Nationalismus und jüdische Religion

Der innige, unauflösliche Zusammenhang zwischen Religion und Nationalismus im Judentume nimmt seinen Ausgang bereits vorn ersten Verse der israelitischen Urgeschichte. Genesis, Kap. 12, 1—3, heißt es; „Und Gott sprach zu Abraham: Ziehe hinweg aus deinem Lande, deiner Verwandtschaft und dem Hause deines Vaters in das Land, das ich dir zeigen werde. Ich will dich zu einem großen Volke machen, dich segnen und deinen Namen groß machen; und du sollst ein Segen werden!“

Mit diesem Verse ist das Spezifixum unserer Religion ein für allemal gegeben. Er erzählt, wie Gott einen Mann ausgelesen, zum Volksvater gemacht und mit einer sittlichreligiösen Mission betraut hat. Man könnte meinen, daß mit der Tatsache des Stammvatertums nichts Besonderes gegeben sei, da ja viele Völker, und nicht einmal die höchststehenden, sich auf einen Stammvater zurückführen. Bei Israel aber ist die Rückführung eine religiöse: die Auslese, die Erwählung durch Gott. Gott schließt mit dem Volksvater einen Bund (Genesis 15). Dieser Bund zwischen Gott und dem Volksvater ist das ewige Symbol des Zusammenhangs zwischen dem Religiösen und dem Volklichen in Israel. Das Judentum ohne Israel ist undenkbar, undenkbar auch Israel ohne das Judentum.


Niemals hat die jüdische Geschichte diesen Standpunkt verlassen. Unsere ganze Urgeschichte ist beherrscht von dem Gedanken der Auslese. Dieser Gedanke war mit Abraham begründet, aber noch nicht durchgesetzt. Unter seinen ersten Nachkommen erfolgt sie immer von neuem: Ismael und Esau müssen zurücktreten vor Isak und Jakob. In Jakob setzt sich der Gedanke durch. In Ägypten endlich wird ihm durch die großartige Erneuerung des abrahamitischen Bundes die Krone aufgesetzt (Exod. 6, 2—8). Was dort von neuem verheißen wird, das erhält am Sinai sozusagen seine offizielle Bestätigung. Dort werden die beiderseitigen Bundesbedingungen zwischen Gott und Israel festgesetzt, die ihren Höhepunkt in dem sittlich und religiös gleichbedeutenden Verse finden: „So ihr nun auf mich hören und meine Ordnungen beobachten wollt, so sollt ihr unter allen Völkern mein besonderes Eigentum sein; denn mir gehört die ganze Erde. Und ihr sollt mir sein ein Reich von Priestern und ein heiliges Volk.“ (Exod. IQ, 5?6.)

Wie stark im alten Israel der Bundesgedanke war, beweisen die zahlreichen „Bundeserneuerungen“, welche die ganze alte Geschichte begleiten. Eine jede große religiöse Reformation nimmt die Form einer Erneuerung des „berith“ an. Wir haben solche Erneuerungen unter Josua (Kap. 24, 25), Samuel (1. Samuel 12, 22), Elia am Karmel, Hiskia {2. Chron. 23, 3; 29, 10), dem Hohenpriester Jojada (2. Kge. 11, 17), dem Könige Josia {2. Kge. 23, 3), dem Könige Zedekia (Jerem. 34), Esra und Nehemia (Nehem. 9 und 10).

Der Bundesgedanke durchseelte das alte Volksleben Israels so intensiv, daß sich die verschiedensten Verhältnisse unter diesen Gedanken ordneten. Es blieb nicht beim auserwählten Volk: Kanaan wurde das auserwählte Land (Levit. 25 Anfang), Jerusalem die auserwählte Stadt (1. Kge. 8, 16), der König galt als der spezielle Erwählte Gottes. Als ständiges Symbol der Auserwählung aber stand dem Volke Israel der Stamm Levi, dem Priestervolke der Priesterstamm gegenüber, dessen Verhältnis zu Gott sich ebenfalls in Gestalt eines speziellen Bundes Gottes mit Levi darstellte (Deuter 33, 9; Mal. 2, 4—6).

Der Bundesgedanke beeinflusste im Tiefsten das mosaische Gesetz. Die ganze Einrichtung des Jubeljahres z. B., des Sklavengesetzes, der Agrarverfassung, ist undenkbar ohne die Voraussetzung der Auserwählung. Beweis: Levit 25. „Mein ist das Volk; mein ist das Land!“ So sagt Gott, und die genannten Gesetze sind die schlichte Konsequenz dieser Gedanken.

