I. Kongress

Am 29. August 1807 wurde in Anwesenheit von 204 Delegierten im Baseler Stadt-Kasino unter ungeheurem Enthusiasmus der erste Zionistenkongress durch den Alterspräsidenten Dr. med. Karl Lippe-Jassy eröffnet. Seinem Antrag gemäß beschloß man als erste Kundgebung der jüdischen Volksvertretung die Absendung einer Ergebenheitsadresse an den Sultan. Dann folgte die mit stürmischem Beifall aufgenommene Programmrede von Dr. Theodor Herzl; er führte aus: Der Zionismus hat die zersprengten Glieder des jüdischen Volkes wieder zusammengeführt und bewirkt so die Heimkehr zum Judentum noch vor der Rückkehr ins Judenland; er hat eine enge Verbindung der modernsten und konservativsten Elemente herbeigeführt, was nur auf nationaler Grundlage möglich ist. Die Zionisten bilden keinen Geheimbund, sondern erstreben eine Organisation, die in freimütiger Erörterung unter beständiger Kontrolle der öffentlichen Meinung die Judenfrage behandeln und durch Umwandlung in die Zionsfrage lösen will. Die bisherigen Kolonisationsversuche waren Vorläufer des Zionismus. Sie haben die Tauglichkeit der Juden zur Landarbeit bewiesen; sie sind gescheitert, weil sie auf dem Prinzip der Wohltätigkeit basieren. Ein Volk kann sich nur selbst helfen. Die Rückkehr der Juden in die historische Heimat Palästina kann und darf nicht anders als auf legalem Wege nach Schaffung öffentlichrechtlicher Garantien geschehen. Die Verwirklichung des Zionismus liegt im Interesse der Türkei, wie in dem aller Kulturvölker. Das osmanische Reich wird durch die jüdische Zuwanderung gestärkt, die Länder der Diaspora werden durch Abwanderung der überschüssigen Juden vom Antisemitismus befreit werden. Das jüdische Volk hat sich in dem Kongress ein Organ geschaffen, das es dringend zum Leben braucht und das von ewiger Dauer sein wird.

Dr. Herzl wurde zum Präsidenten, Dr. Max Nordau Paris zum ersten, Dr. Abraham Salz-Tarnow zum zweiten, Samuel Pineles-Galatz zum dritten Vize-Präsidenten des Kongresses gewählt


Zum ersten Punkt der Tagesordnung sprach Dr. Nordau über „Die allgemeine Lage der Juden“. Seine Ausführungen gipfelten darin, daß überall, wo Juden in größerer Zahl wohnen, Judennot herrsche; in den östlichen Ländern ist die Not eine leibliche, in Westeuropa eine sittliche. Dort qualvolle Beschränkungen und tiefstes Elend, hier seelische Bedrückung und tägliche Kränkung des Ehr und Selbstgefühls. Der Ghettojude führte geistig und sittlich ein Volleben, der emanzipierte Jude hat seine Eigenart und damit sein Bestes aufgegeben. Trotz weitgehendster Assimilierung ist der Judenhass stärker als je erwacht. Die Judennot schreit nach Abhilfe; sie zu finden, ist die große Aufgabe des Kongresses.

An das Generalreferat Nordaus schlossen sich Spezialdarstellungen über die Lage der Juden in den einzelnen Ländern: Galizien (Dr. Salz-Tarnow), England (Jacob de Haas-London), Algier (Jacques Bahar-Paris), Rumänien (Pineles Galatz), Osterreich (Dr. Alexander Mintz-Wien), Bukowina (Dr. Mayer Ebner-Czernowitz), Deutschland (Dr. Schauer-Bingen), Bulgarien (Prof. Gregor Belkowsky-Sofia), Ungarn (Dr. János Ronay-Balazsfalva), Amerika (Adam Rosenberg-New-York).

Den theoretischen Aufbau, die historische und wirtschaftliche Begründung des Zionismus behandelten Dr. Nathan Birnbaum-Wien und Dr. David Farbstein- Zürich in ausführlichen Referaten. Dr. B. ging von den national-kulturellen Bedürfnissen der Juden aus, die zum völligen Ausleben ein Land brauchen. Das abstrakte Europäertum der modernen Juden schädige die jüdische Nation ebenso wie die andern Völker. Die Wiedererhebung zu einem Staatsvolk sei nur in Palästina möglich, wo alle günstigen Bedingungen gegeben sind. Der Korreferent Dr. F. betonte den sozialpolitischen Charakter des Zionismus. Er bedeute eine Auflehnung gegen die Ungunst der wirtschaftlichen Verhältnisse, deren Ursache das abnorme Leben im Exil sei. Die einzige Rettung liege darin, durch eine planmäßige Emigration nach Palästina nicht nur eine jüdische Gesellschaft ins Leben zu rufen, sondern auch die ökonomische Lebensweise der Juden daselbst zu ändern und zu verbessern.

