Misrachi

Der Misrachi (zusammengesetztes Wort; Im Sinne der Gründer herzuleiten von merchas ruchni d. h. geistiger Mittelpunkt), ist eine Vereinigung gesetzestreuer Zionisten.

Nachdem auf dem V. Kongresse und besonders auch auf der diesem bald folgenden Minsker Konferenz eine lebhafte Kulturdebatte sich entwickelt hatte und von vereinzelten Seiten dem reinen National-Judentum auf religiösradikaler Basis das Wort geredet war, entstand bei denjenigen Zionisten, welche auf dem Boden eines unverrückbaren Thoragesetzes standen, der Wunsch nach einem engeren Zusammenschlüsse.


Es mußte in ihren Reihen klar ausgesprochen werden, daß Thora, Zion und Israel ihnen drei unzertrennliche Begriffe seien, eine Anschauung, weiche nur dann dem Kongresse gegenüber wirkungsvoll zum Ausdruck gebracht werden konnte, wenn sie von einer achtunggebietenden, geschlossenen Anzahl von Gesinnungsgenossen vertreten sein würde. Die Aufgabe des M. ist daher rein kultureller, nicht politischer Natur. Es galt in festgefügter Organisation den Standpunkt der Gesetzestreue innerhalb des Zionismus zu wahren und zu vertreten. Es galt aber auch, nach außen hin die vielfach ausgesprochene Befürchtung wirksam zu zerstreuen, als ob nationales Empfinden mit religiöskonservativer Gesinnung sich nicht vereinbaren ließe. Nur in Verfolgung dieser Ziele durfte man erwarten, die Werbung für den Zionismus in gesetzestreuen Kreisen erfolgreich durchführen zu können.

Politisch kennt der Misrachi keine Sonderbestrebungen. Hier will er gemeinsam mit allen zionistischen Gesinnungsgenossen zusammenarbeiten. So wird es erklärlich, daß der M. auf den letzten beiden Kongressen, denen lediglich Fragen politischer Natur zur Erörterung vorlagen, nicht hervorgetreten ist.

Kurz nach dem V. Kongress traten russische, misrachistisch gesinnte Zionisten zu einer Konferenz in Wilna zusammen und gründeten offiziell den Misrachi. Aus den übrigen Ländern der Diaspora äußerten sich vielseitig zustimmende Kundgebungen, so daß im folgenden Jahre bereits eine Gruppe von hundert und einigen Delegierten in den VI. Kongress einziehen konnte. Vom 10. — 13. Elul 5664 (19. — 21. August 1904) fand darauf ein allgemeiner Misrachisten lag in Preßburg statt, einberufen von Rabb. J. Reines, Lida und einer größeren Anzahl Rabbinern aus Rußland, Rumänien, Galizien, Ungarn, Deutschland, England und Amerika. Zum Vorsitzenden des Gesamtmisrachi ward Rabb. Reines, Lida gewählt. Das hier geschaffene Organisationsstatut, das sich im wesentlichen an das allgemeine zionistische anschließt, enthält den für die Stellung des M. zur Gesamtbewegung charakteristischen Paragraphen, daß zur Aufnahme in den M. der Nachweis der Zugehörigkeit zu einer zionistischen Ortsgruppe unbedingt notwendig ist. Schon in Preßburg machte sich aus Gründen der Erleichterung des Verkehrs zwischen den einzelnen Gruppen und der Zentrale die Notwendigkeit der Bildung verschiedener Zentralen geltend. Es ward daher eine osteuropäische Zentrale für Rußland, Rumänien, Galizien, mit dem Sitze in Lida (Vorsitzender Rabb. J. Reines), eine westeuropäische für die übrigen Länder Europas in Frankfurt a. M. (Vorsitzender Rabb. Dr. Nobel, Hamburg) und eine amerikanische in New-York (Rabb. D. Klein) geschaffen. Außer dem üblichen Schekel und Landesbeitrag zahlt der Misrachist einen Maß (Tribut), mit welchem die Kosten des Bureaus und der Propaganda gedeckt werden sollen.

Letztere betreffend, sucht der M. durch die Veranstaltung größerer Versammlungen, periodisch erscheinende Zeitschriften (für Westeuropa das Frankfurter Israelitische Familienblatt) Flugschriften und Broschüren, wie durch den freien Ideenaustausch in den einzelnen Gruppenverbänden seiner Aufgabe gerecht zu werden. Propagandistisch soll auch die misrachistische Jeschiwah in Lida wirken (Leiter Rabb. Reines), welche die gründliche Ausbildung gesinnungs- und gesetzestreuer Zionisten bezweckt

Die beim Beginne der misrachistischen Bewegung vom allgemeinen zionistischen Standpunkte gehegte Befürchtung, daß der M., als eine Fraktion, die Einigkeit im Zionismus zu stören geeignet sei, hat sich bisher als unbegründet erwiesen. Man erkennt, nach dem bereits charakterisierten Verhalten des M, jetzt wohl allgemein an, daß der M. eine Schädigung der Bewegung keineswegs ausüben wird; dagegen ist das Bestreben des M, nationale Güter unseres Volkes, den unverfälschten Glauben der Väter, die altgeheiligten Sitten und Gebräuche, unsere ehrwürdige hebräische Sprache, zu erhalten und zu verbreiten, wohl geeignet, ihm aus den Kreisen gesetzestreuer Juden neue Anhänger zu werben. (S. auch Zionismus, Geschichte der Bewegung.)

Die Adressen der Zentralen sind: Rabbiner Reines in Lida, Bureau des M. für Westeuropa, Frankfurt a. M., Allerheiligenstraße 3, Rabbiner Dr. Klein, 57 East 3.th. Street New-York.

Literatur: Rabbiner Dr. Roth in Papa (Ungarn): Der Zionismus vom Standpunkt der Orthodoxie, 1904. — Rabbiner Reines: Die Stimme Zions 1905. — Dr. Feuchtwanger: Misrachi 1907.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Zionistisches Abc-Buch