Minsk

II. Landeskonferenz der russischen Zionisten. (In der „Welt“ irrtümlich als, I. bezeichnet, wobei die zwischen I. und II. Baseler Kongress in Warschau abgehaltene Konferenz außer Betracht blieb) Sie tagte vom 4.— 10. Oktober 1902 mit Genehmigung des Ministeriums Plehwe — zum Erstaunen der jüdischen und nichtjüdischen Welt Rußlands. Die behördliche Legalisierung einerseits, sowie andererseits die großartige Beteiligung an der Konferenz — 570 Delegierte aus allen Teilen Rußlands, die die dreifache Zahl Ortsgruppen vertraten — und die Mannigfaltigkeit der Beratungsgegenstände hoben das Ansehen des Zionismus in Rußland und bewiesen deutlich die außerordentlich ausgedehnte und tiefgreifende Bedeutung des Zionismus für die russische Judenheit. Der politische Zionismus in Rußland stand damals zwischen dem V. und VI. Kongress auf seiner Höhe, — Zum erstenmal traten auf der Konferenz der „Misrachi“ und die „Fraktion“ als selbständige Gruppen auf, ersterer mit einer Delegiertenzahl von über 120. (S. „Misrachi“ und „Demokratisch-zionistische Fraktion“.)

Den Vorsitz während der Konferenz führte Dr. Tschlenow.


Die Hauptverhandlungsgegenstände waren folgende:

1. Berichterstattung des Informationsbureaus und der Rayonsvorsteher, die ein stetiges und allgemeines Wachstum der Bewegung konstatierte.

2. Referat Ussischkin über die Neugestaltung der zionistischen Organisation in Rußland, das mit Vorschlägen durchgreifender Änderungen schloß. Dieselben wurden zu späteren eingehenden Beratungen überwiesen.

3. Debatte über den Nationalfonds, deren Ergebnis der Beschluss war, dem nächsten Kongress vorzuschlagen: 1. daß alle Gelder, die für den N. F. einfließen, ausschließlich zum Landankauf in Palästina verwendet werden sollen und 2a) daß der Paragraph der Statuten, welcher von der Höhe des N. F. handelt, dahin abgeändert werde, daß keinerlei unantastbares Grundkapital festgesetzt wird; 2b) vielmehr die jeweils vorhandenen Beträge sogleich nach Möglichkeit zum Landankauf ausgegeben werden sollen. Der Kongress hat sich späterhin den Vorschlägen 1 und 2a) angeschlossen, nicht dagegen dem zu 2b).

4. Diskussion über die Kolonialbank. Man beschloß, Share-Klubs zu gründen, sowie das Ersuchen an die Bankleitung zu richten, allmonatlich in den jüdischen Blättern Geschäftsberichte zu veröffentlichen.

5. Den breitesten Raum in den Verhandlungen nahm die Kulturfrage ein. Die Diskussion wurde eingeleitet durch ein Referat Achad Haams über „Nationale Erziehung vom theoretischen Gesichtspunkt“. Dasselbe gipfelte in dem Satze, daß seit Beginn der Aufklärungsperiode auf wissenschaftlichem und künstlerischem Gebiete von Juden als Juden nichts wahrhaft Originelles geschaffen wurde. Diese geistige Not sei kein geringeres Unglück als die materielle, und wenn der politische Zionismus sich zum Ziele gesetzt hat, eine Heimstätte für unser heimatloses Volk zu schaffen, so sei ein zweites Ziel nicht minder wichtig: die Schaffung eines geistigen Zentrums zur Sammlung für alle unsere geistigen Kräfte.

Diesen Ausführungen tritt Sokolow in seinem Referat über „Nationale Erziehung vom praktischen Gesichtspunkt“ entgegen: Der Zionismus müsse dort ansetzen, wo Mangelndes zu ersetzen sei, nicht aber, wo ein leidlich volles Maß zum Überfluß gebracht werden solle. Die Schaffung einer territorialen Unterlage werde von selbst eine Blüte der nationalen Kultur zeitigen. Daher sei nicht die Schaffung einer Zentralversuchsstation für Originalgenies, sondern eine große und freie Kolonisation auf dem Boden der Urheimat das Ideal des politischen Zionismus.

Beide Referenten hatten eine Reihe von Vorschlägen zur Annahme empfohlen, der erstere mehr allgemeiner, der letztere speziellerer, d. h. mehr praktischer Art. Im Grunde aber waren beide Referenten einig über den Begriff der „jüdischen Kultur“ im Sinne der Fraktion, in deren Namen sie sprachen. In der sich anschließenden, dreitägigen, sehr erregten Debatte kam es zu scharfen Auseinandersetzungen zwischen Fraktion und Misrachi. Obwohl die Misrachisten, verstärkt durch den Anschluß eines großen Teiles der „Politischen“ es leicht hätten erreichen können, die ganze Frage, für die es vom misrachistischen Standpunkt nur eine Lösung, die der Erziehung im thoratreuen Geiste gibt, von der Tagesordnung abzusetzen, verzichteten sie auf einen solchen Sieg, in der Erkenntnis, daß geistige Strömungen nicht durch den Stimmzettel überwunden werden.

Der einzig gangbare Weg, der niemand zur Preisgabe seiner Prinzipien nötigte, wurde beschritten, indem ganz allgemein eine Resolution angenommen wurde, welche die nationale Erziehung jedem Zionisten zur Pflicht macht. Im übrigen wurden für die Kulturtätigkeit keinerlei allgemeine Gesichtspunkte aufgestellt, die Kulturarbeit aus dem Arbeitsbereich der Zentralorganisation herausgenommen und die Art und Weise der Kulturarbeit dem Ermessen der einzelnen lokalen Organisationen überlassen. Außerdem wurden aus den beiden Parteilagern zwei fünfgliedrige Kulturkommissionen gewählt, die aber niemals in Aktion getreten sind.

6. Den Schluß der Verhandlungen bildete das Referat des Dr. Ch. D. Horowitz „Über die Aufnahme der ökonomischen Tätigkeit in das zionistische Programm“. Der Redner empfahl die Gründung von Instituten, die außer der Verbesserung der materiellen Lage der Juden auch die jüdische soziale und nationale Solidarität verwirklichen sollen. Die Vorschläge wurden einer Kommission überwiesen.

Literatur: Die Welt, Jahrgang 6, 1902.



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