Einen breiten Raum nahmen die Verhandlungen über die Zustände und den Stand der Kolonisation in Palästina ein, anschließend an die Referate von Dr. Bernstein-Kohan (Kischinew), M. Moses (Kattowitz), Adam Rosenberg (New York). Alle drei traten für sofortige Einleitung einer großzügigen, von nationalen Gesichtspunkten beherrschten Kolonisationstätigkeit in Palästina ein (Bankgenossenschaftsgründungen, Hausindustrien etc.), in Verbindung mit politischer Arbeit. Prof. Schapira-Heidelberg schlug für den Bodenankauf in Palästina die Schaffung eines Nationalfonds vor, der nicht angetastet werden solle, bevor er eine Höhe von 200 Millionen Mark erreicht hätte. Der Antrag wurde im Prinzip angenommen, und einer Kommission überwiesen.

Auch den kulturellen Bedürfnissen des jüdischen Volkes wurde gebührende Aufmerksamkeit gewidmet. Rabbiner Dr. Ehrenpreis (Diakovar) trat für Pflege der hebräischen Sprache und Literatur ein, Prof. Schapira regte die Gründung einer Hochschule in Palästina an, um einen Mittelpunkt zu schaffen, für alle auf religiöse und moralische Erziehung sowohl, als auch auf geistige Ausbildung der Juden gerichteten Bestrebungen.

Die Hauptleistungen des ersten Kongresses waren jedoch die Schaffung des zionistischen Programms und der zionistischen Organisation. Für die Ausarbeitung des Programms war eine siebengliedrige Kommission niedergesetzt worden, die nach vielstündigen Beratungen einstimmig durch ihren Vorsitzenden Dr. Nordau dem Kongress ein Programm zur Annahme empfahl, dessen Hauptsatz lautete: „Der Zionismus erstrebt für das jüdische Volk die Schaffung einer rechtlich gesicherten Heimstätte in Palästina.“

Eine Meinungsverschiedenheit und lebhafte Debatte ergab sich bei der Beratung nur hinsichtlich eines Punktes: der Frage der rechtlichen Sicherung. Ein Teil der Delegierten, vertreten durch Fabius Schach-Köln und Leo Motzkin-Kiew, wünschte, daß im Sinne des Herzlschen Judenstaates das, was den neuen politischen Zionismus von den bisherigen Kolonisationsbestrebungen unterschied, klar und unzweideutig hervorgehoben würde und bestand daher auf der programmatischen Forderung einer „völkerrechtlich gesicherten Heimstätte“. Es erfolgte eine Rückverweisung an die Kommission; diese entschied sich für den Vermittlungsvorschlag Dr. Herzls, die ,,öffent1ich-rechtliche“ Sicherung programmatisch festzulegen. Dementsprechend gelangte das nach dem Versammlungsorte benannte Baseler Programm In folgender Fassung zur einstimmigen Annahme:

Der Zionismus erstrebt für das jüdische Volk die Schaffung einer öffentlichrechtlich gesicherten Heimstätte in Palästina.

Zur Erreichung dieses Zieles nimmt der Kongress folgende Mittel in Aussicht:

1. Die zweckdienliche Förderung der Besiedlung Palästinas mit jüdischen Ackerbauern, Handwerkern und Gewerbe treibenden.

2. Die Gliederung und Zusammenfassung der gesamten Judenschaft durch geeignete örtliche und allgemeine Veranstaltungen nach den Landesgesetzen.

3.Die Stärkung des jüdischen Volksgefühles und Volksbewusstseins.

4.Vorbereitende Schritte zur Erlangung der Regierungszustimmungen, die nötig sind, um das Ziel des Zionismus zu erreichen.

Über die Organisationsfrage referierte Dr. Bodenheimer-Köln. Nach langen Debatten, aus denen zahlreiche Anregungen hervorgingen, wurde auf Antrag von David Wolffsohn eine elfgliedrige, aus Mitgliedern aller Landsmannschaften zusammengesetzte Kommission zur Feststellung eines Organisationsentwurfes niedergesetzt. Der Obmann dieser Kommission, Dir. Steiner-Wien, begründete einen aus neun Paragraphen bestehenden Entwurf, der als Grundstock für spätere Ausgestaltung nach langen Beratungen mit wenigen Abänderungen vom Kongreß angenommen wurde. Als Prinzip wurde der volkstümliche Gedanke der Schekelzahlung und ihre Verknüpfung mit der Parteizugehörigkeit der Organisation zugrunde gelegt. Das Statut bestimmte in seinen wesentlichen Punkten:
1. Das Hauptorgan der Zionisten ist der Kongress.
2. Die Schekelzahlung im Betrage von 1 Francs = 1 Mark = 1 Shilling etc. berechtigt zur Kongresswahl. 100 Schekelzahler haben das Recht zur Wahl eines Kongressdelegierten.
3. Zur Leitung der Bewegung wählt der Kongress ein Aktionskomitee aus 23 Mitgliedern, von denen 5 ihr ständiges Domizil in Wien haben müssen.

Als Präsident wurde Dr. Herzl an die Spitze des Aktionskomitees berufen.

Dem Kongress waren aus aller Herren Länder Zustimmungstelegramme und Massenpetitionen zugegangen, die von vielen Tausenden unterzeichnet waren.

Nach dreitägigen Verhandlungen schloß der Kongress unter Beifallsstürmen.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Zionistisches Abc-Buch