundes, teilweise sehr fruchtbares Land. Der von der zionistischen Expedition erforschte Küstenstrich erwies sich zunächst als zu wasserarm für die Ansiedlung von größeren Massen. Der Bericht dieser Expedition ist vorläufig nicht veröffentlicht worden. Man wird sein Erscheinen abwarten müssen, ehe man ein genaues Urteil über dieses Gebiet sich bilden kann, da es sonst bisher wenig erforscht wurde.

III. Die Insel Rhodos, die im Altertum 200.000 Einwohner hatte, jetzt nur 30.000 auf 13.000 qkm, darunter 4000 Juden.

IV. Der südliche Küstenstreifen der kleinasiatischen Provinz Adana, eine fruchtbare Gegend, in der die Städte Mersina, Tarsus und Adana liegen.

V. Mesopotamien, längs den Strängen der Bagdadbahn, die zu einem großen Teil durch fast menschenleeres Gebiet führt, das sich aber vorzüglich für eine Baumwollkultur eignen würde. Kolonisation längs dieser Strecke würde die Rentabilität der Bahn erhöhen, wenn nicht gar erst schaffen.

H i s t o r i s c h e s. Die öffentliche Aufmerksamkeit auf die Nachbarländer Palästinas zu lenken, versuchte zuerst Dr. Nathan Birnbaum in einem Artikel „So lange es Zeit ist“ in der „Jüdischen Volkszeitung“ vom 3. April 1894 (wiederabgedruckt in „Palästina“, 2. Jahrgang). 1898 wurde dann von Davis Trietsch, Motzkin u, a. in Berlin der Verein „Scha'are Zion“ gegründet, der „vorbereitende Schritte zur Erlangung der nötigen Informationen über die Nachbarländer Palästinas (speziell Cypern und die an Palästina angrenzenden unter ägyptischer Schutzherrschaft stehenden Landesteile) und die Möglichkeit einer Massenkolonisation daselbst“, unternehmen sollte. Versuche, in den folgenden Jahren, rumänische und boryslawer Juden in Cypern anzusiedeln, misslangen, weil die Leute Furcht vor Fieber und keine Ausdauer hatten, und da sie bei den Versuchen eigene Mittel nicht riskiert hatten, durch ihren baldigen Fortgang nichts Eigenes verloren. Eine Kolonie der I. C. A. reüssierte dagegen. Auf dem Delegiertentage der deutschen Zionisten, der Mai 1901 in Berlin stattfand, wurde eine Resolution angenommen, die es als Pflicht der Zionisten bezeichnete, ,,ihr Augenmerk auch den Palästina benachbarten Ländereien zuzuwenden und dahin zu streben, daß die Auswanderung, die bereits jetzt stattfindet, nach diesen Gebieten, z. B. dem unter ägyptischer Herrschaft stehenden südwestlichen Teil des alten Palästina (Wadi El-Arisch) gelenkt werde, solange es nach Palästina in größerem Umfange noch nicht ausführbar ist.“ Inzwischen wurde die Frage in jüdischen Zeitungen von Trietsch, B. Ebenstein und Bendavid eifrig propagiert. Auf dem zweiten Zionisten-Kongress sprach Motzkin zum erstenmal an dieser Stätte von der Unbestimmtheit des Begriffes „Palästina“ und von einem „größeren Palästina“. Im Baseler Programm ist bekanntlich nur von „Palästina“ die Rede, in anderen offiziellen zionistischen Verlautbarungen wurde aber Immer von ,,Palästina und Syrien“ gesprochen. Demgegenüber wollte auch am 11.Kongress Dr. Bodenheimer bei der Beratung der Bankstatuten die Möglichkeit einer Kolonisation in Cypern gewahrt wissen. {Prot. S. 173.) Am III. Kongress (Prot. S. 232) wandte sich Trietsch gegen die Unbestimmtheit des Begriffes ,,Palästina und Syrien“ und proponierte eine Aktion in Cypern. Der Kongress ließ ihn aber kaum zu Worte kommen, weil man in dem Vorschlag ein Abweichen von „Palästina“ erblickte. Herzl verhielt sich objektiv, er wollte wohl die Stimmung der Delegierten kennen lernen. In Briefen an Trietsch bezeichnete indes Herzl das Cypernprojekt als ,,ultima ratio, wenn wir nicht reüssieren, und eine mitlaufende Kombination, wenn wir reüssieren.“ Am V. Kongress polemisierte Trietsch wiederum gegen den Zusatz ,,und Syrien“, und wollte dafür die Fassung „Palästina und seine Nachbarländer“ offiziell in das Programm aufgenommen wissen. Der Kongress ging darauf nicht ein, hörte ihn aber ruhiger als der III. Kongress an. Der damals arbeitende Kolonisations-Ausschuss legte aber „besonders darauf Gewicht, Palästina im engeren Sinne als das Land zu bezeichnen, in dem die öffentlichrechtlich gesicherte Heimstätte zu errichten sei. Er betont ausdrücklich, daß er sich nicht mit anders gearteten Bestrebungen identifiziere . . . .“ Nichtsdestoweniger entsandte doch das zionistische Aktions-Komitee zwischen dem V. und VI. Kongress eine Erforschungsexpedition nach Ägyptisch Palästina, deren Ergebnisse aber bis her nicht bekannt gegeben wurden. Es scheint aber, als würde die zionistische Organisation sich noch einmal mit diesem Landgebiet zu befassen haben. Für Cypern machte indes Trietsch weitere Propaganda, die zur Gründung einer Orient-Kolonisationsgesellschaft führte. Sie reüssierte aber nicht (was an verschiedenen Umständen lag, von denen keiner gegen Cypern spricht). Gleichzeitig begann die I. C. A. Ländereien in Cypern zu kaufen, ohne sie indes bisher zu kolonisieren. Im letzten Jahre hat auch eine nichtjüdisch englischägyptische Gesellschaft mit einem Kapital von 10 Millionen in Cypern Land zu kaufen begonnen, wodurch die Landpreise auf Cypern stark in die Höhe gingen. Zu den steten Gegnern von Cypern gehörte u. a. Ussischkin. Für die anderen „Nebenländer“ ist bisher wenig Propaganda gemacht worden, praktische Schritte sind nach dieser Richtung so gut wie gar nicht getan. Nur für die Anlegung von jüdischen Kolonien längs der Bagdadbahn trat Prof. Warburg 1904 auf dem Hamburger Delegiertentage deutscher Zionisten ein. Bisher ist weiteres über dieses Projekt nicht zur öffentlichen Kenntnis gelangt.

Literatur: Protokolle der Zionisten-Kongresse I.?VII. — Samiel: El-Arisch (Palästina, II. Jahrgang 212—25) mit Literatur-Angaben über Ägyptisch-Palästina. — Davis Trietsch: Die Nachbarländer (Altneuland 1905, S. 184?99), Die Judenfrage und Vorschläge zu ihrer Lösung. (1904. Verlag des „Generalanzeiger f. d. g, I. d. Judentums“, Berlin.) — O. Warburg: Der wirtschaftliche Wert und die Kolonisation Palästinas (Separatabdruck aus ,, Altneuland“, Berlin 1905). — Handbook of Cyprus (er scheint jährlich).



Dieses Kapitel ist Teil des Buches Zionistisches Abc-Buch