Ja, es ist sogar zu behaupten, daß ohne den Auserwählungsgedanken niemals der Gottesgedanke in Israel jene hohe, alle nationalen Grenzen überfliegende Entwicklung genommen hätte, wie sie in unseren Propheten ihren Höhepunkt erreicht hat. Die ganze protestantischtheologische Wissenschaft des 19.Jahrhunderts bemüht sich, das Judentum dem Christentum gegen über als etwas Minderwertiges darzustellen, gerade mit der Begründung, daß das Judentum in der Volksreligion stecken geblieben sei und sich nie zur wahren Weltreligion habe erheben können (cf. Kuenen „Volksreligion und Weltreligion“). Als Argument zu diesem Beweise muß immer und immer wieder der Auserwählungsgedanke herhalten, der eben ein für allemal konstatiert haben soll, daß Israel an Gott und Gott an Israel gebunden sei, und daß damit keiner über den anderen hinaus könne. In der Tat aber liegt gerade dem Gedanken der Auserwählung schon der allerausgebildetste Gottesbegriff zugrunde: Ein Gott, der auserwählt, muß die Macht haben, zu wählen, d. h. er ist kein Nationalgott im Sinne unserer pseudowissenschaftlichen Gegner. Vielmehr ist er die Allmacht. „Mein ist die ganze Erde,“ damit begründet Gott am Sinai seine Auswahl. Der Auserwählungsgedanke bedeutet einfach eine der tiefsten religiösen Äußerungen des alten Israel.

So ist er es vor allem auch gewesen, der all die Zukunftshoffnungen durchseelt und durchwältigt hat, mit denen unsere Propheten uns in den Tagen des nationalen Zusammenbruchs gespeist haben. Vor der Katastrophe vom Jahre 586 war es nichts als dieser Gedanke, der Israel aufrecht erhalten hat: Ein Rest wird bleiben! Mit ihm wird Gott einen neuen Bund schließen, einen Bund der Herzen, einen ewigen Bund: Für wahr, es kommt die Zeit — ist der Spruch des Herrn — da will ich mit dem Hause Israel einen neuen Bund schließen; nicht wie der Bund war, den ich mit ihren Vätern schloß, als ich sie bei der Hand nahm, um sie aus Ägypten wegzuführen, welchen Bund mit mir sie gebrochen haben, obwohl ich doch ihr Herr war! . . . Vielmehr darin soll der Bund bestehen, den ich nach dieser Zeit mit dem Hause Israels schließen will, ist der Spruch des Herrn: ,,Ich lege mein Gesetz in ihr Inneres und schreibe es ihnen ins Herz, und so will ich ihr Gott sein, und sie sollen mein Volk sein! (Jer. 31, 31—35.)

„Ich will ihr Gott sein, und sie sollen mein Volk sein!“ Das Wort des Jeremia machte einen solchen Eindruck auf die Gemüter, daß es damals zum Schlagwort eines Jahrhunderts wurde. Alle Hoffnungen knoteten sich an diesem Worte fest. Nach dem Falle Jerusalems nahm Ezechiel das Wort auf und wiederholte es immer und immer wieder (Ez. 34, 24 — 31; 37, 27). Und der sogenannte zweite Jesaja war es, der von der Ewigkeit, der künftigen Unauflöslichkeit dieses Bundes begeistert predigte: Mögen Berge weichen und Hügel wanken, meine Huld soll nicht von dir weichen und mein Friedensbund nicht wanken, spricht dein Erbarmer, der Herr! (Jesaja 54, 10.) Daß gerade dieser letzte Prophet, der bekanntlich mit am tiefsten die Idee der Weltgeschichte, des Weltvolkes und des Weltgottes in sich durchgesetzt hat, von solchen Gedanken innig erfüllt sein konnte, ist ein klarer Beweis dafür, wie wenig der Auserwählungsgedanke dem kosmopolitischen Ideal widerspricht

So ist denn der untrennbare Zusammenhang zwischen nationalen und religiösen Idealen im alten Israel nachgewiesen. Was damals aber untrennbar war, wurde es später noch mehr, und als Israel unter die Völker zerstreut wurde, war an keine Trennung mehr zu denken. Denn da wurde ihnen schon von außen her durch die brutale Gewalt der Feinde eingeprägt, daß sie Fremdlinge seien. Wie sehr aber der Gedanke des Volkstums in ihnen lebendig war, davon ist ein sprechender Beweis unser Gebetbuch, das uns immer in der ersten Person Pluralis beten läßt, jeden für den ganzen Stamm, und das die Sehnsucht nach der allgemeinen Volkswohlfahrt in tausend Formen variiert. Es wäre überflüssig, das ganze Gebetbuch auf die Stellen durchzugehen, die von Auserwählung, Bund und ähnlichen Ideen zeugen. Man denke nur, um einige markante Stellen herauszuheben, an den Segensspruch über die Thora, an die Habdalah am Sabbatende, an das ganz von nationalem Geiste durch setzte Achtzehngebet. Man sehe sich die Feste an, die fast durchweg an nationale Erinnerungen sich knüpfen. Ein geistreicher Gelehrter sagte einmal: „Die Juden beten Logik und singen Metaphysik.“ Viel richtiger, ja einzig richtig wäre es, zu sagen: Sie beten Geschichte. Jüdischer Religionsunterricht ist jüdischer Geschichtsunterricht. An den heiligsten Festen des Jahres steht als stärkste Macht Israel die Berufung auf die Vergangenheit zur Seite. Das haben wir in keiner Religion sonst. Es ist das allerseits anerkannte Spezifikum des Judentums und nichts anderes als die nun genugsam nachgewiesene Tatsache des innigsten Zusammenhangs unserer religiösen Empfindungen mit der Geschichte unseres Volkes.



Dieses Kapitel ist Teil des Buches Zionistisches Abc-Buch